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Fay Clayton wohnte allein, aber sie führte deshalb doch kein einsames Leben. In ihrer kleinen Wohnung in Maida Vale lebte sie mehr oder weniger zurückgezogen, aber sie hatte viele Freunde und verkehrte in mehreren Lokalen, wo sie Erholung und Vergnügen fand. Es würde nicht der Wahrheit entsprechen, wenn man sagen wollte, daß sie ihren Mann vermißte. Trotzdem zeigte sie Julius gegenüber eine Anhänglichkeit, die sonst niemand teilte. Sie hatte noch nie Gelegenheit gehabt, an seiner Treue zu zweifeln, und während der letzten fünf Monate hatte sich ihre finanzielle Stellung bedeutend gebessert.
Als Julius noch mit der Falschspielerbande arbeitete und einer der vier tüchtigen Leute war, die andere betrogen, die sich zu sicher fühlten, führte sie ein wenig sicheres und ruhiges Leben. Wochenlang lebten sie von geliehenem Geld oder dem Versetzen von Schmuckstücken, und selbst wenn ihnen ein großer Fang gelungen war, dauerte das gute Leben meist nicht lange. Aber jetzt erhielt sie eine dauernde, große Geldunterstützung von ihm, womit sie früher gar nicht gerechnet hatte. Sie quälte ihren Mann nicht mit Fragen, woher er dieses Geld bekam. Daß Abel Bellamy ihm kein außerordentlich hohes Gehalt zahlte, wußte sie, denn sie kannte die Höhe seines Monatsgeldes.
Er hatte also irgendeinen anderen guten Nebenverdienst, der sicher sein mußte, denn Julius schreckte bekannterweise vor gefährlichen Dingen zurück. Er hatte ihr niemals erzählt, was er eigentlich zu tun hatte, und als sie über das viele Geld nachdachte, das er bekam, glaubte sie, daß er als Privatsekretär Bellamys vielleicht auch die Haushaltskasse verwaltete. Das hätte dann wenigstens zum Teil den Besitz des vielen Geldes erklärt. Er zahlte ihr nicht nur eine sehr anständige Summe für den Lebensunterhalt, sondern machte ihr auch unerwartete Geschenke in Form von Schmucksachen und Juwelen, die allem Anschein nach neu und ehrlich gekauft waren. Sie hatte sich also über nichts zu beklagen. Julius war in einer sicheren Stellung, und sie konnte ihre neuen Diamantringe in ihrem Lieblingsnachtklub sehen lassen, ohne im mindesten fürchten zu müssen, daß geheimnisvolle fremde Leute erschienen und sie aufforderten, mit ihnen einen kleinen Spaziergang zur Polizeistation zu machen.
Aber auch das hatte gerade keine großen Schrecken mehr für sie. Sie war mit ihrem fünfzehnten Jahr schon dreimal im Gefängnis gewesen, und der Schrecken vor der Gefangenschaft hatte seine Wirkung auf sie verloren, denn er besteht gewöhnlich nur in der Furcht vor dem Unbekannten. Das einzige Unangenehme der Haft bestand für sie darin, daß sie mit der Polizei in Berührung kam und ihr das Recht geben mußte, sie anzuhalten, mit ihr zu sprechen und Fragen an sie zu stellen, die manchmal sehr unangenehm zu beantworten waren.
Sie war gerade in ihrer kleinen Küche und bügelte eine Bluse, als an die Tür geklopft wurde. Ihr Mädchen (ein optimistischer Titel für die unordentliche Frau, die täglich kam, um die Wohnung zu reinigen), war ausgegangen, um einzukaufen. So ging Fay selbst zur Tür und öffnete. Sie hatte erwartet, einen Händler zu treffen, aber sie sah einen schlanken, etwas vornüber gebeugten, hohläugigen jungen Mann vor sich, der einen schlecht sitzenden, ärmlichen Anzug trug.
»Jerry!« rief sie und öffnete. »Komm schnell herein!«
Sie schloß die Tür hinter ihm, und er folgte ihr ins Wohnzimmer.
»Wann bist du denn herausgekommen?« fragte sie.
»Heute morgen,« antwortete er. »Hast du etwas zu trinken? Ich sterbe vor Durst. Wo ist Julius?«
Sie nahm eine Flasche und ein Syphon mit Sodawasser vom Buffet, setzte beides vor ihm hin, und er goß sich reichlich ein.
»Das schmeckt gut,« sagte er. Allmählich kam wieder etwas Farbe in sein blasses Gesicht. »Aber sage mir doch, wo ist Julius?«
»Er ist nicht hier im Hause, Jerry. Er hat eine Stellung auf dem Lande.«
Er nickte und schaute wieder nach der Flasche.
»Das war genug für dich!« sagte sie und stellte den Whisky wieder ins Buffet zurück.
»Was wirst du jetzt tun? Was hast du vor?«
»Ich weiß es wirklich nicht. Unsere Gesellschaft ist ja auseinandergesprengt. Julius hat eine Stellung, wie ich höre. Hält er sich jetzt ordentlich?«
»Gewiß!« sagte Fay etwas beleidigt. »Jerry, du mußt dir jetzt auch ordentliche Arbeit suchen. Die Bande ist aufgelöst – Laß in Zukunft deine Finger davon.«
Sie waren Geschwister, obwohl niemand eine Verwandtschaft zwischen der hübschen Frau und dem hohläugigen, heruntergekommenen Menschen vermutet hätte, der eben aus dem Gefängnis kam.
