Edgar Wallace
Der grüne Bogenschütze
Edgar Wallace

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4

Als Spike sich am Nachmittag ins Bureau begab, schrieb er einen langen und glänzenden Artikel über die großartigen Kinderheime, die John Wood ins Leben rufen wollte. Dann nahm er ein Mietauto und fuhr nach New Barnet. Als er an Fleet Street vorbeikam, sah er ein Zeitungsplakat mit großen Buchstaben. Er klopfte dem Chauffeur und ließ den Wagen halten. Dann fluchte er leise vor sich hin, denn dort stand zu lesen:

Der geheimnisvolle Spuk in Garre Castle.

Er kaufte das Blatt. Die Unterlagen für den Artikel stammten wahrscheinlich von derselben Persönlichkeit, die auch das Schreiben an den »Globe« geschickt hatte. Die eigentliche Neuigkeit war in fünf Zeilen abgemacht, aber darunter stand ein langer Artikel, der die ganze Geschichte von Garre Castle und alle die früheren Fälle, in denen man den Grünen Bogenschützen dort gesehen hatte, berichtete.

»Es gibt eine Überlieferung im Lande, daß der geheimnisvolle Geist von Kopf bis zu Fuß grün gekleidet ist. Auch sein Bogen und seine Pfeile sollen von derselben grünen Farbe sein!«

Die Fahrt nach New Barnet dauerte sehr lange und führte durch offene Felder. Rose Cottage lag von der Straße abseits hinter großen beschnittenen Hecken. Das ganze Gebäude war von Schlinggewächsen umzogen. Ein kleiner Garten lag davor und ein größerer, der zu einer kleinen Pflanzung führte, mußte offenbar auf der Rückseite liegen. Spike beobachtete dies alles vom Wagen aus. Er öffnete die kleine Gartentür, ging den gepflasterten Weg zum Hause entlang und klopfte an die Tür. Niemand antwortete ihm, obwohl sie unverschlossen und nur angelehnt war. Wieder klopfte er, aber niemand meldete sich.

Schließlich stieß er die Tür auf und rief Craegers Namen. Als er auch damit keinen Erfolg hatte, ging er zur Straße zurück, um sich umzusehen, ob er nicht irgend jemand fände. Endlich sah er auch eine Frau, die wohl aus einem der kleinen Häuser am Ende der Straße gekommen war.

»Mr. Creager? Ja, mein Herr, der wohnt hier, er ist um diese Tageszeit gewöhnlich zu Hause.«

»Aber er scheint jetzt nicht da zu sein. Wohnt sonst noch jemand bei ihm?«

»Nein, nur meine Schwester kommt morgens zu ihm und reinigt das Haus. Aber gehen Sie doch hinein und warten Sie auf ihn!«

Der Vorschlag erschien Spike gut, besonders da es zu regnen begann. Er ging in das Haus, den Gang entlang und kam zu einem Raum, der offenbar als Wohnzimmer diente. Als er sich umschaute, bemerkte er, daß es sehr gut eingerichtet war. Über dem Kamin hing ein Porträt Craegers. Er trug eine Art Uniform, die Spike aber nicht kannte.

Er setzte sich, nahm die Zeitung aus seiner Tasche und las noch einmal genau die Geschichte des Grünen Bogenschützen durch. Es war doch eigentlich unglaublich, daß derartige Überlieferungen sich noch im 20. Jahrhundert halten konnten und daß es Leute gab, die an solches Zeug glaubten.

Dann legte er die Zeitung hin und schaute lässig durchs Fenster, von dem aus man den Garten übersehen konnte. Plötzlich sprang er auf. Hinter einem Busch auf der anderen Seite des niedrigen Rasens sah er einen Fuß steif ausgestreckt.

Spike eilte aus dem Zimmer quer über den freien Platz und blieb starr vor Schrecken stehen.

Creager lag dort auf dem Rücken, mit halbgeschlossenen Augen, die Hände auf der Brust im Todeskampf zusammengekrallt. Dicht an den Händen ragte der lange grüne Schaft eines Pfeils aus seiner Brust.

Spike kniete nieder und untersuchte, ob noch Leben in Creager wäre, aber es war umsonst. Dann durchforschte er schnell die nächste, unmittelbare Nachbarschaft. Der Garten war von den Feldern, zwischen denen er lag, durch einen niedrigen, hölzernen Zaun abgetrennt, über den ein gewandter Mann leicht springen konnte. Spike vermutete, daß Creager durch den Schuß sofort getötet worden war.

