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Bellamys Blick schweifte ins Leere, dann wandte er sich langsam zu Jim um.
»Das sind vermutlich die Wasserrohre – sie machen gewöhnlich ein solches Konzert, wenn wir die Zentralheizung anstellen.«
Jim wartete, ob sich der Schrei wiederholen würde, aber es blieb ruhig.
Er sah Bellamy scharf an, aber der hielt seinen Blick ruhig aus, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Was für ein Raum liegt hier drunter?« fragte er und zeigte auf den Fußboden.
»Hier drunter liegt kein Raum, die Kerker fangen erst unter der Halle an. Es führte von hier aus eine Treppe hinunter, die ist aber zugemauert worden.«
Jim ging aus der Bibliothek und untersuchte die Kerker persönlich. Er ging auch zu den tieferliegenden Zellen, aber er konnte nichts entdecken. Er fand nur den Abstieg der zugemauerten Treppe, von der Bellamy eben gesprochen hatte.
Er breitete den alten Grundriß der Burg auf dem Fußboden aus und überlegte.
Dem Plan nach stand die Bibliothek auf festem Boden – aber das wollte nicht viel bedeuten, denn er hatte schon viele Abweichungen festgestellt. Der Plan war sicher nur nach allgemeinen Angaben gezeichnet worden, ohne daß die Räume genau nachgemessen wurden. Die unteren Kerkerzellen waren überhaupt nicht eingetragen.
Er war noch mit diesen Untersuchungen beschäftigt, als er wieder einen schwachen Laut hörte. Als er aufschaute, sah er ein schwarzes, eisernes Rohr in einer Ecke des gewölbten Raumes. Er wartete und hörte wieder ein Geräusch, das wie ein klagender Seufzer klang. Es waren nicht dieselben Laute, die er vorhin in der Bibliothek vernommen hatte, aber Bellamys Erklärung konnte immerhin stimmen.
Enttäuscht ging er nach oben.
»Nun, haben Sie die Wasserleitung verhaftet?« fragte Bellamy ironisch. »Ich würde mich freuen, wenn Sie den Rohrleger festnehmen wollten, der die Röhren hier installiert hat, Mr. Featherstone.«
Jim lächelte, obgleich er nicht sehr fröhlich gestimmt war.
Die Polizeibeamten gingen quer durch den Park zurück zu dem Pförtnerhaus, Jim war der letzte.
»Hallo!«
Bellamy winkte ihn zurück.
»Sie haben noch etwas vergessen.«
Jim stellte den kleinen Koffer nieder, der seine bescheidene Ausrüstung enthielt, die er in die Burg mitgenommen hatte.
»Ich wüßte nicht, was ich vergessen hätte,« antwortete er.
Der alte Bellamy steckte seine Hand in die Tasche und zog einen Geldschein heraus.
»Nehmen Sie das.« Er drückte Jim einen Schein in die Hand. »Das ist Ihr Gehalt,« sagte Bellamy spöttisch.
Jim steckte die Fünfpfundnote widerwillig in die Tasche.
Im Dorf traf er Spike, der sich bitter über die Hinterhältigkeit von Julius Savini beklagte.
»Ich habe ihn doch gefragt, ob Sie es seien, und dieser nichtswürdige Kerl leistete einen Eid darauf, daß er den neuen Hausmeister nie vorher gesehen hätte!«
»Er meinte in diesem Beruf, Spike.« Featherstone nahm den aufgeregten jungen Mann am Arm und ging mit ihm zum »Blauen Bären«. »Immerhin bin ich für das verantwortlich, was er gesagt hat. Ich gab ihm ausdrücklich Anweisung, mich niemand gegenüber zu verraten, und ich erwähnte ganz besonders Sie unter den Personen, denen er es durchaus nicht mitteilen sollte.«
»Haben Sie irgend etwas herausgebracht? Als ich diesen Morgen in die Gaststube kam und die vielen kräftigen Leute sah, wußte ich gleich, daß etwas los war. So ein Polizist kann sich doch eigentlich nie verleugnen. Sie können ihn kleiden wie den Prinzen von Wales, oder ihm die Kleider eines Bettlers anziehen – der Kopf, der aus den Kleidern herausschaut, läßt sich unmöglich maskieren, der sieht immer nach einem Polizisten aus! Sagen Sie doch, haben Sie etwas in der Burg entdeckt?«
Featherstone schüttelte den Kopf.