»Ich habe Featherstone getroffen.«
»Hat er dich hierhergehen sehen?« fragte sie.
Er schüttelte den Kopf.
Nein, ich bin ihm im Westen begegnet. Er hielt mich an und fragte mich, wie es mir ginge und was ich unternehmen würde. Er ist wirklich kein schlechter Mensch.«
Sie verzog das Gesicht.
»Dir kommen manchmal etwas phantastische Illusionen in den Kopf, Jerry. Aber was willst du jetzt anfangen?«
»Ich habe dir doch eben gesagt, daß ich es nicht weiß.« Er schob seinen Stuhl zurück und schaute nachdenklich auf die Tischdecke. »Da ist eine Gesellschaft, die auf den großen Dampfern im Atlantischen Ozean arbeitet, die würde mich aufnehmen und möchte gern, daß ich mitmache. Ich muß sagen, daß ich so etwas noch nie gemacht habe und es würde auch ein kleines Kapital voraussetzen – so zweihundert für die Hin- und Rückreise, und dann muß man auch immer darauf gefaßt sein, daß man eine Reise macht, ohne irgendeinen Erfolg zu haben. Du könntest mir das Geld wohl nicht leihen?«
Sie biß sich auf die Unterlippe und dachte nach.
»Ich könnte es schon,« sagte sie langsam.
»Du kannst sicher sein, daß es ganz guten Verdienst abwirft. Es ist viel sicherer, als wenn man hier auf dem Lande etwas macht. Du hörst niemals, daß Leute, die auf Schiffen zusammenarbeiten, irgendwie gefaßt worden sind.« Er sah sich in dem Zimmer um. »Es ist doch eigentlich ganz schön, daß man wieder frei ist. Ich habe genug vom Gefängnisleben.«
»Wo hast du gesessen, Jerry?«
»Ich war in Pentonville, wo Creager früher im Amt war. Ich könnte dir ein paar Geschichten über ihn erzählen, daß dir die Haare zu Berge ständen, Fay. Kann ich hier bei dir wohnen?«
Sie zögerte einen Augenblick.
»Ja, du kannst in Julius' Zimmer wohnen.«
»Kommt er denn nicht hierher?« fragte er stirnrunzelnd.
»Das geht doch nicht. Ich höre jeden zweiten Tag von ihm, und ich kann mich wirklich nicht über ihn beklagen.«
Er schaute auf seine zerknitterten Kleider, und man sah, daß er sich ihrer schämte.
»Ich möchte mich neu einkleiden – hast du etwas Geld?«
»Das kann ich schon für dich besorgen, so kannst du nicht herumlaufen, Jerry. Ich hoffe nur, daß dich niemand hier hereinkommen sah. Die Leute, die hier wohnen, sind sehr korrekt, und ich möchte nicht haben, daß man dich hier sieht, bevor du nicht etwas repräsentabler aussiehst. Ich dachte, du würdest erst sechs Monate später herauskommen.«
Er lachte.
»Der Gefängnisarzt sorgte dafür, daß ich entlassen wurde. Meine Brust ist nicht in Ordnung, und ich bat um eine Spezialbehandlung. Deswegen haben sie mir einen Teil der Strafe erlassen. Im Gefängnis weiß man mit kranken Leuten nichts anzufangen. – Aber ich habe noch einige gute Kleider auf der Gepäckaufbewahrung bei der Charing Cross Station,« sagte er plötzlich. »Vielleicht bist du so gut und besorgst sie für mich. Ich brauche dann nicht mehr so viel, um mich wieder auszustatten.«
Sie nahm den Gepäckschein und fuhr am Nachmittag zur Eisenbahnstation, um seinen Koffer zu holen. Der Chauffeur brachte sie auf dem kürzesten Weg durch Fitzroy Square dorthin. Fay kannte die ganze Gegend genau, dort lag auch ein Restaurant, in dem sie früher viel verkehrt hatte. Es gab in dem Lokal viele kleine Einzelräume, wo sich Leute versammeln und sicher sein konnten, daß sie nicht beobachtet wurden. Man konnte dort Pläne besprechen, ohne belauscht zu werden, und es war ein bevorzugtes Lokal für Verbrecherbanden. Auch Fay hatte sich früher immer mit den anderen dort getroffen.
Als sie vorbeifuhr, sah sie am Eingang einen Mann stehen und erschrak, als sie ihn erkannte. Es war Julius. Als sie sich nach vorne lehnte und an die Scheibe klopfte, fuhr eben ein anderes Auto vor, aus dem eine Dame ausstieg. Sie sah, wie Julius seinen Hut zog und die beiden dann durch die enge Tür von El Moro's verschwanden.
Fay ließ ihren Wagen sofort halten und sprang heraus. Sie hatte Valerie Howett früher nur einmal gesehen und erkannte sie sofort wieder.