Edgar Wallace
Der grüne Bogenschütze
Edgar Wallace

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43

Bellamy wartete im Park auf Savinis Rückkehr. Er schien ungeduldig zu sein, denn er hielt den Wagen mit vorgestreckter Hand an, als er erst halbwegs eingefahren war. Julius sprang sofort heraus.

»Haben Sie mit Ihrer Frau gesprochen?« fragte Bellamy barsch.

»Jawohl, mein Herr, ich habe sie gesehen.«

»Wird sie das tun, was Mr. Smith ihr aufgetragen hat?«

»Nein,« erwiderte Julius kühl. »Sie will die Aufgabe nicht übernehmen.«

»Vermutlich wissen Sie, daß ich Sie dann hinauswerfe!«

»Das wird mir sehr leid tun, mein Herr –« begann Julius.

»Geben Sie mir das Geld,« brummte Bellamy und sein Sekretär zahlte ihm die Scheine in die Hand, die er von der Bank geholt hatte.

Julius war schon nahe am Hauseingang, als er von Bellamy zurückgerufen wurde.

»Hat Ihnen Ihre Frau erzählt, was Mr. Smith von ihr wollte?«

»Nein.«

Bellamy sah ihn scharf an.

»Dann ist es gut,« sagte er.

Er bestellte sich das Abendessen ausnahmsweise früh, denn er hatte nicht zu Mittag gespeist. Das machte aber der grauen Dame nichts aus, sie hatte einen Vorrat an Konserven, den sie benutzen konnte, wenn Bellamy sie eines Tages, wie es öfter vorkam, nicht besuchte. Einst hatte er absichtlich ihre Vorräte ausgehen lassen und ihr zwei Tage lang keine Nahrung gebracht. Aber sie hatte sich zu seinem größten Ärger nicht im mindesten über seine Niedertracht beschwert.

Die Burg war sein Augapfel, aber das Geheimnis des unterirdischen Gefängnisses war ihm das Wichtigste. Mit seinen eigenen Händen hatte er die Möbel hineingetragen, die Gasleitung angeschlossen und die Entlüftungsanlage eingebaut. Er hätte auch elektrisch Licht hineingelegt, wenn es nicht so gefährlich gewesen wäre. Neugierige Elektriker wären dann in die Burg gekommen, vor denen er elektrische Leitungsdrähte nicht gut hätte verbergen können. Er hatte eine Woche lang daran gearbeitet, einen der alten Kamine des Hauptgebäudes mit dem unterirdischen Raum zu verbinden und die Entlüftungsanlage in Gang zu bringen.

Das Abendessen wurde ihm in der gewöhnlichen Menge um sechs Uhr gebracht. Julius, der das Auftragen des Eßtisches überwacht hatte, zog sich zurück. Diesen Abend hatte Bellamy zuerst gegessen, bevor er die Speiseschüsseln nach unten trug. Er dachte über den Grünen Bogenschützen nach. Wie wundervoll wäre es doch, wenn er ihn gefangen nehmen und drunten in den untersten Kerkern einsperren könnte. Ein festes Eisengitter müßte vor seiner Zelle sein, und er würde ihn dann jahrelang jeden Tag besuchen bis zu seinem Tode. Er malte sich das alles in den glühendsten Farben aus. Er konnte ihn dort unten so lange gefangen halten, bis ihn der Wahnsinn überkam. Bellamys Atem ging schneller bei diesem Gedanken. Wer mochte nur der Grüne Bogenschütze sein? Zuerst hatte er Julius im Verdacht, dann glaubte er, daß es der naseweise Polizeibeamte Featherstone wäre, vielleicht war es aber auch eine Frau. Valerie? Dann würde seine Rache süß sein. Er wollte einen neuen Kerker für sie auf der untersten Kellersohle anlegen. Aber er verwarf den Gedanken gleich wieder. Sein anderer Plan war viel besser. Smith! Er schüttelte sich vor Lachen, als er sich erhob und den Schreibtisch zurückschob.

