Edgar Wallace
Der grüne Bogenschütze
Edgar Wallace

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62

Das große Publikum hatte das Interesse an dem Grünen Bogenschützen verloren. Der Redakteur Mr. Syme sagte das mit nicht mißzuverstehendem Nachdruck, und Spike konnte im Augenblick keine neuen Ereignisse erfinden.

»Außerdem hat Bellamy in der letzten Woche geschrieben und mit einer Klage auf Schadenersatz gedroht,« erklärte der Redakteur am Telephon. »Er behauptet, daß Sie mit Ihren Artikeln den Wert des Schlosses heruntersetzen.«

»Blödsinn,« rief Spike ärgerlich. »Der Geist hat den Wert seiner Burg um mindestens zehntausend Dollar erhöht. Aber ganz offen, Mr. Syme, die Geschichte ist wirklich wert, daß ich noch hier bleibe.«

»Kommen Sie sofort nach London und warten Sie in der Redaktion auf mich,« sagte Syme rücksichtslos. »Da können Sie Ihre Zeit wenigstens mit nützlicher Arbeit totschlagen.«

Der Telephonapparat war ziemlich öffentlich in der großen Halle des »Blauen Bären« angebracht, und wenn Spike telephonierte, standen gewöhnlich viele Leute am Schanktisch. Dies hatte gewisse Vorteile für ihn, denn bei der allgemeinen Unterhaltung hörte man nicht darauf, was er der Redaktion mitzuteilen hatte. Heute war der Raum leer, nur ein alter Farmer saß in einer Ecke und trank aus einem großen Zinnkrug. Der Mann nickte ihm freundlich zu, wie es alte Landleute häufig tun.

»Geister – sagten Sie nicht eben etwas von Geistern? In dieser Gegend gibt es sehr viele Geister und Gespenster. Erst vor einigen Tagen ist wieder ein neues im Klosterwald aufgetaucht, wie die Leute erzählen. Einer meiner Fuhrleute hat es gesehen, und seit der Zeit ist er ganz krank.«

»Donnerwetter,« sagte Spike. Der Grüne Bogenschütze war ja auch eine Legende, die hier schon lange im Volk existierte. Spike hatte allerdings seine drei letzten Vermutungen längst wieder aufgeben müssen. »Viele Leute hier behaupten, sie hätten den Grünen Bogenschützen gesehen.«

Der alte Mann lachte heiser.

»Dieses neue Gespenst ist aber nicht grün – auch ist es eine Frau. Mein Fuhrmann hat es aus der Nähe gesehen. Es hat ihn ganz aus der Fassung gebracht! Er war so verstört –«

»Wo liegt der Klosterwald?« fragte Spike, dessen Interesse in hohem Maße erwacht war.

»Wenn Sie auf der Landstraße gehen, dann sind es sechs Meilen. Aber wenn Sie Ihren Weg über das Mönchsfeld nehmen und die Adderley Road entlang gehen, ist es besser. Es soll ein verwunschenes Haus im Walde liegen. Es scheint niemand dort zu wohnen, aber doch ist immer jemand in der Nähe.«

»Mir können Gespenster nichts anhaben, mein lieber Mann,« sagte Spike.

Der alte Mann schüttelte den Kopf.

»Das wollte ich auch nicht behaupten. Was mir am meisten auffällt, sind die Spuren eines großen Autos, die ich in der Gegend gesehen habe. Es ist kein Ford, es muß viel größer sein. Irgend jemand geht und kommt immer in einem großen Wagen.«

»Meinen Sie zu dem Hause? Hat man das Auto gesehen?«

»Nein. Aber nahe bei dem Hause auf demselben Grundstück liegt eine Scheune, und ich sah, daß die Spuren an einem feuchten Morgen, als der Boden weich war, gerade zu der Scheunentür führten.«

