Edgar Wallace
Der grüne Bogenschütze
Edgar Wallace

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20

Jim Featherstone geleitete Valerie zu dem Automobil und setzte sich in ihren Wagen, ohne daß sie ihn dazu aufforderte.

»Es gibt Plätze, wohin Sie gehen dürfen, und andere, wohin Sie nicht gehen dürfen. Als Ihr nachsichtiger Beschützer kann ich es nicht dulden, daß Sie sich in einem Lokal wie El Moro's sehen lassen. Dieses Haus hat einen sehr bösen Ruf und wird von allerhand verbrecherischen Elementen besucht. Ich werde mir den guten Julius noch kaufen, wenn ich mit ihm unter vier Augen bin, daß er es überhaupt gewagt hat, Sie dorthin zu führen.«

»Es war mein Fehler, denn ich bat ihn, eine Stelle ausfindig zu machen, wo mich niemand kennt und wo wir sicher und allein sprechen können.«

»Dann würde ich Ihnen raten, in Zukunft auf den Turm der St. Pauls Kathedrale zu steigen oder in die Grabkirche der Westminster-Abtei zu gehen – das sind beides Plätze von tadellosem Ruf.« Aber dann fuhr er in anderm Ton fort: »Julius hat Ihnen natürlich Nachrichten über Bellamy und seinen Haushalt gebracht. Das habe ich schon lange vermutet. Ich warne Sie aber, Miß Howett, denn ich bin davon überzeugt, daß dieser Mann, obwohl er Ihnen bis zu einem gewissen Grade mehr oder weniger ehrlich dient, doch auch nicht zögern wird, Sie an Bellamy zu verraten. Er arbeitet auch für eigene Rechnung.«

»Ich weiß das,« sagte sie ruhig. »Vermutlich sind Sie mir wieder den ganzen Tag gefolgt?«

»Fast den ganzen Nachmittag,« gab er zu.

»Ich dachte, Sie seien verreist, Captain Featherstone, Sie fallen mir allmählich auf die Nerven.«

»Und Sie fallen mir schon seit Monaten auf die Nerven,« antwortete er gelassen. »Sie bilden sich doch nicht etwa ein, daß es ein Vergnügen ist, immer hinter Ihnen her durch ganz London zu jagen? Oder sind Sie etwa anderer Meinung?«

Plötzlich wurde sie vernünftig und bereute ihr Verhalten ihm gegenüber.

»Ich – es tut mir so leid,« sagte sie kleinlaut, »aber es ist merkwürdig, daß Sie immer meinen Widerspruch wecken, wenn Sie etwas sagen. Ich bin Ihnen ja so dankbar, daß Sie gerade im richtigen Moment gekommen sind. Es war wirklich mehr als nur unangenehm. Ist sie denn wirklich mit ihm verheiratet?«

Er nickte.

»Ich habe mich nie zuviel um diese gemischten Ehen gekümmert, aber aus dem kindischen Stolz, mit dem die gute Fay ihren Trauring trägt, schließe ich, daß eine regelrechte Heirat vorliegt. Nichts macht die gewohnheitsmäßigen Verbrecher so froh, als wenn sie trotz ihres verfehlten Lebens der Welt irgend etwas Rechtmäßiges zeigen können.«

»Ich dachte, Sie wären verreist,« wiederholte Valerie.

»Das haben Sie mir schon eben gesagt. Es tut mir sehr leid, daß es nicht der Fall ist. Wenn ich meinen Wünschen folgen könnte, so würde ich jetzt in den Tiroler Alpen die Berge hinaufklettern.«

Valerie wußte nicht, wie sehr Jim lügen konnte. Denn es gab keinen Platz in der weiten Welt, an dem er im Moment lieber gewesen wäre, als an ihrer Seite in dem ruhig dahingleitenden Rolls Royce-Wagen, der sie durch die Straßen von Westend trug.

Plötzlich entschlüpfte ihr ein Ausruf des Ärgers.

»Ach, ich vergaß ihn etwas zu fragen,« begann sie, »und das war doch eins der wichtigsten Dinge, die ich wissen mußte.«

»Vielleicht kann ich es Ihnen sagen,« meinte er, aber sie schüttelte abweisend den Kopf.

»Sie können mir nicht sagen, was ich brauche,« erwiderte sie lächelnd.

»Eines Tages werden Sie sich davon überzeugen, daß Sie sich auf meine Auskünfte mehr verlassen können als auf irgendwelche andere.«

Sie zögerte einen Augenblick, dann öffnete sie ihr Täschchen und zog daraus einen zusammengelegten Bogen hervor, den sie sorgfältig auf ihrem Schoß entfaltete.

»Das ist ein Plan der Burg,« sagte Jim sofort.

»Es ist ein alter Plan, ich habe ihn von einem Buchhändler in Guildford gekauft. Er zeigt die Burg nicht, wie sie heute ist, sondern wie sie vor zweihundert Jahren war. Sie sehen, es sind keine Wohnräume eingezeichnet und dieser Raum –« sie zeigte mit dem Finger auf eine Stelle – »der jetzt als Bibliothek benutzt wird, ist als Gerichtshalle bezeichnet.«

Er nickte.

