Edgar Wallace
Der grüne Bogenschütze
Edgar Wallace

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50

Valerie Howett brachte den größten Teil des Tages in der Schlafkabine zu. Als sie sich näher umschaute, verstärkte sich ihre Überzeugung, daß dieser Platz besonders für sie vorbereitet worden war. Die Zeit wurde ihr lang, und der Tag wollte kein Ende nehmen.

Aus der Schlafkammer führte eine Öffnung, die erst vor kurzem in die Holzwand gesägt worden sein mußte, zu einem anderen kleinen Raum, den Smith als Waschraum bezeichnet hatte. Er war zugleich der einzige Baderaum auf dem Dampfer. Die Tür auf der anderen Seite, die zu dem Verbindungsgang führte, war fest verschlossen, und die Deckel waren so dicht über die runden Kabinenfenster geschraubt, daß sie trotz aller Kraftanspannung nicht imstande war, sie zu öffnen.

Sie entdeckte, daß sich zwischen dem Salon und der Schlafkabine eine Schiebetür befand. Die Falten des Vorhangs hatten sie ihr zuerst verborgen. Diese Tür bot ihr wenigstens einen gewissen Schutz, denn sie konnte von innen geschlossen weiden. Aber sie sagte sich auch, daß es leicht war, sie einzuschlagen.

Sie hatte den Auftritt zwischen Smith und Julius beobachtet und später gewagt zu fragen, was aus ihm geworden sei.

»Der ist in Sicherheit« war alles, was Smith ihr erwiderte.

Es war eine der fürchterlichsten Qualen dieses Tages, daß Coldharbour Smith die Mahlzeiten mit ihr zusammen einnahm. Er war ohne jegliche Erziehung, und seine Manieren waren kaum zu ertragen.

»Sie werden sich mit der Zeit schon an mich gewöhnen, meine liebe Valerie,« sagte er, während er laut schmatzte. »Ich muß sagen, daß ich schon anfange, Sie gern zu haben, und ich bin nicht so veranlagt, daß ich mich so ohne weiteres in ein fremdes Mädel vergaffe. Nun sehen Sie, im ›Goldenen Osten‹ . . .«

Valerie hörte zu und schüttelte sich vor Widerwillen. Aber er schien ihre Abneigung gegen sein früheres Lokal als eine Ermutigung aufzufassen.

»Wir werden noch heute in See gehen. Der Kapitän glaubt, daß wir gegen Abend dicken Nebel haben und, ohne bemerkt zu werden, den Fluß hinunterfahren können. Die Polizei wird uns nicht wieder anhalten.«

»Sie dürfen nicht hoffen, zu entkommen,« sagte sie plötzlich heftig. »Bilden Sie sich etwa ein, daß ich Sie nicht sofort bei der Polizei anzeige, wenn ich dort angekommen bin, wohin Sie mich bringen wollen?«

Er lachte vergnügt.

»Dann werden Sie mit mir verheiratet sein, und Ihre Aussage steht dann gegen meine.«

»Wo ist meine Mutter?« fragte sie plötzlich sprunghaft.

Er mußte noch lauter lachen.

»Ich weiß nicht, der Alte hat sie vor Jahren beiseite geschafft. Es hat auch keinen Sinn, daß ich sage, ich wüßte nichts, denn sie hat früher in meinem Haus in Camden Town gewohnt, aber sie hat sich dort nur eine Woche lang versteckt.«

»Versteckt?«

Coldharbour nickte.

»Vor Bellamy. Er hat sie nämlich sehr gern gehabt, so wie ich Sie jetzt gern habe. Aber sie hat seine Anträge immer abgewiesen. Ich hatte gerade einen Auftrag für ihn ausgeführt und viel Geld verdient. Er wußte, daß sie sich nach einer anderen Wohnung umsah und bat mich, sie aufzusuchen. Und da habe ich ihr denn gesagt, daß ich gehört hätte, sie brauchte Räume, und ich hätte so eine kleine Wohnung, die für sie passen würde. Sie kam auch zu mir, und ich habe ihr nur eine kleine Miete abverlangt. Sie dachte, Bellamy wäre nach Amerika gegangen – der ist so schlau, er hat immer sechs Alibis für den Fall, daß es Unannehmlichkeiten gibt. Aber er ist damals nur scheinbar abgefahren, in Queenston ist er wieder umgekehrt. Aber sie fühlte sich sicher. Eines Abends habe ich ihr dann dieselbe Geschichte erzählt, mit der Lacy Sie weggebracht hat. Sie ging mit mir nach Garre, weil ich ihr erzählte, daß dort ein kleines Mädchen auf sie wartete – und das waren Sie. Sie hätten aber gar nicht so klein sein können. Sie müssen mindestens sechzehn Jahre gewesen sein. Als ich sie damals in die Burg brachte, habe ich sie zum letztenmal gesehen.« Dann lächelte er, als ob er mehr wüßte. »Der Alte sagt zwar, sie ist entkommen –«

»Entkommen!«

Valerie sprang auf, ihre Augen glühten vor Erregung.

»Bleiben Sie ruhig sitzen und regen Sie sich nicht weiter auf. Bellamy lügt. Sie ist gestorben, das ist nämlich der Sinn der ganzen Sache. Er hat einem niemals die Wahrheit gesagt.« Er runzelte die Stirn und sah noch gemeiner aus als sonst. »Ich bin dem Alten irgendwie zu Dank verpflichtet – aber ich möchte beinahe wünschen, sie wäre entwischt – aber das ist ja alles nur Erfindung. Das ganze Gerede vom Grünen Bogenschützen ist Unsinn. Abel hat die Geschichte nur aufgebracht, damit er eine Entschuldigung hat, daß die Frau verschwunden ist. Das wäre solch ein Spaß, der Grüne Bogenschütze!« Er lachte vor sich hin.

