Edgar Wallace
Der grüne Bogenschütze
Edgar Wallace

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

11

An dem klaren, frostigen Morgen ging Mr. Bellamy langsam über die Rasenflächen des Parks zum Pförtnerhaus. Er war ein Mann, der sein Ruhebedürfnis ganz den besonderen Umständen anpassen konnte. Manchmal schlief er zwölf Stunden hintereinander, aber er konnte sich auch nach zwei Stunden Ruhe vollständig ausgeschlafen wieder erheben. Er ging zu dem Portierhaus, weil er niemals Fremde in der Burg selbst empfing. Leute, mit denen er etwas zu verhandeln hatte, wurden in ein geräumiges Zimmer des Portierhauses geführt, das besonders für diese Zwecke eingerichtet war.

Der mürrisch aussehende Pförtner legte die Hand an die Mütze, als sein Herr eintrat. Der Ortspolizist wartete hier auf Bellamy.

»Guten Morgen, mein Herr. Man hat mir erzählt, daß es während der Nacht Unruhe und Aufregung in der Burg gegeben hat.«

Bellamy grinste, daß seine weißen Zähne zu sehen waren.

»Sagen Sie mir doch nur, wer Ihnen das mitgeteilt hat und verlassen Sie sich darauf, daß der Betreffende Ihnen nichts mehr erzählen wird,« erwiderte Bellamy unhöflich.

Er fuhr mit der Hand in die Tasche und nahm eine Banknote heraus, die er auf den Tisch legte.

»Hier ist ein kleines Geschenk für Ihre Bemühungen. Vergessen Sie, was Sie da von dem Vorfall in der Burg gehört haben. Ich hatte einen bösen Traum und habe nach einem Schatten geschossen. Ich dachte, es wäre ein Einbrecher.«

»Ich verstehe vollkommen, mein Herr,« sagte der Polizist verbindlich. »Ich habe die Sache meinem Vorgesetzten noch nicht gemeldet.«

»Ist auch nicht nötig. Ich vermute, daß in diesem Dorfs nichts passiert, das Sie nicht wissen. Sind in letzter Zeit Fremde hier gewesen?«

Der durch das Geschenk sehr höfliche Polizist schaute Bellamy an und schnitt eine Grimasse, als ob er tief nachdächte.

»Ja, mein Herr, es sind ein oder zwei Leute hier gewesen. Es war auch eine Dame da, die Lady's Manor sehen wollte.«

»Lady's Manor?« fragte Bellamy schnell. »Ist das das alte Haus dort an der Straße?«

»Ja. Es gehört Lord Tetherton. Es ist sehr baufällig und es würde viel Geld kosten, es instandzusetzen. Deshalb ist es auch noch nie vermietet worden. Einige Teile des Hauses sind so alt wie diese Burg.«

»Wann kamen die Leute nach Garre?« fragte Bellamy scharf.

»Vor zwei Tagen. Es war eine sehr hübsche Dame, außerordentlich schön. Ich sah sie gerade noch, als sie wieder fortfuhr.«

»Können Sie mir vielleicht sagen, woher sie kam?«

»Von London, soviel ich weiß. Der Wagen hatte ein Londoner Schild, und ich glaube, daß sie auf dem Weg über Reading kam. Die Frau, die die Schlüssel von Lady's Manor aufbewahrt, sagte, daß sie von dem Hausagenten Solders hierhergeschickt wurde. Die Firma hat nämlich das Haus an Hand.«

»War sie allein?«

»Ich habe niemand in ihrer Begleitung gesehen.«

Bellamy ging in das Wohnzimmer des Pförtners, wo ein Telephonapparat angebracht war. Eine Minute später hatte er Verbindung mit dem Hausagenten.

Der Mann erinnerte sich genau an die näheren Umstände. Die Dame war von London gekommen, und er hatte ihr die Erlaubnis gegeben, das Haus zu besichtigen. Ihren Namen konnte er leider nicht angeben, er hatte nicht danach gefragt. Es war auch nicht seine Gewohnheit, Leute nach Einzelheiten zu fragen, die noch nicht bestimmt einen Vertrag abschließen wollten.

»Wenn sie Ihnen schreiben sollte oder wieder zu Ihrem Bureau kommt, so möchte ich gern ihre Personalien wissen,« sagte Mr. Bellamy und hing den Hörer wieder an.

Als es vollständig Tag geworden war, wurde die Vorratskammer genau untersucht. Bellamy hoffte eine Blutspur zu finden, die ihm irgendwie bei der Lösung des Rätsels Aufschlüsse geben konnte, aber er entdeckte nicht einen einzigen Flecken. Er sandte Savini nach Guildford, um genauere Erkundungen einzuziehen.

Im Augenblick war er so beschäftigt, daß er die unverantwortliche Einmischung seines Sekretärs in seine Privatangelegenheiten übersah. Das konnte warten.