»Es war der Raum, in dem die alten de Curcys ihre Gefangenen verhörten,« sagte er schnell. »Und was jetzt« – er deutete auf eine andere Stelle – »die Eingangshalle der Burg ist, war die Folterkammer, wo die Gefangenen gezwungen wurden, die Wahrheit zu sagen. Es gibt Augenblicke, in denen ich bedaure, daß heutzutage Folterkammern nicht mehr im Gebrauch sind, denn das Verbrechen, das in England heute am häufigsten begangen wird, ist vorsätzlicher Meineid. Wenn wir nur einige kleine, malerisch aussehende Folterinstrumente über den Zeugenstuhl hängen könnten –«

»Aber bitte bleiben Sie doch bei der Sache. Sind Sie sicher, daß dies jetzt die Bibliothek ist?«

»Natürlich, ich habe viel modernere Pläne als Sie, die ich von dem letzten Eigentümer der Besitzung erhielt.«

»Würden Sie mir die leihen?« fragte sie begierig.

»Warum?«

»Weil ich sie brauche.«

Es war zwar kein überzeugender Grund, aber zu ihren größten Erstaunen gab Captain Featherstone nach.

»Aber ich möchte Ihnen denn doch einen Rat geben, meine liebe Freundin,« sagte er. »Gehen Sie, wenn Sie es absolut wünschen, meinethalben nach Limehouse und durchforschen Sie dort die kleine Höhle, in der Coldharbour Smith seine Kneipe hat. Besuchen Sie so oft Sie wollen El Moro's, und ich will dafür sorgen, daß nichts passiert, was Ihnen oder Ihrem Ruf schaden könnte. Aber versuchen Sie um Himmels willen nicht, allein nach Garre Castle zu gehen und dort Ihre Nachforschungen anzustellen.«

Er sprach langsam und eindringlich und sie konnte sich nicht verhehlen, daß er es sehr ernst meinte.

»Auf gewöhnliche Weise werden Sie niemals dort hineinkommen. Ich möchte, daß Sie mir versprechen, nichts Außergewöhnliches zu unternehmen. Nicht wahr, Sie geben mir doch das Versprechen.«

Sie überlegte es sich eine Weile.

»Nein,« sagte sie dann offen, »das kann ich Ihnen ehrlicherweise nicht versprechen.«

»Aber was wollen Sie denn dort finden? Bilden Sie sich etwa ein, daß der alte Bellamy schriftlich aufgezeichnete Bekenntnisse in seiner Burg herumliegen läßt, damit irgendeiner, der dort gewaltsam eindringt, sie lesen kann? Vermuten Sie denn auch nur einen Augenblick, daß Sie eine brauchbare Entdeckung machen können, selbst wenn es Ihnen gelingen sollte, in die Burg hineinzukommen? Überlassen Sie diese Sache nur mir, Miß Howett. Ich bin tatsächlich in Sorge um Sie, das sage ich Ihnen ganz offen, weil ich zu viel von diesem verbrecherischen Bellamy weiß. Seine Hunde würden kurzen Prozeß mit Ihnen machen. Aber vor allem fürchte ich wegen des Grünen Bogenschützen.«

Sie wollte ihren Ohren nicht trauen.

»Sind Sie tatsächlich wegen des Grünen Bogenschützen beunruhigt? Captain Featherstone, Sie machen einen Scherz!«

»Nein, im Ernst, ich bin sehr besorgt deswegen,« wiederholte er nachdrücklich. »Valerie, Sie taumeln in eine schreckliche Gefahr hinein, die um so schlimmer ist, weil man nicht genau weiß, was sich ereignen wird. Ich möchte nicht in Ihr Geheimnis eindringen, ich dränge Sie auch nicht, mir zu sagen, warum Sie Mrs. Held suchen oder was diese Frau für Sie bedeutet und was Sie über die Begleitumstände ihres Verschwindens wissen. Vielleicht werden Sie mir später bei gegebener Zeit doch einmal Ihr Vertrauen schenken. Ihr Vater ist auch der Meinung.«

»Hat er Ihnen sonst keine näheren Aufschlüsse gegeben?«

Jim schüttelte den Kopf.

»Nein, er hat mir nichts gesagt, aber werden Sie mir jetzt das Versprechen geben, keinen Versuch zu machen, in die Burg einzudringen?«

»Das kann ich nicht. Ich bin aber davon überzeugt, daß Sie die Gefahr größer machen, als sie ist. Und vielleicht unterschätzen Sie doch die Wichtigkeit meiner Nachforschungen.«

»Das mag sein,« sagte er nach einer Pause. »Ich glaube aber, ich muß Sie jetzt verlassen. Lassen Sie bitte den Wagen halten.«

Er stieg in Whitehall aus. Nachdem er gegangen war und sie ruhig über alles nachdachte, erkannte sie erst, welch großen Dienst er ihr erwiesen hatte und welche Opfer er ihr dauernd brachte – aber er glaubte an den Grünen Bogenschützen! Sie mußte lächeln. Sie hatte die Existenz des Grünen Bogenschützen stets bezweifelt.


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