»Seit wann ist die Frau dort gesehen worden?«

»Ich habe noch nichts von ihr gehört bis zum letzten Sonnabend – da hat sie eben mein Knecht gesehen. Es war ganz früh am Morgen, als er durch den Wald ging, um zu meiner Farm zu kommen. Sie müssen nämlich wissen, daß ich Caddle Heath nun seit fünfundfünfzig Jahren bewirtschafte, und vor mir hat es mein Vater schon gehabt. Nun ja, also mein Fuhrmann heißt Tom – er ging so vor sich hin und dachte an nichts, als er plötzlich diese Frau sah. Er wäre beinahe vor Furcht umgefallen. Sie ging durch den Wald und weinte. Tom hat mir gesagt, er hat ganz genau gesehen, daß sie ein Geist ist. Dann ist er davongelaufen wie ein Hase.«

»War das in der Nähe des Hauses, von dem Sie eben sprachen?«

»Ja. Deshalb habe ich Ihnen die Sache erzählt. Später überlegte ich mir, daß sie wahrscheinlich dort wohnen wird.«

Spike war in einer so verzweifelten Lage, daß er nach jedem Strohhalm griff, um seine weitere Anwesenheit in Garre zu rechtfertigen. Er hatte am Telephon seinem Redakteur nur die Wahrheit gesagt, als er ihm erzählte, daß er eine Entwicklung des Dramas in der Burg erwartete. Obgleich er rings um Garre Castle nur das gewöhnliche Alltagsleben sah, hatte er es doch in den Fingerspitzen, daß wichtige Ereignisse kommen würden. Wenn er diese Geschichte hätte aufgeben müssen, die er so liebevoll seit langer Zeit verfolgt, großgezogen und bemuttert hatte, so hätte ihm das den Rest gegeben.

Aber selbst unter diesen Umständen schien ihm die weinende Frau in dem Walde eine recht unbedeutende Angelegenheit zu sein. Trotzdem machte er sich auf, um in den Klosterwald zu gehen. Schließlich entdeckte er, daß es nicht einmal drei Meilen waren, als er den Richtsteig benützte, den ihm der alte Farmer angegeben hatte. Es war ein frischer Tag, Winterkälte lag in der Luft, und der schnelle Spaziergang war für ihn ein Vergnügen. Er war eher an seinem Ziel angekommen, als er erwartet hatte.

Der Wald war meistens eingezäuntes Privateigentum. Aber der Besitzer schien sich wenig um die Instandhaltung der Einfriedigung zu kümmern. Spike hätte leicht über den an manchen Stellen zusammengebrochenen Zaun hinübersteigen können. Dahinter lag nur dichtes Gehölz von Brombeerhecken, Sträuchern und niedrigen Föhren.

Von der Straße aus war das Haus nicht zu sehen. Schließlich entdeckte er es an der Ecke einer besonderen Zufahrtsstraße, die im rechten Winkel von der Hauptstraße abbog.

Der Weg hieß zwar ein Fahrweg, doch hatten Wagen ihn seit langen Jahren nicht mehr benützt. Die einzigen sichtbaren Radspuren waren die Eindrücke der Pneumatiks eines großen Autos, die ganz frisch waren, wie Spike sich durch Augenschein überzeugen konnte. Nun lag das Haus vor ihm, es hatte nur ein Geschoß, war ganz aus Holz gebaut und von Efeu überwuchert. In der Nähe lag hinter Bäumen versteckt die Scheune. Kein Rauch stieg aus dem Kamin des Hauses auf. Die Fenster der Vorderseite waren mit Läden dicht geschlossen, und der ganze Platz machte einen leblosen und verlassenen Eindruck. Er ging direkt auf die Tür zu und klopfte. Es meldete sich aber niemand, obgleich er lange wartete. Dann machte er sich daran, das Gebäude näher zu untersuchen. Zunächst ging er um das Haus herum auf die Rückseite. Dort fand er zwei Fenster, deren Läden nicht geschlossen waren, so daß er in ein einfach möbliertes Schlafzimmer sehen konnte. Das Bett war nicht gemacht, es mußte erst kürzlich jemand darin geschlafen haben. Drei Paar Damenschuhe, die neben dem Bett in einer Reihe standen, zogen seine besondere Aufmerksamkeit auf sich. Selbst auf diese Entfernung konnte er erkennen, daß sie neu waren. Auf dem Boden lagen zwei große Pappschachteln, die mit weißem Seidenpapier gefüllt waren. Gleich darauf bemerkte er auch noch andere Kartons in einer Ecke des Raums. Er setzte seine Untersuchungen fort, fand die Hintertür und rüttelte daran. Aber als er auch dort keine Antwort erhielt, kehrte er zu den Fenstern des Schlafzimmers zurück.

