Edgar Wallace
Der grüne Bogenschütze
Edgar Wallace

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

36

Auf ein dringendes Telegramm hin hatte John Wood sein Kinderheim verlassen und war in größter Eile nach London gekommen. Gleich nach seiner Ankunft meldete er sich in Scotland Yard. Es war das erstemal, daß Featherstone mit diesem Menschenfreund zusammentraf, obwohl er sich dunkel daran erinnerte, ihn damals im Carlton-Hotel gesehen zu haben, als er mit Howetts speiste.

Es war unmöglich, diesen Mann zu sehen oder zu sprechen, ohne einen tiefen Eindruck von ihm zu bekommen. In den Gesichtern der Menschen steht gewöhnlich die Geschichte ihres Lebens geschrieben, und was Jim Featherstone in den freundlichen, lachenden Augen John Woods las, war ihm sehr sympathisch.

»Es tut mir leid, daß Sie meinetwegen eine so lange und ungemütliche Reise unternehmen mußten, Mr. Wood,« begann er. »Aber selbstverständlich ersetzt Ihnen die Polizei alle Ihre Auslagen. Leider können wir Sie nur dafür nicht entschädigen, daß wir Sie so lange von dem Ihnen so lieben Beruf fernhalten müssen.«

John Wood lachte.

»Holland hat Ihnen wohl von den kleinen Kindern gesprochen, die ich betreue. Und er hat Ihnen wahrscheinlich auch von der Geschichte berichtet, die ich ihm im Vertrauen erzählte? Es ist mir nicht weiter unangenehm, ich wußte ja doch, daß er das früher oder später tun würde. Ich vermute, daß Sie etwas über Bellamy von mir erfahren wollen?«

Jim nickte.

»Ich wollte Sie nach dem Kinde fragen, für dessen Ermordung Ihrer Aussage nach Bellamy verantwortlich ist.«

Wood hatte sich nicht gesetzt, trotzdem Jim ihm sofort einen Sessel angeboten hatte. Er stand an dem Schreibtisch und hatte die Fingerspitzen zusammengelegt. Seine Blicke schweiften in die Ferne.

»Was soll ich Ihnen von dem Kind erzählen?« begann er langsam. »Die Geschichte gehört der Vergangenheit an und ist längst vergessen. Nur ich weiß davon und ich hoffe, Abel Bellamy weiß auch noch davon, obgleich ich stark daran zweifle, daß seine bösen Taten ihm jemals Gewissensbisse verursachen.« Er zögerte einen Augenblick, sprach dann aber weiter.

»Der Fall, den Sie hier eben erwähnen, gehört eigentlich vor ein amerikanisches Gericht, und ich glaube kaum, daß Sie in dieser Sache etwas unternehmen könnten, selbst wenn ich Ihnen alle Einzelheiten genau mitteilen würde, wozu ich nicht einmal in der Lage bin. Bellamy ist ein Mann, der offenbar seinen Reichtum angewandt hat, um alle Leute niederzukämpfen, die ihm irgendwelchen Widerstand entgegensetzten. Ich will nicht behaupten, daß er ein Verbrecher in dem gewöhnlichen Sinne des Wortes ist, nach dieser Richtung hin sind seine Personalakten jedenfalls in Ordnung. Sein Gott war immer die Macht, und um Macht zu bekommen hat er nicht gezögert, die schlimmsten Methoden anzuwenden. Wenn sich jemand seinen Plänen widersetzte, so unbedeutend und so nutzlos dieser Widerstand auch gewesen sein mochte, so wurde Bellamys teuflische Natur geweckt, und er rächte sich fürchterlich.«

