Edgar Wallace
Der grüne Bogenschütze
Edgar Wallace

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37

Julius Savini hatte das Gefühl, daß sein Aufenthalt in Garre Castle sehr bald zu Ende sein würde. Der alte Bellamy war gerade nicht außergewöhnlich beleidigend gegen ihn, er tadelte ihn auch nicht wegen irgendwelcher Nachlässigkeit oder Fehler. Ebenso ereignete sich nichts, was Abel Bellamys Absicht verraten hätte, ihm zu kündigen. Aber Julius hatte diesen merkwürdigen sechsten Sinn, der ihm sagte, daß er bald eine Einnahmequelle verlieren würde.

Seitdem der neue Hausmeister wieder fort war, hatte er viele von dessen Pflichten übernehmen müssen. Er mußte morgens die Tür öffnen, die zu dem Vorratsraum führte, damit die Dienstboten nach oben kommen konnten. Abel Bellamys Haushalt war so eingerichtet, daß er selbst so wenig wie möglich gestört wurde. Die Bibliothek, sein Schlafzimmer und die Gänge wurden gereinigt, während er seinen Morgenspaziergang durch den Park machte – diese Gewohnheit befolgte er seit Jahren, ob es regnete, oder ob die Sonne schien.

Trotz seiner offensichtlichen Unentbehrlichkeit wußte Julius, daß der alte Mann an einen Wechsel dachte. Vielleicht erregte die ungewöhnliche Milde, die Bellamy jetzt zuweilen zeigte, Julius Savinis Verdacht. Er begann sich umzuschauen und zu überlegen, wie er seinen Abgang so gewinnbringend wie nur möglich für sich gestalten könnte.

Bellamy bewahrte nur wenig Geld im Hause selbst auf. Er hatte ein verhältnismäßig kleines Depot bei einer Filiale seiner Londoner Bank in Garre. Wenn er aber größere Summen brauchte, so mußte Savini stets mit dem Auto nach London fahren, um das Geld zu holen. »Groß« ist ein relativer Begriff, und die Summen, die Julius bisher von der Bank abgehoben hatte, waren nicht so hoch, daß für Bellamy ein Risiko damit verbunden gewesen wäre. Er gab sich keinen falschen Vorstellungen über seine Rechtschaffenheit und seinen Charakter hin.

Wenn Savini etwas hätte stehlen wollen, so hätte er nicht nur von London, sondern gleich aus dem Lande fliehen müssen. Er bevorzugte Brasilien, denn ganz abgesehen von der etwas düsteren, unheimlichen und wilden Natur dieses großen Landes wurde dort Portugiesisch gesprochen, und das war seine Muttersprache. Er hatte sich die Sache sehr genau überlegt und die genaue Höhe der Summe festgestellt, die notwendig war, um ihm für den Rest seines Lebens ein angenehmes Leben zu ermöglichen. Aber ein solcher Betrag überstieg natürlich die Höhe der Schecks, die sein argwöhnischer Herr ihm zum Einkassieren anvertraute.

Julius verwahrte das Scheckbuch und füllte die Schecks aus. Als er sich nun schließlich dafür entschieden hatte, seinen großen Beutezug zu machen, führte er einen Plan aus, der den Vorzug größter Einfachheit hatte. Eines Morgens brachte er ein ganzes Bündel Schecks in die Bibliothek, damit sie Bellamy unterzeichnen sollte. Es waren fast durchweg kleinere Summen, um die Rechnungen der Händler im Dorf zu bezahlen. Der letzte Scheck über einen verschwindend kleinen Betrag war für den Zeitungsagenten in Garre bestimmt.

»Warum bezahlen Sie denn solche Summen nicht in bar?« brummte Bellamy, als er seinen Namen unter den Scheck setzte.

Er ahnte nicht, daß Julius tatsächlich am Nachmittag den kleinen Betrag in bar bezahlte und den Scheck sorgfältig in seine Brieftasche legte. Das Datum, die Summe und der Name des Empfängers waren mit einer Tinte geschrieben, die nach drei Stunden wieder verschwand. Als Julius nach dieser Zeit das Papier betrachtete, sah es mit Ausnahme von Bellamys Unterschrift unbeschrieben aus.

Am gleichen Nachmittag fuhr Julius zur Stadt und besuchte seine Frau.

»Besorge dir einen Überseepaß,« sagte er, »und nimm dir ein Schiffsbillet. Vermutlich müssen wir auf verschiedenen Dampfern fahren. Ich werde ein Flugzeug nach Paris nehmen und einen deutschen Dampfer von Vigo aus benützen. Ich habe einen Freund in Lissabon, der für mich Passage belegen kann, einen portugiesischen Paß besitze ich auch.«

»Was soll denn aus der Wohnung werden?« fragte sie. »Ich könnte doch die Möbel verkaufen?«

»Du wirst dich schwer hüten, etwas zu verkaufen,« rief er wild. »Die halbe Polizei wäre uns auf dem Hals, bevor du auch nur das kleinste Stück los wärest!«

»Aber die Einrichtung kostet doch mindestens vier- bis fünfhundert Pfund,« protestierte sie.

Die Höhe der Summe machte doch Eindruck auf Julius.