Er nahm sich viel Zeit, denn er war nicht in der Stimmung, sich zu beeilen. Er drehte den Stein wieder um seine schwingende Achse, aber dann zögerte er und stieg die Treppe nicht gleich hinunter. Er versuchte erst, sich über Valerie Howett klar zu werden. Was war das Beste? Sollte Smith sie mit sich nehmen? Aber er traute Smith nicht recht. Konnte er sich darauf verlassen, daß er der Tochter von Elaine Held das Leben zur Hölle machte?

Er nahm das Tablett mit den Schüsseln, stieg in die Dunkelheit hinab, steckte das Gaslicht an und öffnete die Türe. Als er das Tablett auf den Tisch stellte, rief er die Frau bei Namen. Er ging direkt in ihr Schlafzimmer und stieß die Tür auf.

»Hier ist dein Essen! Antworte mir doch, wenn ich dich rufe!« brüllte er.

Aber nur das Echo seiner Stimme kam zurück.

»Elaine!« rief er.

Hatte sie seinen Rat befolgt? War sie tot? War sie ihrer Gefangenschaft entronnen? Hatte sie die Gashähne aufgedreht? – Aber er konnte keinen Gasgeruch wahrnehmen.

Er stieß die Küchentür auf, sie war leer, ebenso der Baderaum. Er eilte wie ein Wahnsinniger von einem Raum zum andern. Er lief um die großen Steinpfeiler des Hauptraums herum, als ob es möglich wäre, daß sie sich hinter ihnen versteckt hielt. Er warf mit einem Fußtritt das Sofa um, dann eilte er zur Türe zurück und schaute hindurch.

»Elaine!« schrie er wild.

Aber sie war nicht mehr da. Die graue Dame war verschwunden!

Wo mochte sie sein? Sie mußte sich doch hier unten in den Räumen aufhalten – es war gar nicht anders möglich! Es gab keinen anderen Ausweg! Die Wände waren aus starkem, massivem Mauerwerk, keine geheimen Türen oder Gänge führten in dieses Gefängnis, obwohl man ihm erzählt hatte, daß es solche in Garre Castle in großer Menge geben sollte. Aber er hatte noch nichts davon gefunden, obgleich er jeden Stein und jede Platte in den Gängen und Räumen untersucht hatte.

Er eilte in ihr Schlafzimmer und zog das Bett von der Wand weg. Vielleicht hatte sie sich dort verborgen, um ihm einen Schrecken einzujagen. Aber auch hier war niemand. Ihre wenigen Kleidungsstücke hingen an zwei Haken an der Wand, die er einst mit großer Mühe dort befestigt hatte.

Er setzte sich verwirrt nieder und vergrub den Kopf in den Händen. Elaine war fort – aber wohin konnte sie entflohen sein? Wie war sie herausgekommen? Es gab doch nur den einen Weg, der durch die Bibliothek führte. Aber selbst wenn sie durch die verriegelte Tür gekommen wäre, hätte sie den Ausweg in die Bibliothek nicht gefunden. Es war unmöglich, daß sie auf diesem Weg entkommen war.

Der Grüne Bogenschütze . . . immer wieder kehrten seine Gedanken zu ihm zurück. Aber auch er hätte nicht durch den Boden zu ihr kommen können. Kein anderer Schlüssel konnte dieses Schloß öffnen, das ein deutscher Schlosser auf besondere Bestellung gefertigt hatte. Auch den Geldschrank öffnete der schmale, dünne Schlüssel, der die schweren Schließbolzen bewegte und den großen Stein festhielt.

Er trug die Speiseschüsseln zur Bibliothek zurück und untersuchte die Platte genau, bevor er sie wieder schloß. Aber er konnte keinen Riß oder Kratzer auf der Oberfläche entdecken, woraus er hätte schließen können, daß sie geöffnet worden war. Es gab kein Duplikat dieses Schlüssels und es war unmöglich, daß Elaine diesen Weg genommen hatte.

Es war fast neun Uhr, als er wieder aus der Bibliothek herauskam. Julius starrte ihn entsetzt an, denn in den letzten drei Stunden hatte sich das Aussehen des Alten vollständig verändert. Seine Augen lagen tief und waren verschüttet, und sein Gesicht hatte eine schreckliche graue Farbe angenommen.