Julius war nur zu froh, sich entfernen zu können. Er wollte sich selbst über einen Punkt Gewißheit verschaffen, und nachdem er seinen Auftrag in Guildford erledigt hatte, eilte er nach London und ging direkt zum Carlton-Hotel.

»Nein, ich glaube nicht,« antwortete der Hotelportier auf seine Frage. »Ich habe Miß Howett den ganzen Morgen noch nicht gesehen. Ich werde in ihrem Zimmer anläuten, um zu fragen, ob sie dort ist. Wünschen Sie die Dame zu sprechen?«

Julius zögerte einen Augenblick.

»Ja,« sagte er dann.

Er hatte sich zu einem kühnen und gefährlichen Schritt entschlossen. Während der Portier telephonierte, wartete er, und man konnte die Erregung deutlich in seinen Zügen sehen, als er der Unterhaltung am Apparat folgte.

»Es tut mir leid, Mr. Savini,« sagte der Portier, als er den Hörer wieder anhing. »Es ist nicht möglich, daß Sie Miß Howett sehen können. Sie hat sich gestern abend den Fuß vertreten, als sie aus dem Wagen stieg, und ist in ärztlicher Behandlung. Das hat mir eben ihre Zofe gesagt. Ich erinnere mich jetzt auch, daß ich Miß Howett seit gestern nachmittag nicht mehr gesehen habe.«

Julius war verblüfft, als er aus dem Hotel heraustrat. »Vertreten« bedeutete doch wohl, durch einen Schuß verwundet? Aber was hatte sie denn überhaupt in Garre zu suchen? Zu welchem Zweck verkleidete sich denn die Tochter des reichen Mr. Howett als Grüner Bogenschütze? Seine Theorie war phantastisch, aber das Übereinstimmen der Anfangsbuchstaben Valerie Howetts mit dem Monogramm auf dem Taschentuch war doch zu sonderbar. Dazu kam nun noch der verletzte Fuß. Sicher lebten Hunderte von Damen, die dieselben Initialen hatten, aber es war doch äußerst seltsam.

Wenn es jemand gab, den Julius an diesem Morgen nicht treffen wollte, so war es Spike Holland. Aber kaum war er ein paar Schritte vom Hoteleingang entfernt, als er dem Journalisten in die Arme lief. Bei schwachen Menschen ist Haß die Folge von Furcht, und so sehr Savini seinen Herrn haßte, der ihn täglich mit Beleidigungen überhäufte, so sehr fürchtete er sich vor seinem Zorn.

»Ich habe keine Zeit, Holland. Ich kam nur zur Stadt . . . wenn Sie den Alten sehen, so sagen Sie um Gotteswillen nicht, daß Sie mich in London getroffen haben. Er hat mich nach Guildford geschickt und weiß nichts davon, daß ich hierher ging.«

»Bellamy hatte letzte Nacht Besuch?« fragte Spike.

»Ich schwöre Ihnen –« begann Savini.

»Ach was, nun hören Sie doch mit dem Leugnen auf. Was hat denn das für Zweck! Wir haben einen Mann nach dem Dorf geschickt, der seit gestern abend dort ist. Er hat uns gerade telephoniert, daß sich der Grüne Bogenschütze in der vergangenen Nacht wieder gezeigt hat und daß der alte Bellamy mit seinem Revolver aus einem alten Gainsborough ein Auge ausgeschossen hat!«

»Das ist nicht wahr!« sagte Julius heftig. »Wenn das in die Zeitung kommt und der Alte erfahrt, daß ich Sie gesehen habe – hören Sie, Holland, ich will ja alles für Sie tun, ich will Ihnen auch die ganze Geschichte erzählen, wenn Sie dafür sorgen, daß ich nicht hineingezogen werde.«

»Habe ich Sie denn schon jemals hineingeritten?« fragte Spike und schüttelte seinen rotblonden Lockenkopf. »Kommen Sie mit, Julius, und erzählen Sie mir einmal die ganze Geschichte.«

»Ich weiß nicht genau, was eigentlich los war,« begann Julius.

»Das ist ja ein verflucht feiner Anfang für einen genauen autoritativen Bericht. Aber nun erzählen Sie endlich!«

Julius berichtete ihm denn auch genau alles, was sich zugetragen hatte. Aber fast nach jedem Satz beschwor er Spike, ihn nicht zu verraten. Er hatte alle die charakteristischen Eigenschaften eines Halbbluts. Auf der einen Seite war er fahrlässig, was die Konsequenzen seiner Handlungsweise betraf, auf der anderen Seite hatte er eine so kindische Angst, daß es manchmal zum Erbarmen war. Er wälzte dunkle, unheimliche Pläne gegen Abel Bellamy in seinem Kopf, auf deren Ausführung die unheimlichsten und schwersten Strafen standen, und doch zitterte er, wenn er die rauhen Worte seines Herrn hörte, und kroch vor ihm.