Spike konnte sich zuerst nicht dazu entschließen, aber schließlich versuchte er es doch, die Fenster zu öffnen. Zu seiner größten Freude konnte er den einen Flügel nach innen drücken. Sollte er hineingehen? Das war ein richtiger Einbruch, und er hätte keine Entschuldigung gehabt, wenn ihm der wütende Besitzer plötzlich entgegengetreten wäre. Aber diese Reihen von Schuhen erregte doch seine Neugier. Er atmete tief auf und kletterte dann rasch über die Fensterbank in das Zimmer.

»Zuerst sichergehen!« sagte er zu sich selbst und machte eine Runde durch das ganze Haus, bevor er zurückkehrte, um das Schlafzimmer genauer zu untersuchen.

Im ganzen Hause waren nur zwei Räume möbliert – das Schlafzimmer und ein kleiner Raum, der nur einen Tisch, einen Stuhl und ein Kleiderregal enthielt. An einem der Haken hing ein schwerer, pelzgefütterter Ledermantel. Der Tisch war nicht mit einem Tuch bedeckt, und außer einem Paar alter, abgetragener Lederhandschuhe war nichts auf der Platte zu sehen.

Spike ging in den Gang zurück.

»Ist jemand hier?« rief er.

Aber seine Worte schallten ohne Antwort durch die leeren Räume des Hauses.

»Also ist niemand hier!« sagte Spike laut und kehrte zu dem Schlafzimmer zurück.

In dem schmalen Bett lagen harte Matratzen, aber die Bezüge waren von dem besten Leinen. Spike hielt sie für ganz neu. Auf dem Tisch in der Nähe des Bettes stand eine Flasche Kognak, zwei Medizinflaschen und in einem kleinen Schächtelchen lag eine Morphiumspritze. Diese besichtigte er eingehend. Wie die Bettücher und die weichen Kamelhaardecken war auch dieses Instrument neu. Auch die Schuhe waren noch nicht gebraucht, denn als er sie aufhob und die Sohlen betrachtete, sah er, daß sie noch ganz unberührt waren. Sie stammten aus einem sehr teuren Geschäft im Westen Londons.

Spike machte plötzlich eine wichtige Entdeckung. Die Schuhe waren von verschiedener Größe, jedes Paar war eine halbe Nummer kleiner als das andere. Er stellte sie wieder hin und wandte seine Aufmerksamkeit den Medizinflaschen zu. Eine der beiden war halb leer, und auf den Etiketten las er den Namen einer Londoner Apotheke.

Als er das Bett aufschlug, fand er ein Frauenkleid darin liegen. Es war weit und aus einem Stück gemacht. Das graue Gewand schien sehr alt zu sein, die Ellenbogen waren abgenützt und sorgfältig repariert worden. Auch die Ärmelaufschläge waren neu aufgesetzt. Er fand auch in dem breiten, unteren Saum des Kleides die Stelle, aus der der nötige Stoff zur Ausbesserung genommen war.

Spike kletterte wieder aus dem Fenster und schloß es, so gut er konnte. Dann ging er zu der kleinen Scheune, die sich in geringer Entfernung vom Hause erhob. Hier sah er wieder die Spuren des Autos, die direkt zu diesem unansehnlichen Gebäude führten. Die Tore waren mit einem Vorhängeschloß versehen, als er aber an der Kette zog, öffneten sich die beiden Flügel so weit, daß er einen Blick in das Innere werfen konnte.

Es war kein Auto darin zu entdecken, aber an den Wänden standen verschiedene Benzintanks und drei Reserveräder. An ihrer Größe konnte Spike sich die Abmessungen des Wagens ungefähr vorstellen.