»Gar nichts. Das heißt nichts, was den Aufenthalt von Mrs. Held verraten hätte.«
»Wer ist denn Mrs. Held?« fragte Spike begierig.
Jim wurde sich sofort darüber klar, daß die Geschichte unter allen Umständen geheimgehalten werden mußte. Er erklärte die Zusammenhänge, so gut er konnte, ohne den Namen Valerie Howetts zu erwähnen.
Spike pfiff.
»Eine Gefangene? Sehen Sie einmal an, das wäre eine glänzende Geschichte, wenn ich darüber schreiben dürfte. Sagen Sie einmal, lieber Featherstone,« schmeichelte er, »kann ich nicht wenigstens die Tatsache erwähnen, daß die Polizei eventuell der Meinung war, daß eine Frau in den kalten, dunklen Kerkern von Garre Castle gefangengehalten wird?«
Jim Featherstone ging aber nicht darauf ein.
»Wenn Bellamy deshalb aufsässig wird, könnte es schlimm genug werden. Jetzt haben wir Aussicht, daß er sich wegen der Sache nicht rührt, wenn Sie aber Einzelheiten der polizeilichen Haussuchung veröffentlichen, dann bringt er die Geschichte sicherlich vor Gericht.«
Jim Featherstone ließ sein Gepäck im »Blauen Bären« und war froh, als er Spikes neugierigen Fragen entrinnen konnte.
Valerie stand gerade an dem Fenster ihres Schlafzimmers, als sie ihn den Gartenweg entlangkommen sah, der zur Haustür führte. Sie eilte nach unten, um ihn zu begrüßen.
»Valerie, ich habe einen guten Posten verloren.«
»Hat er herausgebracht, wer Sie waren?« fragte sie enttäuscht.
»Nein, das nicht. Aber unglücklicherweise habe ich bei ihm auch nichts herausgefunden. Wir haben in der Burg heute morgen polizeiliche Haussuchung gehalten und haben alles genau durchstöbert. Es ist Ihnen wohl bekannt, daß wir in England Privatgrundstücke nicht ohne weiteres durchsuchen können, es muß ein amtlicher Befehl, der von einem höheren Beamten unterzeichnet ist, vorliegen. Einen solchen dienstlichen Auftrag erhielt ich heute morgen durch die Post. Scotland Yard hatte ein Dutzend Beamte zum Dorf geschickt, bevor ich aufgestanden war. Es tut mir sehr leid, daß ich den Grünen Bogenschützen nun aus weiterer Entfernung beobachten muß.«
Sie sah ihn schnell an.
»Haben Sie ihn denn schon in der Nähe gesehen?« fragte sie mit leiser Stimme.
»Nein,« antwortete er erstaunt. »Das sagte ich doch auch nicht. Sicher war er in jener Nacht im Schloß, als Sie in den Park von Garre Castle kamen.«
Wie konnte er nur behaupten, daß er nichts von dem Grünen Bogenschützen wußte!
»Jim, ich möchte Sie etwas fragen,« begann sie ruhig. »Haben Sie sich aus irgendwelchem Grunde, um einen bestimmten Zweck zu erreichen oder um Bellamy zu beobachten, oder weil Sie einen Auftrag der Polizei ausführten, jemals als Grüner Bogenschütze verkleidet? Einmal haben Sie es bestimmt getan!«
Das Erstaunen, das sich in seinen Zügen ausdrückte, war nicht gespielt.
»Niemals. Selbst im Traume hätte ich das nicht getan, nicht einmal, um den alten Mann einzuschüchtern. Ich hätte ja dadurch auch nichts gewinnen können.«
»Aber Sie sagten, Sie hätten den Grünen Bogenschützen nicht gesehen. Wie war das denn in jener Nacht, in der Sie mich hierherbrachten?«
Er sah sie erstaunt an und zog die Stirne kraus.
»Ich weiß nicht, was Sie meinen. Ich spionierte gerade ein wenig im Park umher, als Bellamy seine Hunde hinter Ihnen her hetzte. Ich maß die Temperatur in dem Boden rings um die Außenwände des Schlosses. Ich mache keinen Scherz – das war eine der ernsthaftesten Beschäftigungen, die ich jemals ausführte. Als die Hunde über den Rasen liefen, vermutete ich, daß Sie verfolgt wurden, und eilte, so schnell ich konnte, hinter Ihnen her.«
»Dann hörte ich also Sie hinter den Hunden?«
Er nickte.
