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»Hierfür ist noch Strafporto zu zahlen, Fräulein,« sagte der Postbote. Fay war in ihrem Morgenrock an die Tür gekommen. Sein lautes Klopfen hatte sie aus dem Schlaf geweckt.
»Ich nehme keinen unfrankierten Brief an,« sagte sie böse.
»Es ist kein Brief, und es ist auch keine Postkarte,« erwiderte der Postbote und betrachtete das abgerissene Stück Papier, das er in der Hand hielt.
»Wer hat es geschickt?«
Der Postbote grinste.
»Es ist gegen die Dienstvorschriften, Ihnen das zu sagen, aber hier hat sich jemand mit Julius unterschrieben.«
Sie riß ihm die Karte aus der Hand und gab ihm das Geld.
Es dauerte mindestens fünf Minuten, bis sie die Botschaft entziffert hatte. Sie war auf ein Stück Papier geschrieben, das aus einem Notizbuch herausgerissen war. Auf der einen Seite stand in Bleistiftschrift ihre Adresse. Die Schriftzüge waren kaum leserlich.
»Lacy hat Miß H. weggebracht, sah sie im Dorf, sprang auf den Wagen, fuhr mit ihnen zum G. Osten. Smith, L. und Miß H. kommen heraus und fahren im Boot zu einem Schiff. Ich folge. Featherstone mitteilen.«
Kaum hatte Fay den Inhalt verstanden, als sie rasch zum Telephon ging. Sie versuchte drei verschiedene Nummern, ohne Featherstone zu erreichen. Aber sie hinterließ überall Nachricht, für ihn. Sie hatte sich eben angezogen, als das Telephon läutete. Sie nahm den Hörer ab. Jims müde Stimme antwortete ihr.
»Sie haben mich angerufen, Fay?«
Sie las ihm den Brief am Telephon ohne weitere Erklärung vor.
»Das hat Julius fein gemacht. Wo ist die Karte aufgegeben?«
Sie schaute nach.
»Postamt E 5,« sagte sie. »Haben Sie ihn nicht gesehen – Julius meine ich?«
»Nein, ich habe auch nichts von ihm gehört. Hat er nicht gesagt oder geschrieben, welchen Namen das Schiff hat?«
»Nein, wie er die Karte schrieb, konnte er es doch noch nicht wissen.«
»Ich komme sofort zu Ihnen.«
Zehn Minuten später war er in ihrer Wohnung. Er sah überarbeitet aus, war unrasiert und staubig.
»Wir haben ein Schiff unten an der Mündung des Flusses angehalten, aber sie waren nicht an Bord. Das war auch nicht möglich, wenn das Schiff, das Julius sah, vorigen Abend noch im Fluß lag. Es war nämlich Ebbe und vor vier Uhr heute morgen hätten sie überhaupt nicht ausfahren können.«
Sie machte sich in der Küche zu schaffen und brachte ihm heißen Kaffee, wofür er sehr dankbar war.
»Ihr Telephon klingelt,« sagte Jim plötzlich und sprang auf. »Vielleicht ist es Julius. Kann ich ihm antworten?«
»Ich werde einen schlechten Ruf bekommen,« erwiderte sie, »aber Sie können ihm ja erklären, daß ich nicht die Gewohnheit habe, Polizeibeamte zum Frühstück einzuladen.«
Jim Featherstone erkannte sofort die Stimme Abel Bellamys.
»Ist Savini dort?« fragte er.
Jim winkte Fay an den Apparat und reichte ihr den Hörer.
»Wo ist Ihr Mann?« fragte Bellamy.
»Er ist nicht hier. Ist er denn nicht in Garre?«
»Würde ich denn nach ihm fragen, wenn er in Garre wäre? Er ist gestern abend ausgegangen und noch nicht zurückgekommen. Sie können ihm sagen, daß er seine Kleider und sein Geld abholen soll – er ist entlassen!«
»Vielleicht ist er mit Lacy zusammen,« sagte Fay in ihrer liebenswürdigsten Stimme. »Lacy ist nach Garre gefahren, um Miß Howett zu Coldharbour Smith zu bringen – die Polizei weiß alles!«
Ein langes Schweigen folgte auf der anderen Seite und sie dachte schon, er hätte angehängt. Aber dann antwortete er wieder.