»Er traf seine Feinde gewöhnlich dadurch, daß er etwas gegen ihre Kinder unternahm. Ich kenne zwei authentische Fälle, in denen er diesen Weg beschritt, um sich für eine wirkliche oder eingebildete Beleidigung zu rächen. Das eine Mal waren die Kinder bereits erwachsen, aber in dem besonderen Fall, von dem Sie sprechen, handelt es sich um ein Baby. Ich kann Ihnen nicht sagen, was Abel Bellamys Haß hervorrief, denn ich bin selbst nicht sicher, was die unmittelbare Veranlassung für seine Handlungsweise war. Ich könnte es nur vermuten, und es wäre möglich, daß meine Vermutungen stimmen.«

»Eines Tages verschwand das Kind. Der Vater war außer sich, und die Mutter brach vollständig zusammen. Ich habe Grund anzunehmen, daß zwischen Abel Bellamy und der Mutter eine Beziehung bestand. Wenn es so war, wußte der Vater jedenfalls nichts davon. An dem betreffenden Tage fuhr das Mädchen mit dem Kinde aus. Als sie zurückkam, erzählte sie eine zusammenhanglose Geschichte, daß das Kind aus dem Wagen verschwunden sei, während sie mit einem Freunde sprach.«

»Vierzehn Tage später ereignete sich ein schreckliches Eisenbahnunglück in River Bend, bei dem viele Menschen den Tod fanden. Die meisten verbrannten. Unter den Trümmern fand man auch den Schuh eines kleinen Kindes. Der bekümmerte Vater erkannte ihn als den Schuh, den sein Kind am letzten Tage getragen hatte. Durch Zeugenaussagen konnte festgestellt werden, daß eine Frau mit einem Baby den Zug bestiegen hatte, und es unterliegt keinem Zweifel, daß dieses Kind in dem schrecklichen Unglück umgekommen ist.«

»Es bildete sich dann die Theorie, daß der Kindesräuber auf dem Wege zu irgendeinem unbekannten Reiseziel war, als der Unglücksfall ihn oder seine Beauftragte überraschte.«

»Wurde die Sache der Polizei gemeldet?«

Zu Jims größter Überraschung schüttelte John Wood den Kopf.

»Nein. Deshalb bin ich ja auch so sicher, daß die Mutter wußte, wer das Kind entführt hatte. Da sie um sein Leben fürchtete, hielt sie mit ihren Angaben zurück, die wahrscheinlich zu seiner Auffindung geführt hätten. Ich persönlich bin fest davon überzeugt, daß Abel Bellamy die Hand im Spiele hatte.«

»Und Sie glauben, daß das Kind getötet wurde?«

John Wood nickte.

»Wann hat sich das zugetragen?« fragte Jim.

»Ich weiß das Datum des Unglücksfalles. Das ist allerdings die einzige feste Zeitangabe, nach der ich mich richten kann. Es war sehr schwer, alle Einzelheiten zusammenzubringen, weil ich mir ohne jede Hilfe mit Mühe und Not alles zusammenstellen mußte. Der Fall ereignete sich im August 1890.«

Jim war enttäuscht.

»Ich hatte gehofft, Ihnen berichten zu können, daß das Kind noch am Leben sei, aber jetzt sehe ich, daß die Daten nicht übereinstimmen. Oder glauben Sie, daß sich solche Fälle bei Abel Bellamy wiederholten?«

»Es war bestimmt nicht das einzige Vergehen dieser Art. Die Anklage, die ich gegen einen Mann von der Stellung und dem Ansehen Bellamys erhebe, klingt unglaubwürdig. Aber im Zeitraum von fünf Jahren habe ich zweimal ein so geheimnisvolles Verschwinden feststellen können, und jedesmal handelte es sich um das Kind eines Mannes, der ein Gegner Bellamys war. Wie ich Ihnen ja schon vorher erzählte, war seine hauptsächlichste Leidenschaft die Gier nach Macht. Vielleicht ist er geisteskrank, aber es deutet eigentlich nichts darauf hin, daß man sein Tun hierdurch entschuldigen könnte.«

»Können Sie mir noch ein wenig mehr erzählen, Mr. Wood?« fragte Jim, aber John Wood schüttelte ablehnend den Kopf.