»Stellen Sie eine Verbindung mit Limehouse für mich her,« sagte er. »Und sagen Sie Sen, daß er zu mir kommen soll.«

Julius wunderte sich. Niemals vorher hatte der Chauffeur Sen die Schwelle von Garre Castle überschritten.

Sen war Chinese. Bellamy hatte ihn entdeckt, als er einen kurzen Besuch in Seattle machte. Es war ein schlanker, wohlgebauter Mann, der auf der amerikanischen Missionsschule in Hankow erzogen worden war. Er konnte vier Sprachen verstehen, aber nicht selbst sprechen, denn er war von Geburt an stumm, Und aus diesem Grund, nicht wegen seiner Erziehung, hatte Bellamy ihn auch engagiert. Er ließ ihn in einer Autofahrschule unterrichten. Der Chinese war nun schon achtzehn Jahre in seinen Diensten. Er wohnte über der Garage, die Bellamy in der äußersten Ecke des Parkes erbaut hatte. Hier lebte er einfach und hielt seine Wohnung äußerst sauber. Seine ganze freie Zeit, in der er sich nicht dem Rolls Royce-Wagen widmen mußte, brachte er mit der Übersetzung des »Lun Yii«, dieses »Buchs der Bücher«, zu. Welches Gehalt Sen bekam, wußte außer ihm nur Bellamy, und wozu er es verwendete, ahnte nicht einmal sein Herr.

Sen verehrte Bellamy abgöttisch, obgleich dieser im Lauf eines Jahres nicht ein Dutzend Sätze zu ihm sprach. Sen war der einzige Mann in der Welt, den Abel nicht quälte und peinigte. Er bekam seine Befehle durch ein Privattelephon und drückte einmal auf eine Glocke zum Zeichen, daß er den Auftrag verstanden hatte, oder zweimal, wenn man ihm die Botschaft wiederholen sollte. Für einen Chinesen sah er sehr gut aus, hatte dunkle, geheimnisvolle Augen und schöne, regelmäßige Züge. Wenn er seine Uniform trug, konnte man seine Nationalität nicht erkennen. In einer Seitentasche am Führersitz bewahrte er eine Anzahl großer Karten auf. »Ich bin stumm, aber ich verstehe Sie«, stand auf der einen, auf der anderen Karte waren all die verschiedenen Gegenstände und Dinge angegeben, die er unterwegs anschaffen mußte, z. B. Benzin, Gummireifen usw.

Sen wurde vollständig von dem Haushalt im Schloß ferngehalten. Er vermied es selbst, Julius zu treffen, und der einzige Versuch, den der Privatsekretär gemacht hatte, sich mit ihm anzufreunden, wurde durch einen kalten Blick und einen eiligen Rückzug Sens beantwortet.

Featherstone hatte manches von den Beziehungen dieses Mannes zu Bellamy herausgebracht. Als Sen seinen Herrn einmal zu einer benachbarten Stadt brachte, hatte Jim seine Wohnung durchsucht, aber er hatte nichts besonderes gefunden außer einer großen Bibliothek chinesischer Bücher und einer musterhaft sauberen Wohnung.

Bellamy hatte sich schon einmal überlegt, ob er nicht den Chinesen als Wachtposten in der Burg gegen den Grünen Bogenschützen brauchen könnte, aber dann hatte er den Plan doch wieder fallen lassen. Da es Sen unmöglich war, sich durch Worte oder Schreie verständlich zu machen, konnte man ihn nicht dazu verwenden.

Julius rief den Chauffeur an, der sich sofort durch ein Zeichen meldete.

»Mr. Bellamy wünscht, daß Sie sofort zu ihm kommen. Er braucht den Wagen nicht, er will Sie selbst sehen.«

Sen kam sofort. Er trug einen seidenen Chinesenrock mit großen Ärmeln, in dessen Falten er seine Hände verbarg.

»Bringe den zweiten Wagen nach Newbury Junction, warte dort in der dunklen Straße, die zu der Station führt, und ändere die Nummerntafel. Dort wirst du einen Mann finden, der in das Auto einsteigt. Fahre ihn zu dem Ziel, das er dir bezeichnet und komme in der Nacht noch nach Garre zurück.«

Sen neigte den Kopf und wartete auf weitere Instruktionen. Als er keine weiteren Befehle erhielt, entfernte er sich.


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