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Savini war verstört.
»Bist du deiner Sache auch ganz sicher?«
Sie zogen beide Schubladen heraus und leerten ihren Inhalt auf eine Decke, die sie auf den Boden legten.
»Hast du es auch wirklich wieder in die Schublade zurückgelegt?« fragte er. Er wußte, daß seine Frage nutzlos war, da er sie ja selbst dabei beobachtet hatte.
Sie sahen sich bestürzt an.
»Deshalb ist er auch hier heruntergekommen – wahrscheinlich hat er sich daran erinnert,« meinte Fay.
Julius fluchte leise.
»Es war eine unverzeihliche Dummheit von mir, das Buch in dem Schubfach zu lassen. Wir hätten uns doch denken können, daß er zurückkommen würde, um es an sich zu nehmen. Er hat sicher nicht gewußt, wo es lag.«
Es mußte ungefähr neun Uhr morgens sein. Sie saßen verzweifelt zusammen auf dem großen Divan. Julius hatte den Kopf in die Hände vergraben, und Fay machte einen Versuch, sich durch Lesen zu zerstreuen, als sie plötzlich hörten, wie das hölzerne Brett, das das Eisengitter verdeckte, zurückgezogen wurde. Bellamy rief sie an.
Julius hatte im Augenblick seine Pistole zur Hand und sprang hinter einen Pfeiler, um Deckung zu suchen.
»Savini, legen Sie Ihren Revolver nur ruhig beiseite,« sagte der Alte. »Legen Sie ihn dort auf den Tisch, damit ich ihn sehen kann. Dann will ich auch mit Ihnen sprechen. Aber nur wenn Sie mir gehorchen und das Schießeisen weglegen!«
Julius überlegte schnell. Durch Widerspruch wurde nichts gewonnen, und er legte die Pistole auf einen kleinen Tisch.
»Kommen Sie einmal zur Tür, fürchten Sie sich nicht. Wenn ich Sie hätte erschießen wollen, dann hätte ich das längst unbeobachtet von dem Gitter aus tun können, ebenso wie ich von dort aus zu Ihnen sprechen kann.«
»Was wollen Sie denn, Mr. Bellamy?« fragte Julius aufsässig. »Ich verstehe nicht, warum Sie uns hier gefangenhalten. Sie hätten uns doch vertrauen können.«
»Das hätte ich ganz gewiß nicht tun können. Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, daß man nach Ihnen sucht. Ein Polizist war den ganzen Morgen oben und hat mich ausgefragt. Er sagte, man hätte einige Schriftstücke in Ihrer Wohnung gefunden, die einen Anhaltspunkt dafür geben, daß Sie außer Landes gehen wollten. Vermutlich wird man bald aufhören, nach Ihnen zu suchen, Savini. Sehen Sie zu, daß Sie mit Ihren Nahrungsmitteln möglichst lange aushalten, denn neue gibt es nicht, und heraus kommen Sie auch nicht. Sie werden für immer in dem Gefängnis bleiben! Den Schlüssel habe ich weggeworfen – in den tiefen Brunnen, Savini.«
»Sie lügen,« sagte Julius ruhig. »Sie sind ja noch in der vorigen Nacht hier gewesen, um das Tagebuch wegzunehmen.«
Bellamy starrte ihn entsetzt durch das Gitter an.
»Was sagten Sie da eben?« Seine Stimme war heiser.
»Sie sind in der letzten Nacht hier gewesen und haben das Tagebuch geholt.«
»Welches Tagebuch?«
»Sie brauchen uns doch nichts vorzumachen. Sie kamen kurz vor fünf heute morgen herunter, und Sie können von Glück sagen, daß ich Sie nicht gesehen habe!«
»Was für ein Tagebuch meinen Sie denn?« fragte Bellamy. »Hat sie etwa Aufzeichnungen hier zurückgelassen? Das hätte ich mir doch denken können! Wo ist denn das Tagebuch?«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, daß es fort ist,« erwiderte Julius ungeduldig. »Sie kamen –«
»Sie sind wohl nicht ganz bei Sinnen, Sie Narr!« brüllte Bellamy. »Ich bin nicht mehr hergekommen, seitdem ich Sie eingeschlossen habe.«
Es dauerte einige Zeit, bevor Bellamy seine Fassung wiedergewann.
»Sagen Sie mir, Savini, und wenn Sie das tun, werde ich Sie gut behandeln, was war es denn – war es das Tagebuch der Frau?«
»Das müssen Sie doch selbst am besten wissen!«
Diese Antwort brachte Bellamy in helle Wut.