»Leider nicht.«

»Wissen Sie nicht wenigstens den Namen des Vaters?«

»Nicht einmal den kann ich Ihnen sagen,« entgegnete Wood. »Ich trage eine gewisse Verantwortung in diesem Fall.«

Jim blätterte in dem kleinen Notizbuch, in das er alles aufgeschrieben hatte.

»Dann wollen wir über etwas anderes sprechen. Vielleicht können Sie mir darüber mehr mitteilen,« meinte er lächelnd. »Sie waren doch mit dem jungen Bellamy, dem Neffen des Alten, befreundet?«

Wood nickte.

»Er wurde bei einem Luftkampf getötet?«

»Er wurde über Hannover während eines Aufklärungsfluges abgeschossen.«

»Sprach er zuweilen von seinem Onkel?«

»Niemals.«

»Er beklagte sich auch nicht über ihn?«

»Ich habe nie etwas davon gehört.«

»Wußten Sie bestimmt, daß er der Neffe des alten Bellamy war?«

Wood zögerte einen Augenblick, bevor er antwortete.

»Ja, das wußte ich.«

»Was für einen Charakter hatte denn der junge Mann?« fragte Jim hartnäckig. »Glich er seinem Onkel?«

John Wood mußte leise lachen.

»Er war dem alten Bellamy so unähnlich wie nur möglich.«

Jim stützte das Kinn in die Hände und senkte den Blick.

»Haben Sie schon einmal daran gedacht, Mr. Wood,« sagte er langsam, »daß der junge Bellamy vielleicht noch am Leben ist und aus dem einen oder anderen Grunde seine Identität verheimlicht?«

»Diese Möglichkeit besteht – viele seltsame Dinge haben sich im Kriege ereignet. Manche Leute wurden als tot gemeldet, die später noch am Leben waren.«

»Aber Sie nehmen nicht an, daß es auch Ihrem Freunde so gegangen ist? Als sein bester Freund würden Sie doch wissen, daß er noch am Leben wäre?«

»Sie vergessen ganz, daß ich sein Erbe bin und daß sein ganzer Nachlaß in meine Hände kam.«

Bevor John Wood fortging, stellte er noch eine Frage, die ihm am Herzen lag.

»Sie sagten vorhin, daß die Daten nicht übereinstimmen, Captain Featherstone. Haben Sie die Geschichte eines anderen Opfers von Abel Bellamy in Erfahrung gebracht?«

Jim nickte.

»Können Sie mir sagen, um wen es sich handelt?«

»Es tut mir leid, daß ich dabei Ihrem Beispiel folgen muß. Ich bitte Sie, nicht in mich zu dringen,« bat Jim lächelnd. »Sie sind auch ganz sicher, daß dieser Kinderraub, von dem Sie mir erzählten, sich im Jahre 1890 ereignete?«

»Daran besteht kein Zweifel,« entgegnete Wood. Der River Bend-Zusammenstoß ereignete sich am 29. August 1890 – er ist allgemein bekannt.«

John Wood machte noch einen Besuch, bevor er am selben Nachmittag nach Belgien zurückfuhr, aber zu seinem größten Leidwesen traf er Spike nicht in der Stadt.

Mr. Syme sah den Besucher und war in seiner Unterhaltung mit ihm ein ganz anderer Mensch, als er es sonst im Verkehr mit dem großen Publikum zu sein pflegte.

»Holland ist noch in Garre, aber ich werde ihn morgen zurückrufen. Das öffentliche Interesse an der Geschichte des Grünen Bogenschützen ist vollständig verschwunden. Dieser Geist ist nicht wieder erschienen und vermutlich inzwischen eines seligen Todes gestorben. Ich hoffe wenigstens, daß es so ist, wenn ich Holland nach London zurückrufe.«


 << zurück weiter >>