»Ich weiß nichts von Lacy,« sagte er mit sanfterer Stimme, »und noch viel weniger etwas von Miß Howett. Was ist denn das für eine Geschichte, die Sie mir da erzählen?« Und nach einer Pause fragte er: »Was wird die Polizei denn unternehmen?«
Sie hielt den Empfänger zu und wiederholte flüsternd seine Frage.
»Sagen Sie ihm, daß alle Schiffe im Fluß angehalten werden.«
»Es ist jemand bei Ihnen in der Wohnung,« sagte der argwöhnische Bellamy. »Wer ist das?«
Jim nickte.
»Captain Featherstone,« rief Fay und hörte wie Bellamy fluchte und den Hörer wütend anhing.
»Jetzt ist die Frage, wo ist Julius,« meinte Jim. »Ich muß gestehen, daß ich schon ein wenig beruhigter bin, seit ich weiß, daß er in der Nähe ist. Ich hätte mir früher nicht im Traum einfallen lassen, daß ich mich jemals auf ihn verlassen würde!«
»Da kennen Sie Julius nicht,« erwiderte Fay stolz.
Unglücklicherweise kannte aber Jim Julius Savini nur zu genau, aber er sprach jetzt lieber nicht darüber.
Er kehrte in sein Büro zurück, wo Mr. Howett auf ihn wartete. Ihr Stiefvater hatte die Nachricht von der Gefahr, in der sich Valerie befand, sehr tapfer aufgenommen.
»Ich kann nicht glauben, daß ihr Böses zustößt,« sagte er. »Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, Captain Featherstone, daß Sie keine Ausgaben zu scheuen brauchen, um sie wiederzufinden.«
»Wenn man sie mit Geld aus der Gefahr befreien könnte, dann wäre sie schon frei,« sagte Jim so ruhig und geduldig er nur konnte. »Verzeihen Sie, daß ich ein wenig aufgeregt bin, aber das ist ja nicht verwunderlich nach dieser Nacht. Sie waren nicht in Lady's Manor, als Miß Howett fortfuhr?«
»Nein, ich war in London.« Mr. Howett fiel das Sprechen schwer. »Aber selbst wenn ich in Garre gewesen wäre, hätte ich sie nicht zurückgehalten, da sie ein Mann von Scotland Yard begleitete. Haben Sie schon irgendwelche Anhaltspunkte?«
»Ja, ich glaube,.« sagte Jim nach einigem Nachdenken. Er klingelte nach seinem Sekretär. »Gehen Sie ins Archiv und sehen Sie die Akten von Lacy nach, Henry Francis Lacy, wenn ich mich recht erinnere. Er wurde vor drei Jahren von den Geschworenen von Old Baley wegen Einbruchs verurteilt. Geben Sie seine Personalbeschreibung allen Polizeistationen auf, er soll festgenommen werden, wo er gefunden wird. Man soll mich sofort benachrichtigen, wenn er verhaftet worden ist. Lacy wird sich, wenn er keinen Verdacht schöpft, irgendwo in der Nähe des ›Goldenen Ostens‹ aufhalten. Dies ist um so wahrscheinlicher, als Barnett mir den Namen des Mannes nicht nannte, der Valerie Howett zum Schiff brachte. Lacy wird zuerst zum ›Goldenen Osten‹ gehen, um festzustellen, wie weit er verdächtigt wird.«
»Was halten Sie von Julius Savinis Verschwinden?«
»Julius ist ein merkwürdiger Mensch – manchmal hält er sich ganz ordentlich und gerade dann, wenn es niemand vermutet. Ich bin überzeugt, daß die Nachricht, die er seiner Frau sandte, vollkommen richtig ist. Er ist jetzt irgendwo in der Nähe Valeries. Ich hätte mir nie einfallen lassen, daß ich Julius Savini einmal beneiden würde.«
Ein kaltes Bad, neue Wäsche und Kleider erfrischten Jim Featherstone und er machte sich sofort wieder an die Arbeit.