Er sprang über die Hecke und setzte seine Ermittelungen weiter fort. Zehn Schritte von dem Zaun entfernt stand ein großer Eichbaum, der genau in der Schußlinie des Pfeiles lag.

Er ging um den Baum herum und prüfte den Boden eingehend, aber er entdeckte keinerlei Fußspuren. Den Baum selbst konnte man von der Straße aus genau sehen. Er schaute an dem Stamm empor, ergriff einen der niederen Äste und schwang sich hinauf. Er kletterte höher und kam schließlich zu einer Stelle, von wo aus er den Toten sehen konnte. Instinktiv wußte er, daß der tödliche Pfeil von dieser Stelle aus abgeschossen worden war. Der Baum war dicht belaubt und bot genügend Schutz, und sicher war der Mörder nicht sichtbar, als der Tote das Gesicht gerade dem Baume zugewandt haben mußte.

Nachdem er den Pfeil abgeschossen hatte, mußte der Schütze von hier hinuntergesprungen sein. Dieser Gedanke kam Spike plötzlich, und er kletterte wieder hinab. Unten fand er zwei deutliche Fußabdrücke, die der Mörder zurückgelassen hatte, als er auf den Boden sprang. Er hatte sogar etwas noch viel Wichtigeres zurückgelassen, aber Spike sah es nicht sogleich, erst später fand er es zufällig. Es war ein Pfeil, der genau dem in Creagers Brust glich. Der Schaft war glatt poliert und mit grüner Emaillefarbe gestrichen, die Federn waren neu, giftig grün und sehr gut befestigt. Der Pfeil sah eigentlich zu dekorativ aus, als daß man hätte annehmen können, er sei zu praktischem Gebrauch bestimmt, aber die Spitze war nadelscharf.

Spike ging zum Hause zurück und schickte den Chauffeur, um die Polizei zu holen. Kurze Zeit später kam dann auch ein Schutzmann und ein Polizeisergeant. Bald darauf erschien auch ein Beamter von Scotland Yard, der sofort die Überwachung des Hauses übernahm und den Abtransport des Toten anordnete.

Längst bevor die Polizei ankam, hatte Spike eine genaue Durchsuchung des Hauses vorgenommen. Vor allen Dingen durchsuchte er alle Papiere, die er irgendwie finden konnte. Er erkannte bald die Bedeutung der Uniform, die der Mann auf dem Bilde trug. Craeger war früher ein Gefangenenwärter gewesen, hatte einundzwanzig Jahre gedient und dann seinen ehrenvollen Abschied genommen. Ein Zeugnis hierüber war eins der ersten Papiere, die Spike in die Hand fielen, als er den Schreibtisch durchsuchte. Aber besonders war er darauf aus, Papiere zu finden, die das Verhältnis Creagers zu Abel Bellamy aufklären sollten. Eine Schublade des altertümlichen Schreibtisches konnte er nicht öffnen, und Gewalt wollte er nicht anwenden.

Er fand das Bankbuch und sah zu seinem Erstaunen, daß Creager verhältnismäßig wohlhabend war – er hatte ein Bankdepot von über zweitausend Pfund. Eine schnelle Durchsicht der einzelnen Seiten zeigte, daß Creager am ersten jeden Monats vierzig Pfund erhielt, die in bar eingezahlt wurden, wie aus den Eintragungen zu ersehen war. Die Höhe der Pension konnte Spike leicht feststellen, da sie alle Vierteljahre gezahlt wurde. Außer der Pension und den monatlichen vierzig Pfund waren nur noch die Zinsen der Papiere auf der Kreditseite eingetragen, die in seinem Besitz waren.

Er war gerade damit fertig geworden, die nötigen Personalnachrichten aus dem Paß zu notieren, als auch die Beamten schon kamen. Gleich darauf kam der Polizeiarzt und untersuchte die Leiche.

»Er ist schon über eine Stunde tot,« sagte er. »Der Pfeil hat ihn vollständig durchbohrt, er muß furchtbar scharf sein.«

Spike gab dem Beamten von Scotland Yard den zweiten Pfeil und führte ihn auch zu der Stelle, wo er ihn gefunden hatte.