Valerie dachte angestrengt nach. Wenn es wahr wäre – und es konnte doch wahr sein – dann hätte sie wenigstens eine Erklärung dafür, daß Bellamy sich gerächt hatte. Aber dann überlegte sie sich, daß er ihre Entführung lange vor der Flucht der Frau geplant hatte. Er mußte schon daran gedacht haben, als ihm klar wurde, daß Valerie Howett das Kind war, das er vor dreiundzwanzig Jahren gestohlen hatte.

»Sie ist bestimmt tot,« sagte Coldharbour Smith überzeugt. »Man kann eine Frau nicht acht Jahre lang in einem unterirdischen Gefängnis einsperren, ohne daß sie stirbt. Selbst in Dartmoor, wo man doch frische Luft und Bewegung hat –«

»Dann war sie die ganze Zeit dort?« fragte Valerie aufgeregt.

»Na, selbstverständlich war sie die ganze Zeit dort!« sagte Smith verächtlich. »Ich weiß zwar nicht, in welchem Teil des Schlosses sie saß, aber sie war dort.«

Diese Unterhaltung war beim Mittagessen geführt worden. Sie hatte nichts von den Speisen anrühren können. Am Nachmittag bemerkte sie, daß Leben an Bord des Schiffes kam. Sie hörte dauernd Kommandorufe und Schritte über sich. Man hatte eine Pumpe in Bewegung gesetzt, und ihr dauerndes Geräusch lenkte Valeries Aufmerksamkeit ab.

Sie hatte noch keinen der Offiziere oder der Mannschaften gesehen mit Ausnahme des schwarzen Stewards, der die Mahlzeiten servierte. Aber sie vermutete, daß es nur wenige sein konnten und dachte darüber nach, wo die Kabine des Kapitäns liegen könnte. Was mochte mit Julius geschehen sein? Es war ihr unmöglich, ihre Gedanken auf Jim, ihren Vater oder ihre eigene Lage zu konzentrieren.

Zum Abendessen kam Smith wieder in ihre Kabine, und sie bemerkte auf den ersten Blick, daß er getrunken hatte. Auf seinem ungesund weißen Gesicht zeigten sich zwei rote, scharf abgegrenzte Flecke. Er sah aus wie eine häßliche Puppe, der man die Backen schlecht angemalt hatte.

»Mein liebes, hübsches, kleines Mädchen, geht's dir gut?« fragte er mit lauter Stimme. »Ich habe dir etwas Wein gebracht – verdammt noch mal, das ist ja Rum!«

Er kreischte laut vor Vergnügen über seinen eigenen Witz.

»Die Abstinenzler drüben sind eine verrückte Bande, aber wir haben eine Menge Geld an ihnen verdient.«

Er stellte geräuschvoll eine dunkle Flasche auf den Tisch, als er sich niedersetzte.

»Der olle Julius, was? Kommt hier ans Deck gekrochen, um mich der Polizei zu verraten! Hat seine kleine Frau im Stich gelassen, um auf dem Meer zu leben. Können Sie das verstehen? Aber seine Frau ist ja auch gar nicht so hübsch wie meine!«

Er schaute sie an und versuchte ihre Hand zu nehmen. Als ihm das nicht gelang, zog er mit seinen Zähnen den Korken aus der Flasche und goß sich ein Glas ein.

»Trinken!« befahl er.

Sie stellte das Glas zur Seite.

»Trinken!«

»Ich will nicht trinken!« sagte sie und stieß das Glas fort, so daß es auf den Boden fiel.

Das machte ihm scheinbar den größten Spaß.

»Das habe ich gern – Temperament!« Er lachte. Und ohne weitere Worte machte er sich an die großen Schüsseln, die der Steward auf den Tisch gesetzt hatte.

Plötzlich wischte er sich den Mund ab und goß noch ein anderes Glas Kognak hinunter. Dann erhob er sich unsicher.

»Mein kleiner Liebling,« begann er wieder und kam auf sie zu.

Sie drehte sich schnell auf dem Drehstuhl herum und wich ihm aus.

»Na, so komm doch zu mir,« rief er. »Ich möchte –«

Aber mit dem Mut der Verzweiflung stieß sie ihn zurück, machte sich aus seinen Händen frei, lief in ihre Schlafkabine, zog die Türe zu und riegelte sie ab.

»Komm heraus!« brüllte er und schlug wild an die Türfüllung. Die Bretter bogen sich, aber sie brachen nicht durch. Coldharbour Smith wurde wütend. Er riß und zerrte mit seinen Händen an dem Holz, er stieß und schlug und führte drohende und schreckliche Reden.

»Ich werde dich schon herausholen,« hörte sie ihn mit heiserer Stimme schreien. Sie zitterte an allen Gliedern. »Savini hat dir Grillen in den Kopf gesetzt – Savini . . .!«

Er verließ die Kabine und ging mit schweren Schritten quer über das Deck, das zwischen dem Salon und der Kammer für die Ankerketten lag. Vollkommen betrunken, aufgeregt und wahnsinnig vor Wut, wollte er Savini umbringen.

Er schob die Riegel zurück und riß die Tür auf.

»Savini, ich drehe Ihnen das Genick um – hören Sie?«

Es kam keine Antwort. Er tastete den dunklen Raum ab, wo er seinen Gefangenen gelassen hatte.

Aber Savini war verschwunden.


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