»Dann werde ich allein reisen, das ist vielleicht auch besser. Du kannst ja in einigen Monaten nachkommen. Dir wird es ja leicht sein, diesen Spürhunden zu entgehen. Fahre zuerst nach New York, dann nach Rio hinunter. Ich werde dir stets Nachricht an den alten Platz geben.«

Unter dem alten Platz verstand er El Moro's, wo jeden Tag viele Briefe mit merkwürdigen Adressen ankamen und unter allerhand Vorsichtsmaßregeln heimlich abgeholt wurden.

Nach seiner Rückkehr nach Garre ging Julius in sein Zimmer. Im Hause war schon alles zur Ruhe gegangen. Er zog den Scheck aus seiner Brieftasche und füllte ihn für hunderttausend Dollars aus – das Depot Abel Bellamys war in Dollar eingezahlt, denn zu der Zeit stand das Pfund dem Dollar gegenüber niedrig im Kurs.

»Ich muß Sie morgen zur Stadt schicken, damit Sie Geld holen,« sagte Bellamy am nächsten Morgen zu Julius.

Julius hatte auch schon fest mit diesem Auftrag gerechnet.

»Kann ich nicht heute schon gehen,« fragte er, denn er erinnerte sich daran, daß er den Scheck schon mit dem heutigen Datum versehen hatte. »Ich habe heute nicht besonders viel zu tun.«

»Sie können morgen ganz früh gehen,« sagte Abel scharf.

»Schreiben Sie einen Scheck für fünftausend Dollars aus.«

Nach einiger Zeit kam Julius mit dem gewünschten Scheck zurück und hatte außerdem noch einen Brief an den Direktor der Bank geschrieben.

»Was soll denn das bedeuten?« fragte Abel, der Verdacht schöpfte.

»Als ich das letztemal fünftausend Dollars abhob,« sagte Julius gewandt, »sagte Mr. Sturges, daß er nicht gerne so große Summen auszahlte, wenn er nicht einen Begleitbrief zu dem Scheck hätte.«

»Der müßte Sie doch jetzt allmählich kennen,« brummte Abel, als er den Brief unterschrieb, der den Bankdirektor anwies, dem Überbringer den präsentierten Scheck zu honorieren.

Das war eigentlich sehr einfach, dachte Julius. Er lachte sich heimlich ins Fäustchen, als er daran dachte, wie wütend der Alte werden würde, wenn die Sache herauskäme. Aber dann würde Julius Savini außerhalb seines Machtbereichs, vor allem außerhalb der Reichweite seiner großen Hände sein.

Der Plan war so gut geglückt, daß Savini nervös wurde. Wenn nun der Bankdirektor nach Garre telephonierte, um Gewißheit zu haben, bevor er den Scheck auszahlte? Es war ja auch möglich, daß die Sache entdeckt wurde, bevor er Paris erreicht hatte. Er zitterte bei dem Gedanken.

Am Nachmittag bestellte Bellamy seinen Wagen und fuhr mit unbekanntem Ziel ab. Julius vermutete, daß er Coldharbour Smith aufsuchen wollte, denn er hatte am Morgen eine Verbindung nach Limehouse herstellen müssen, und Abel Bellamy hatte eine Viertelstunde hinter verschlossenen Türen in der Bibliothek zugebracht. Die Abwesenheit seines Herrn war Julius willkommen, denn es waren noch viele Dinge zu ordnen – er mußte seine Briefe verbrennen, seine Kleider durchsuchen, die er zurücklassen wollte, damit nichts Verdächtiges zurückblieb, das die Verfolger auf seine Spur bringen könnte.

Er hatte den letzten Brief verbrannt und die letzte Westentasche untersucht. Er trat aus seinem Zimmer heraus in den langen Gang und überlegte, ob seine Nervenkraft auch ausreichen würde, die nächsten Stunden noch mit Bellamy zu verbringen.

Auf der anderen Seite des Ganges, nahe der Treppe, befand sich eine kleine Tür, durch die er die Dienstboten immer hereinließ. Auch der Grüne Bogenschütze war durch diese verschwunden, als er damals das blutbefleckte Taschentuch auf seiner Flucht zurückließ. Seitdem der Hausmeister gegangen war, öffnete und schloß Julius diese Tür. Als er zu seinem Zimmer ging, hatte er gesehen, daß die Tür nur angelehnt war und hatte sich vorgenommen, sie bei seiner Rückkehr abzuschließen.

Julius stand noch und dachte über seine Flucht nach, als er plötzlich sah, wie sich die Tür langsam öffnete. Eine Sekunde lang stand er starr und sein Herz schlug wild, obgleich es heller Tag war. Allem Anschein nach kam ein Dienstbote durch, der oben eine begonnene Arbeit beenden wollte.

Aber die Tür wurde so geheimnisvoll und verstohlen geöffnet, daß er sofort an den Grünen Bogenschützen denken mußte. Er stand wie angewurzelt auf der Stelle. Vorsichtig trat ein Mann von hohem Wuchs und blassem Aussehen herein. Er war ohne Hut und trug eine große Hornbrille. Er konnte nur einen Augenblick lang die Gestalt des erstarrten Julius gesehen haben, dann sprang er sofort zurück und schlug die Tür mit einem lauten Krachen zu. Julius bewegte sich noch immer nicht. Starr vor Staunen schaute er mit offenem Munde auf die geschlossene Tür. Er hatte den Mann erkannt – es war Mr. Howett!


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