»Der Mann, der dieses Verbrechen ausgeführt hat,« sagte der Detektiv, »muß ein außerordentlich geschickter Mann in diesen Dingen sein. Er hatte die Absicht zu töten und war seiner Sache ganz gewiß. Das ist der erste Mord durch einen Bogenschuß, den ich persönlich erlebt habe. Es wäre ganz gut, wenn Sie stets mit uns in Verbindung blieben, Holland. Ich vermute, daß Sie jetzt in Ihr Bureau gehen und Ihre große Neuigkeit in die Zeitung setzen wollen. Aber vielleicht sagen Sie mir, wie Sie überhaupt hierhergekommen sind?«

Spike erzählte genau, was sich im Carlton-Hotel abgespielt hatte und fügte noch eine weitere Information hinzu, die den Detektiv in größtes Erstaunen setzte.

»Der Grüne Bogenschütze! Sie wollen doch damit nicht sagen, daß diese Tat von einem Geist oder einem Gespenst ausgeführt wurde? Ich kann Ihnen nur sagen, daß dieser Geist sehr real und wirklich war, denn es bedurfte eines Armes von gewaltiger Kraft und eines stahlharten Bogens, um Creager von einer solchen Entfernung aus zu erschießen. Wir wollen jetzt zu Bellamy gehen.«

Mr. Abel Bellamy war eben im Begriff, nach Berkshire aufzubrechen, als die Polizeibeamten ankamen, und er zeigte weder Erstaunen noch Erschrecken, als er die Neuigkeit erfuhr.

»Ja, das stimmt, ich habe ihn hinausgeworfen. Creager war mir vor Jahren sehr nützlich, und ich gab ihm eine recht ansehnliche Unterstützung für die Dienste, die er mir erwies. Er rettete mein Leben – sprang ins Wasser für mich, als mein Boot auf dem Strom umschlug.«

Das ist eine infame Lüge, dachte Spike, der den Alten genau beobachtete.

»Weshalb haben Sie sich heute morgen gezankt, Mr. Bellamy?«

»Wir haben uns nicht gerade gezankt, aber er drängte mich, ihm Geld zu leihen. Er wollte nämlich ein Stück Land zu seinem Grundstück dazukaufen, auf dem sein Haus steht, und ich – lehnte es strikt ab. Heute wurde er direkt frech und drohte mir – nun ja, er hat mir nicht gerade gedroht,« verbesserte sich Bellamy mit einem rauhen Lachen – »aber immerhin, er wurde herausfordernd, griff mich an und ich warf ihn hinaus.«

»Wo hat er Ihnen denn das Leben gerettet, Mr. Bellamy?« fragte der Beamte.

»In Henley – letzten Sommer wurden es sieben Jahre,« antwortete Bellamy prompt.

»Das Datum haben Sie sich für immer eingeprägt und das ist auch die Erklärung, warum Sie diesen Mann dauernd unterstützt haben,« dachte Spike für sich.

»Zu jener Zeit war er noch im Gefängnisdienst,« sagte der Beamte.

»Vermutlich war es so,« entgegnete Bellamy etwas ungeduldig. »Aber als sich der Vorfall ereignete, hatte er gerade Ferien. Alles, was ich Ihnen erzähle, können Sie aus seinen Personalakten feststellen.«

Spike war auch vollständig davon überzeugt, daß man die Bestätigung finden würde, wenn die Papiere nachgesehen würden.

»Das ist wohl alles, was ich Ihnen mitteilen kann,« sagte Bellamy. »Sie erzählten eben, daß Creager erschossen wurde?«

»Er wurde durch einen Pfeil getötet,« antwortete der Beamte. »Es war ein grüner Pfeil.«

Nur einen Augenblick verlor Bellamy die Kontrolle über sein Mienenspiel.

»Ein grüner Pfeil?« wiederholte er ungläubig. »Ein Pfeil – ein grüner Pfeil? Was zum Teufel –« Er nahm sich plötzlich zusammen und langsam ging ein Lächeln über seine Gesichtszüge, das ihn noch abstoßender machte. »Also ein Opfer Ihrer Geistergeschichte, Holland,« brummte er. »Grüner Pfeil und grüner Bogenschütze, wie? Haben Sie eigentlich die Geschichte in die Zeitung gebracht?«

»Reporter bringen selten Geschichten in andere Zeitungen als ihre eigenen, aber Sie können wetten, Mr. Bellamy, wir werden morgen eine lange Geschichte in unserem Blatt bringen, und Ihr Bogenschütze wird eine besondere Spalte für sich haben.«


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