Er ging in tiefen Gedanken nach Garre zurück. Warum sollte die Bewohnerin der Waldhütte schließlich keine teuren Schuhe tragen? Wenn sie Gefallen daran fand und es ihr besonderen Spaß machte, konnte sie ja jeden Tag Schuhe von anderer Größe anziehen! Aber es war ja auch möglich, daß man sie nur zur Anprobe geschickt hatte. Eine Dame mußte aber doch ihre Schuhgröße kennen! Plötzlich fand Spike die Lösung dieses kleinen Rätsels. Wer die Schuhe zu diesem Hause gebracht hatte, wußte eben nicht, welche Schuhgröße die Frau trug und hatte deswegen verschiedene Paare mitgenommen, damit sie sich das Richtige aussuchen konnte. Das war ihm jetzt ganz klar – und nun blieb nichts mehr zu entdecken übrig. Gewiß war es noch etwas geheimnisvoll, wer die Bewohner dieses Hauses waren, die man nie zu Gesicht bekam und die doch immer dort waren. Sie besaßen ein großes Auto und wohnten trotzdem in einem kleinen Häuschen, das höchstens fünfhundert Dollars wert war. Aber auch die Entwirrung all dieser Fragen hätte ihn der Geschichte des Grünen Bogenschützen um keinen Schritt näher gebracht.

Spike seufzte. Unmöglich konnte er Mr. Syme durch diese Geschichte veranlassen, ihn noch länger in Garre Castle zu lassen.

Nach Einbruch der Dunkelheit ging er in sein Zimmer, um sich umzuziehen. Plötzlich klopfte es an seine Tür, und Jim Featherstone trat herein. Er hatte am Morgen Lady's Manor verlassen und sein Gepäck nach dem »Blauen Bären« gebracht.

»Sie sind doch zum Abendessen bei Mr. Howett eingeladen, Holland? Würden Sie so liebenswürdig sein, mich zu entschuldigen, denn ich kann heute abend nicht kommen. Ich gehe nach London zurück, um die Savinis irgendwo aufzutreiben.«

»Ich sage Ihnen nur, Captain, die sind in der Burg,« entgegnete Spike mit Nachdruck. »Sie haben an jenem Morgen Garre Castle nicht verlassen, darauf kann ich einen Eid leisten.«

»Es ist sehr leicht möglich, daß sie dort sind,« sagte Jim ruhig. »Aber vergessen Sie nicht, daß Julius Savini, ein so netter Kerl er auch manchmal sein kann, nun einmal zur Verbrecherklasse gehört. Ich muß vor allen Dingen sicher gehen. Es ist ja möglich, daß auch noch andere Wege aus der Burg führen.«

»Aber Sie haben diese Wege doch auch nicht entdeckt, als Sie Hausmeister waren,« sagte Spike beharrlich. »Aber es führt doch ein Weg aus Garre heraus, und der alte Syme hat ihn gefunden. Morgen früh muß ich zur Stadt zurück, und dann entschwindet mir der Grüne Bogenschütze – und das wäre doch der größte Erfolg für mich gewesen, wenn ich seine Geschichte im ›Globe‹ hätte veröffentlichen können.«

Jim nickte.

»Vermutlich geht es zu langsam mit den neuen Ereignissen, und deshalb wird man in der Redaktion müde.«

»Aber warum haben Sie es denn so eilig?« Spike band sorgsam seine Krawatte vor dem Spiegel und drehte sich dann zu Jim um, der sich für einen Augenblick auf die Bettkante gesetzt hatte. »Morgen haben Sie doch auch noch Zeit, nach London zu fahren. Ich weiß, daß Mr. Howett Sie erwartet, ich habe die junge Dame getroffen, als ich durchs Dorf ging, und sie erzählte mir, daß wir alle zusammen heute abend dort eingeladen sind. Mr. Wood wird auch da sein, er kommt von London.«

»Ja, das weiß ich,« sagte Jim. Sein Ton ließ Spike aufhorchen.

»Ein hoher Polizeibeamter und ein großer Philantrop, zwei Rivalen, die sich um die Hand derselben Millionärstochter bewerben.« Spike dachte immer in Zeitungsüberschriften.

Aber er irrte sich doch, denn es war nicht nur das unangenehme Gefühl, das Jim gegen diesen neuen Eindringling und die warme Anteilnahme Valeries an ihm empfand. Er hatte sich auch aus anderen Gründen entschieden, nach London zu gehen. Er hatte viel zu tun, denn er leitete eine große Abteilung von Scotland Yard. Er hatte erkannt, daß es nicht so weitergehen durfte und er seine Arbeit nicht dauernd vernachlässigen konnte. Er hätte dies freilich schon längst allein wissen können, aber heute morgen hatte er einen Brief seines Vorgesetzten bekommen, in dem erwähnt war, daß seine lange Abwesenheit von der Polizeidirektion unangenehm auffiel.