»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß ich nichts davon weiß – ich habe es niemals gesehen. Ich wußte auch nicht, daß es hier war. Was stand denn darin?«
Julius erzählte ihm den Inhalt eines Abschnittes, und Bellamy sank in sich zusammen, als ob er einen Schlag erhalten hätte. Aber dann richtete er sich wieder auf, und die beiden konnten selbst in dem trüben Licht sehen, daß er totenbleich war.
»Savini,« sagte er düster, »früher gab es noch eine Möglichkeit, daß ich Sie hier herausgelassen hätte, wirklich, es wäre unter gewissen Bedingungen möglich gewesen. Vielleicht hätte ich den andern an Ihrer Stelle eingesperrt. Aber jetzt wissen Sie zu viel, als daß ich Sie freigeben könnte!«
Die Tür wurde zugeschlagen, bevor Julius etwas erwidern konnte. Er drehte sich um und sah in das entsetzte Gesicht Fays.
»Wie konntest du ihm nur etwas von dem Tagebuch erzählen, als du sahst, daß er nichts davon wußte? Julius, du warst nicht bei Verstand!«
Savini zuckte die schmalen Schultern.
»Was macht das auch viel aus?« sagte er. »Ich glaube ihm wirklich nicht, wenn er eben sagte, daß er uns herausgelassen hätte. Er hält uns hier fest, Fay.« Er legte seinen Arm um sie und seine Wange an die ihre. »Es ist nicht so schrecklich, als ich anfangs dachte,« sagte er und streichelte sie. »Ich habe mich immer so sehr vor dem Tod gefürchtet und der Gedanke, daß man wie eine Ratte in der Falle sterben sollte, hätte mich früher verrückt gemacht. Aber jetzt bin ich ruhig geworden, mein Liebling.«
Sie löste sich leise aus seiner Umarmung.
»Julius, wenn Bellamy sagt, daß er uns hier sterben lassen will, so kannst du sicher sein, daß er sein Wort hält. Aber höre, wenn jemand einen Weg hierher gefunden hat, dann müßten wir doch auch einen Weg herausfinden können.«
Julius schüttelte den Kopf.
»Der Grüne Bogenschütze kam durch die Tür, und nur der Grüne Bogenschütze konnte das tun.«
Sie wunderte sich über seine Ruhe und Gelassenheit. Das war nicht mehr der Julius, den sie von früher her kannte, nicht der nervöse, ewig gereizte, unzufriedene Julius, der sich vor allem fürchtete und vor dem alten Bellamy kroch. Seine Verheiratung mit Fay war zuerst eine reizvolle Episode gewesen, nachher war es weiter nichts als eine äußere Form, die sie stolz anderen Frauen gegenüber zeigte, die nicht so glücklich waren wie sie. Es hatte aber schon Zeiten gegeben, da sie ihren Mann verachtete, und Augenblicke, in denen sie bereit war, ihn zu betrügen.
»Ich sehe dich jetzt in einem ganz neuen Lichte, Savini« sagte sie zärtlich zu ihm.
»Ich komme mir selbst ganz anders vor,« gestand er ihr. »Wir müssen nun der Wahrheit ins Auge sehen. Der alte Bellamy will einen teuflischen Plan gegen uns ausführen, gegen den einfacher Mord eine unschuldige Sache ist. Ich möchte nur wissen, warum er die Gewehre gekauft hat.«
»Was meinst du?« fragte sie verwundert.
»Oben in dem Turm der Burgkapelle steht eine Kiste. Ich habe sie zufällig gefunden. Sie enthält ein Dutzend Mannlicher-Gewehre und zwei große Kasten mit Munition. Sie steht in dem Raum über dem Zimmer, das Featherstone bewohnte. Ich habe eine Ahnung, daß wir sie noch hören werden – aber dann wird es auch mit uns zu Ende gehen.«
»Was will er denn mit einer Kiste mit Gewehren anfangen?«
Aber Julius konnte es ihr nicht sagen.