Die Themsepolizei hatte eine umfassende Durchsuchung aller Schiffe angeordnet, die im Pool lagen, von der Londonbrücke bis nach Greenwich hinunter. Jim befand sich auch auf der kleinen Dampfpinasse, mit der der Oberinspektor von Schiff zu Schiff fuhr. Aber alle Nachforschungen waren bisher erfolglos gewesen. Als sie auch wieder an der »Contessa« vorüberkamen, sah Jim gelben Rauch aus ihrem Schornstein aufsteigen, aber das einzige sichtbare menschliche Wesen an Deck war ein unordentlich aussehender Matrose, der mit verschränkten Armen an der Reling stand.
»Es hat wohl keinen Zweck, sie noch einmal zu durchsuchen,« meinte Jim.
»Ich glaube auch,« erwiderte der Inspektor. »Es wäre doch sehr unlogisch, eine Dame auf ein Schiff zu bringen, das nicht einmal zur Abfahrt bereit liegt. Barnett hat wieder gelogen.«
Jim nickte, aber er schaute doch nachdenklich auf den breiten, häßlich aussehenden Frachtdampfer. Er hätte gewünscht, daß Barnett die Wahrheit gesagt hätte. Als er später den Barmann im »Goldenen Osten« wieder aufsuchte, fand er ihn in Tränen aufgelöst.
»Und wenn ich in dieser Minute sterben soll, Captain, ich habe Sie nicht belogen! Wenn ich Ihnen etwas Falsches gesagt habe, so kann es nur daher kommen, daß Coldharbour wußte, daß ich am Schlüsselloch zuhörte.«
»Haben Sie noch etwas anderes gehört, als daß sie an Bord der ›Contessa‹ gehen wollten?«
»Ja, Coldharbour sagte, daß er die junge Dame heiraten würde, wenn sie an Bord seien. Er erzählte diesem spanischen Kapitän, wie hübsch sie sei, und daß er eins der Mädchen, die hier im ›Goldenen Osten‹ verkehren, fortgeschickt habe, um einen ganzen Koffer voll schöner Kleider für sie zu kaufen, denn sie hatte doch nichts mit sich, als sie an Bord ging. – Ich habe nun all meine Ersparnisse in diesen Klub gesteckt,« sagte der niedergeschlagene Mann. »Und ich habe sogar Geld auf Zinsen geborgt – Sie können sich vorstellen, wie es mir geht, Captain. Ich hätte Coldharbour zehnmal im Stich gelassen, nur um mein Geld nicht zu verlieren. Alles, was ich Ihnen gesagt habe, ist richtig.«
Jim glaubte ihm. Wenn die Nachforschungen nach Valerie nicht zum Ziel geführt hatten, so war das nicht der Fehler des Barmanns. Coldharbour hatte vielleicht die Unterhaltung absichtlich so geführt, und die Tatsache, daß er englisch und nicht spanisch gesprochen hatte, war für Jim hinreichender Beweis.
Es kam noch etwas anderes dazu, das für Barnett von großem Vorteil war. Die Polizei hatte wenig Interesse daran, den »Goldenen Osten« zu schließen, wie Jim ihm gedroht hatte. Diese Lokale, in denen die Verbrecher verkehrten, starben mit der Zeit aus, und es dauerte sehr lange, bis diese Leute sich in einem neueröffneten Lokal heimisch fühlten. El Moro's diente demselben Zwecke, und wie die Motten in die Flamme fliegen, so drängte alles, was irgendwie zur Verbrecherwelt gehörte, im Westen dorthin. Der »Goldene Osten« erfüllte dieselbe Aufgabe am anderen Ende der Stadt.
Jim fragte Barnett noch aus, als Spike Holland mit neuen Nachrichten kam. Er war hergekommen, um Erkundigungen nach dem Wagen einzuziehen, der Miß Howett und den angeblichen Polizeibeamten hierhergebracht hatte.