Als Spike herunterkam, wartete das Auto schon auf der Straße. Jim stand daneben und zündete sich eine Pfeife an.

»Sie können mir einen großen Gefallen tun, Featherstone,« sagte Spike. »Läuten Sie doch Mr. Syme in der Stadt an und sagen Sie ihm, daß es ein unerhörtes Unrecht und eine nationale Katastrophe sei, wenn er mich von Garre wegnähme, bevor die Geschichte aufgeklart ist.«

»Wenn es nötig ist, will ich auch kräftig für Sie lügen,« erwiderte Jim. »Aber ich bin auch vollkommen Ihrer Ansicht, daß das Geheimnis von Garre noch genau so wenig gelöst ist als damals, als Sie zuerst hierherkamen. Also entschuldigen Sie mich bitte bei Miß Valerie!«

Spike wartete, bis der Wagen abgefahren war und ging dann nach Lady's Manor hinüber. Dort erfuhr er, daß John Wood schon eine ganze Stunde da war und fand Miß Howett und ihn Seite an Seite auf dem Diwan sitzen. Sie lauschte in tiefem Stillschweigen seinen Erklärungen, als er ihr von seinem großen Plan erzählte. Die beiden waren so vertieft, daß sie kaum Spikes Kommen merkten.

»Wo ist Captain Featherstone?« fragte sie.

»Er läßt sich entschuldigen, er mußte zur Stadt fahren. Seitdem er sich hier auf dem Lande aufhält, sind so viele neue Verbrechen begangen worden, daß Scotland Yard nach ihm geschickt hat.«

»Meinen Sie im Ernst – daß er zur Stadt gefahren ist?« fragte sie.

»Ganz bestimmt. Er beunruhigte sich auch sehr über Julius Savini – er ist der Ansicht, daß der alte Bellamy ihn irgendwo in der Burg gefangenhält. Ich bin übrigens davon fest überzeugt.«

Er sah, daß ihr Featherstones Abwesenheit nicht lieb war, aber als sie sich wieder mit Mr. Wood unterhielt, schien sie nach kurzer Zeit die Existenz Jims vollkommen vergessen zu haben. Spike dachte bei Tisch, daß er sie noch niemals so angeregt, liebenswürdig und schön gesehen hatte.

Wie gewöhnlich hörte Mr. Howett lieber zu und beteiligte sich kaum aktiv an der Unterhaltung. In letzter Zeit schienen seine Gedanken vollkommen mit irgendeiner anderen Sache beschäftigt zu sein. Auch Valerie hatte dies schon beobachtet, und es hatte ihr viel Kummer verursacht. Spike interessierte sich außerordentlich für Mr. Howett. Seine eigene Ansicht, wer der Grüne Bogenschütze sein könnte, war nun vollkommen gereift. Nach und nach hatte er die einzelnen Indizien zusammengesetzt und war seiner Sache jetzt ganz sicher, trotzdem der bloße Gedanke ihm zuerst vollkommen phantastisch erschienen war.

Wood blieb über Nacht in Lady's Manor. Es fuhr kein Zug mehr nach der Stadt, und Valerie wollte ihn durchaus nicht im Gasthaus logieren lassen. Merkwürdigerweise hatte sie früher nicht dagegen protestiert, daß Jim Featherstone im »Blauen Bären« wohnte. Spike merkte sich das genau.

Um neun Uhr zog sich Mr. Howett aus dem Wohnzimmer zurück, wohin sie nach Tisch gegangen waren. Unbeobachtet verließ er die kleine Gesellschaft, selbst Spike hatte nicht gemerkt, daß er gegangen war. Allmählich kam die Unterhaltung wieder einmal auf den Grünen Bogenschützen, wie es kaum anders zu erwarten war. John Wood brachte als erster die Sprache auf diese merkwürdige Erscheinung in Garre Castle.

»Haben Sie ihn schon einmal gesehen, Miß Howett?« fragte er halb im Scherz.

Sie zitterte.