»Ich verlor Sie einen Augenblick aus den Augen, aber plötzlich kamen Sie wieder ins freie Gelände. Dann sah ich einen toten Hund auf dem Rasen und Sie lagen dicht daneben. Aber vom Grünen Bogenschützen war nichts zu sehen. Der Hund war allerdings von einem Pfeil getötet worden. Mein erster Gedanke war, Sie in Sicherheit zu bringen. Ich hob Sie auf und trug Sie zur Mauer von Lady's Manor. Ich vermutete, daß ich dort eine Leiter finden würde. Es hat mich viel Anstrengung und Zeit gekostet, um Sie über die Mauer ins Haus zu bringen. Als ich Sie dann aufs Sofa legen wollte, verlor ich meinen Manschettenknopf, denn ich war an einer Sofaecke hängen geblieben. Mindestens zehn Minuten habe ich danach gesucht.«
Sie lächelte ein wenig, als sie an die vielen abgebrannten Streichhölzer dachte, die das Mädchen auf dem Boden gefunden hatte. Nun wußte sie ja, wer der Missetäter war und wozu die Streichhölzer verwendet worden waren.
»Ich ging dann wieder zur Burg zurück und fand glücklicherweise die Haupttür offen, so daß mir das Hinaufklettern an einem Seil außen an der Mauer erspart wurde.«
Sie seufzte erleichtert auf.
»Dann sind Sie also nicht der Grüne Bogenschütze?«
»Um Himmels willen, nein, ich bin ein in Ungnade gefallener Hausmeister, außerdem bin ich ein Polizeibeamter, der jetzt wahrscheinlich in böse Verlegenheit kommen wird – aber niemals bin ich der Grüne Bogenschütze!«
»Haben Sie nichts gefunden von –?« Sie beendete die Frage nicht.
»Nichts, das Sie interessieren könnte. Ich fand einige Briefe seines Bruders, das war alles.« Er erwähnte nichts von der neunschwänzigen Katze.
Bald darauf ging er wieder zum »Blauen Bären« zurück und überlegte sich, was er jetzt am besten tun könnte. Sein Wagen, den er bei seinen täglichen Ausflügen nach London benützte, war im nächsten Dorf untergestellt. So oft er konnte, war er aus der Burg entwischt und hatte es Julius überlassen, seine Abwesenheit zu entschuldigen. Mr. Bellamy gab seinen Hausmeistern einen freien Tag in der Woche, und Savini hatte die Aufgabe übernommen, immer zu erklären, daß heute Philipps freier Tag sei, wenn Bellamy nach ihm fragte.
Als Valerie damals zu Besuch kam, war er in der Burg, aber aus leicht begreiflichen Gründen hatte er es vorgezogen, nicht zu erscheinen. Erst als Valerie mit dem Alten allein sprach, hatte ihm Savini einen Wink gegeben. Und während sich Julius Spike in seinem eigenen Zimmer beschäftigte, konnte Jim über den Flur gehen und den richtigen Moment wählen, um dazwischenzutreten.
»Ich habe mich entschlossen, nach London zurückzukehren, aber ich werde ab und zu hier sein und mir auch ein Zimmer im ›Blauen Bären‹ mieten. Spike, Sie könnten die Polizei bei ihrer Arbeit ein wenig unterstützen und mir Nachricht geben, wenn etwas Außergewöhnliches passiert. Außerdem lasse ich noch einen Beamten hier zurück.«
»Um Bellamy zu bewachen?«
»Nein, nur um hier im allgemeinen aufzupassen.«
»Dann soll er also Miß Howett bewachen,« sagte Spike laut.
Auf dem Wege zur Stadt überdachte Jim Featherstone das ganze Problem von allen Seiten. Es war Gefahr im Verzug, dessen war er sicher, und die größte Gefahr drohte Valerie Howett. Immer wieder brachte er Coldharbour Smith hiermit in Verbindung, und er nahm sich vor, daß sein erster Besuch in London dem »Goldenen Osten« gelten sollte.