»Hinten saß ein Mann auf dem Gepäckhalter, er ist an zwei oder drei Stellen beobachtet worden, besonders in der einen Vorstadt von London. Ein Polizist sah ihn und wollte ihn von dem Wagen entfernen. Nach der Personalbeschreibung besteht gar kein Zweifel, daß es Julius war.«
»Dieser Savini ist doch ein merkwürdiger Mensch,« meinte Jim nachdenklich, »aber diese Nachricht bestätigt seine Botschaft. Wo mag er jetzt sein? Wenn wir ihn finden können, ist es leicht, Miß Howett zu entdecken.«
»Der alte Bellamy ist in die Stadt gefahren – er kam heute morgen an,« sagte Spike. »Da Julius nun fort ist, kann man nur sehr schwer neue Nachrichten bekommen, denn der jetzige Pförtner ist eine armselige Aushilfe. Aber er hat mir wenigstens erzählt, daß Bellamy fortgefahren ist und in den nächsten Tagen nicht zurückkehren wird. Und das ist doch sehr seltsam, denn in den letzten acht Jahren hat er keine Nacht außerhalb der Burg verbracht. Julius hat mir davon nie etwas gesagt, das habe ich von dem Pförtner, Captain, ich habe jetzt einen wichtigen Anhaltspunkt für den Grünen Bogenschützen.«
Jim Featherstone war nicht in der Stimmung, im Augenblick mit ihm über den Grünen Bogenschützen zu diskutieren, aber er hörte so geduldig zu, wie er nur irgend konnte.
»Ein Mann, der Pfeil und Bogen so außerordentlich sicher handhabt, wie unser grüner Freund, muß sehr viel Übung gehabt haben,« erklärte Spike. »Ist Ihnen das noch nicht aufgefallen?«
»Ich habe noch nicht viel darüber nachgedacht,« sagte Jim ein wenig schroff. Er wollte seine Nachforschungen so bald wie möglich wieder aufnehmen, und Spike war ihm im Augenblick sehr hinderlich.
»Bogenschießen ist ein außergewöhnlicher Sport. In den Tagen des guten Königs Hokum, als die fröhliche Jugend ins Grüne hinauszog und alle Mädchen sich mit einem Manne sehen lassen wollten, der ein goldenes Abzeichen trug – das bedeutete nämlich im Mittelalter, daß er das Zentrum der Scheibe getroffen hatte – da war es noch etwas anderes.«
»Worauf wollen Sie eigentlich hinaus, Holland?«
»Ich meine,« sagte Spike sehr ernst, »daß wir den grünen Mann herausfinden werden, wenn wir die Gesellschaften durchsuchen, die das Bogenschießen pflegen. Ich bin eigens zur Stadt gekommen, um heute den Sekretär einer solchen Gesellschaft zu sprechen. Wahrscheinlich kann ich etwas von ihm erfahren.«
»Das glaube ich auch,« sagte Jim, der außerordentlich froh war, als er den Zeitungsreporter wieder los wurde.
Die Gesellschaft für Bogenschießen hatte ihre Räume in Regent's Park und Spike hatte Glück, daß er zu gleicher Zeit mit dem zweiten Sekretär dort ankam.
»Ja, ich kann Ihnen die Mitgliederlisten der letzten dreißig Jahre zeigen,« sagte der Beamte.
Spike brachte den ganzen Nachmittag damit zu, die Klubakten zu studieren.
Als er gerade einen Bericht über ein früheres Wettschießen durchlas, hielt er plötzlich erstaunt inne und ging wieder zu dem Sekretär.
»Der Name ist mir bekannt,« sagte Spike. »Ist er auch unter den Mitgliedern?«
Sie suchten alle Listen durch, ohne ihn zu finden.
»Es war ein offener Wettbewerb, das heißt, es konnten sich Nichtmitglieder daran beteiligen,« erklärte der Sekretär. »Es ist allerdings merkwürdig, daß der Name nicht in unseren Verzeichnissen steht, denn die Leistungen dieses Herrn müssen ganz außerordentlich gut gewesen sein. – Wie Sie sehen, hat er zehnmal hintereinander Zentrum geschossen. Kennen Sie ihn?«
»Ich glaube ja,« sagte Spike atemlos.
Endlich hatte er den Grünen Bogenschützen entdeckt!