»Ja, ich habe ihn gesehen.«

»Wie, Sie haben ihn gesehen?« fragte Spike erstaunt. »Das haben Sie mir aber noch gar nicht erzählt, Miß Howett! Täuschen Sie sich auch nicht – haben Sie tatsächlich den Grünen Bogenschützen gesehen?«

»Ich möchte nicht gern darüber sprechen,« sagte sie. »Besonders nicht über meine eigenen Erlebnisse. Aber ich habe ihn zweimal gesehen – einmal draußen in dem Park von Garre Castle.«

»Aber was haben Sie denn in dem Park von Garre Castle zu tun?« fragte Spike, der aufs neue überrascht war.

»Ich habe jemand gesucht. Es war allerdings eine ganz verwegene Sache, die ich mir vorher nicht genau überlegt hatte, und beinahe wäre sie böse für mich ausgegangen. Ich bin nachts in dem Park gewesen.«

»Wo haben Sie ihn denn gesehen?« fragte Spike erregt.

Obgleich Valerie bei der Erinnerung noch zitterte, mußte sie doch über Spikes Neugierde lächeln.

»Wenn Sie das in Ihre Zeitung setzen, dann sage ich Ihnen kein Wort mehr, Mr. Holland. Wenn Sie aber versprechen, tiefes Stillschweigen darüber zu bewahren, dann will ich Ihnen zeigen, wo ich den Grünen Bogenschützen gesehen habe. Ich habe mir erst heute die Stelle wieder angesehen. Ich wußte nicht, daß man sie von unserem Grundstück aus sehen kann. Es war auf dem Abhang eines kleinen Hügels, Sie können den Platz von unserer Gartenmauer aus sehen. Dort steht ein kleines Gehölz – eine Art Boskett.« Plötzlich stand sie auf. »Ich will es Ihnen gleich zeigen – aber –« sie warnte Spike mit dem Finger – »Sie dürfen niemals, unter welchen Umständen es auch immer sein mag, erzählen, daß ich ihn gesehen habe. Ich kann Ihnen auch sagen, daß er kein Geist ist.«

Die beiden folgten ihr in die Halle, in die Küche und durch die Gartentür ins Freie. Der Garten lag im Dunkeln, und sie stand einen Augenblick still.

»Ich glaube nicht, daß wir die Stelle bei dieser Beleuchtung sehen können,« meinte sie.

»Wenn wir uns erst etwas an die Dunkelheit gewöhnt haben, ist es hell genug,« drängte Spike. »Wenn Sie mir die Stelle zeigen wollen, kann ich vielleicht später selbst näher nachforschen. Morgen früh ist ja Licht genug da. Ich muß jetzt den Beweis bringen, daß der Grüne Bogenschütze überhaupt existiert, oder ich habe mein Ansehen bei dem ›Daily Globe‹ für immer verloren!«

Spike hatte recht. Trotz der Dunkelheit konnten sie nicht nur die Umrißlinien der Burg, sondern auch das kleine Gehölz deutlich unterscheiden, als sie auf Leitern stiegen und über die Mauer schauten. Spike kletterte auf die Mauer und setzte sich rittlings darauf. Dann strengte er seine Augen an, um den Erklärungen Valeries folgen zu können. John Wood stand zwischen den beiden und hatte die Ellenbogen auf den oberen Teil der Mauer gestützt.

»Das ist also die Burg,« sagte er.

»Und dort liegt das Gehölz.« Sie zeigte es ihm mit der Hand. »Sie können gerade noch die Silhouette des kleinen Hügels erkennen, wo ich ihn entdeckte.«

»Heute abend ist allerdings nicht viel zu sehen,« gab Spike zu. »Aber wenn Sie mich vielleicht morgen durch Ihren Garten gehen lassen –«

Spike zündete plötzlich ein Streichholz an. Einen Augenblick flackerte das Licht, aber als es hell brannte, hielt er es über den Rand der Mauer. Dann sah er etwas – Valerie stieß einen Schrei aus – er ließ das Streichholz fallen und hielt sie.

Nicht weiter als zwei Meter entfernt stand an einem Gebüsch der Grüne Bogenschütze und starrte mit seinen weißen, geisterhaften Augen auf die Gruppe.


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