»Erzählen Sie mir doch, was Bellamy eigentlich in seiner Burg macht? Was für ein Leben führt er denn? Gibt er auch Einladungen?«

»Einladungen?« wiederholte Julius grimmig. »Kein Fremder ist nach Garre Castle gekommen, seitdem ich dort bin. Sie wollen wissen, was Bellamy tagsüber macht? Er geht auf dem Grundstück herum, oder er vertrödelt die Zeit, indem er sich die Mauern ansieht. Die Abende bringt er in seiner Bibliothek mit sich allein zu. Niemand darf ihn dann stören, und tatsächlich ist das auch nicht möglich, denn er schließ! sich einfach dort ein. Gewöhnlich von neun bis elf Uhr abends und manchmal auch eine Stunde morgens.«

»Was, er schließt sich immer dort ein?« fragte Spike interessiert.

»Ja, beide Türen der Bibliothek schließt er zu, es ist nämlich noch eine andere Tür auf der anderen Seite. Aber um Gotteswillen, verraten Sie mich nicht!«

»Also nun ängstigen Sie sich nicht, mein Herzchen!« sagte Spike. »Können Sie mir nicht noch ein bißchen mehr von Bellamy erzählen?«

Julius, der schon wieder zuviel ausgeplaudert hatte, biß sich auf die Lippen und schaute sich verzweifelt um, ob er nicht irgendwie entwischen könnte.

»Das ist alles, was ich sagen kann, und nun versprechen Sie mir, Holland, daß Sie mich nicht verraten!«

»Wo ißt er denn?«

»Gewöhnlich in der Bibliothek, den Speisesaal benützt er fast nie. Aber jetzt muß ich gehen, Holland.«

Und bevor Spike ihn aufhalten konnte, war er davongeeilt.

Auf dem Rückweg nach Guildford machte sich Julius die größten Vorwürfe, als er sich die Einzelheiten seiner Unterredung mit Spike ins Gedächtnis zurückrief. Große Schweißtropfen traten auf seine Stirn, als er sich klar machte, was er alles ausgeplaudert hatte. Aber er war glücklich, als er sich daran erinnerte, daß er nichts von dem Taschentuch gesagt hatte. Das war doch das Interessanteste an der ganzen Geschichte.

Als er zurückkam, fand er seinen Herrn in einer verhältnismäßig guten Stimmung. Er stellte keine unangenehmen Fragen an ihn, warum er z. B. so lange fortgeblieben sei, und zu seiner größten Genugtuung erwähnte Bellamy selbst, daß die Sache wahrscheinlich wieder in die Zeitungen kommen würde.

»Man kann dieses Hühnervolk nicht vom Gackern abhalten,« sagte er. »Die Hälfte der Dienstboten hat mir gekündigt. Selbst der dicke Wilks sagt, daß er gehen will. Ich habe ihm gesagt, daß ich ihn wegen Kontraktbruches bei Gericht belangen werde, wenn er seinen Dienst verläßt, bevor ich ihn entlasse. Savini, sehen Sie zu, daß heute nacht alle Lampen im Korridor brennen.«

»Erwarten Sie, daß er wiederkommt?« fragte Julius gesprächig, aber ein böser Fluch seines Herrn ließ ihn sofort verstummen.

Bei Tageslicht untersuchte Bellamy die Türen seines Zimmers. Die altertümliche äußere Türe konnte ohne große Schwierigkeit leicht geöffnet werden, wenn jemand über die nötigen Werkzeuge verfügte. Aber die Ledertür, die nur auf der Innenseite einen Drücker hatte, schien ganz sicher zu sein, und er war erstaunt, daß sie geöffnet worden war. Mit einem Vergrößerungsglas untersuchte er die Oberfläche des Leders ganz genau. Er hoffte, irgendwelche Spuren oder Kratzer zu finden, aber darin täuschte er sich. Im Rahmenholz der Tür war ein kurzer Eisenhaken eingeschlagen, der die Klinke in ihrer Bewegung nach oben begrenzte. Zuerst dachte er, daß der Eisenhaken herausgezogen und die Tür auf diese Weise geöffnet worden wäre. Aber er überzeugte sich von der Unmöglichkeit, den Haken zu entfernen. Über der Tür war kein Querbalken befestigt, und obwohl Abel die ganzen Wände und die Decke seines Schlafzimmers sorgfältig untersuchte, konnte er doch nichts entdecken, was das merkwürdig langsame Öffnen der Tür erklärt hatte. In der nächsten Nacht schlief er. Die Pistole lag auf einem kleinen Tisch an der Seite seines Bettes, um fünf Uhr morgens erwachte er und sah, daß beide Türen seines Zimmers weit offen standen und sein Revolver verschwunden war!


 << zurück weiter >>