»Er ist ein Schütze, der nie sein Ziel verfehlt, wie er mir einmal sagte.« Er schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, ich hätte ihm nichts von dem Tagebuch erzählt. Vielleicht habe ich dadurch veranlaßt, daß er noch die Gewehre gebrauchen wird.«
Bellamy saß in seinem ruhigen Zimmer, um sich über die Lage klar zu werden, die am gefährlichsten für ihn selbst war. Aber darüber dachte er am wenigsten nach. Für diesen unbarmherzigen Mann lag das Unglück darin, daß ihm in zwölfter Stunde, als ihm das Schicksal bereits die Möglichkeit gegeben hatte, sich an der verhaßten Frau zu rächen, der Erfolg doch noch entrungen wurde. Von dem Augenblick ihres Verschwindens an war er auf seiner Hut. Wohin sie gegangen und wie sie entkommen war, konnte er nicht einmal vermuten. Er wußte nur, daß irgendwo in der Ferne oder in der Nähe irgendeine Kraft mit tödlicher Gewißheit gegen ihn arbeitete, eine Kraft, die sich in dem Grünen Bogenschützen offenbarte. Er erschauerte, weil ihm zum Bewußtsein kam, daß Garre Castle wieder einmal eine Festung war, die gegen die Feinde ihres Herrn verteidigt wurde. Wenn er erst seine Pläne durchgeführt hatte, mochten sie ihn ruhig bestürmen, die Eichentore berennen, oder die steilen Mauern erklimmen. Er würde mit Genugtuung sterben.
Er war noch in seinen Gedanken versunken, als Sen kam und ein Stück Papier vor ihm hinlegte, auf dem er um Befehle bat.
Bellamy winkte ihn ungeduldig beiseite.
»Ich will jetzt noch nicht essen, ich werde noch den Auftrag geben, wenn es soweit ist. Sen, würdest du gern nach China zurückkehren?«
Sen schüttelte den Kopf.
Der alte Mann brütete eine Weile vor sich hin, dann erhob er sich, öffnete den Geldschrank hinter der Holzvertäfelung, nahm ein Paket Banknoten heraus und gab sie seinem Chauffeur.
»Da hast du einen großen Haufen Geld, ich habe es nicht gezählt, aber wenn irgend etwas passieren sollte, Sen, so wäre es besser, wenn du nach Hause zurückgingst.«
Der Chinese sah ihn fragend an.
»Du möchtest wohl wissen, was mir geschehen könnte?« sagte Abel hart. »Es kann eine ganze Menge passieren. Aber höre, du hast jetzt all diese Jahre keine unnötigen Fragen an mich gestellt, fange jetzt nicht damit an! In ein paar Tagen werde ich dich nach London schicken, du brauchst nicht mehr zurückzukommen. Packe deine Bücher und dein Geschreibsel oder was immer dir Freude macht, zusammen und nimm es mit dir fort.«
Sen wartete mit dem Notizblock in der Hand, als ob er noch einmal fragen wollte. Aber dann schien er sich die Sache überlegt zu haben und verschwand mit einer Verbeugung aus dem Raum.
Es ging zu Ende – Bellamy wußte es. Eine innere Stimme sagte es ihm deutlich. Der Tag war nahe, an dem die Schatten des Todes jede Erinnerung an Garre Castle mit all seinem Haß und seiner Liebe auslöschen würden. – Wenn er nur die graue Frau finden könnte! Wenn sie doch nur durch irgendwelche außergewöhnlichen Umstände wieder in seine Gewalt käme. In ganz London gab es keine Detektivagentur, die nicht nach ihr suchte. Alle Informationen, die man sich durch Geld verschaffen konnte, standen zu seiner Verfügung. Aber sie war verschwunden, als ob die Erde sich aufgetan und sie verschlungen hätte. Und merkwürdigerweise hatte die Polizei noch nicht eingegriffen. Dieser eitle Featherstone – wie würde der sich freuen, wenn er in das Schloß kommen könnte mit einem seiner Durchsuchungsbefehle!
Das Tagebuch! Was mochte sie wohl geschrieben haben? Wenn man Savini glauben konnte, hatte sie viel zu viel geschrieben, als daß Abel Bellamy ruhig bleiben durfte. Und er sagte sich, daß Julius diesen Absatz in ihrem Tagebuch nicht hatte erfinden können, den er ihm so geläufig wiedererzählt hatte.
Schließlich erhob er sich und ging in die Gefängniszellen hinunter, um dort weiterzuarbeiten. Julius hörte ihn, nahm seine Pistole und kroch bis zu der Öffnung in der Mauer, fand aber, daß das Gitter durch ein starkes Brett verdeckt war. Es war ihm unmöglich, Bellamy bei der Arbeit zu sehen, der den ganzen Tag unten blieb. Das Geräusch von Stahl auf Stein drang zu dem Gefangenen, und einmal hörte Fay brummende Laute. Sie erschrak zuerst, aber später wurde ihre Neugierde rege. Es dauerte einige Zeit, bevor sie eine Erklärung fanden. Abel Bellamy sang bei der Arbeit laut, und Fay war sehr verwundert.