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30

Wenige Tage nach ihrer Rückkehr wurde Constanze zu früher Morgenstunde von einer Welle von Geräuschen geweckt, die durch das Haus flutete. Türen schlugen, Schritte hasteten die Treppen hinauf, es wurde telephoniert. Sie hörte an der Tür klopfen und Dr. Reinhardts Stimme mit der Bitte, hereinkommen zu dürfen … Erschreckt bat sie ihn, einzutreten.

»Das Kleine ist sehr krank«, sagte er, »Scharlach – der Arzt war soeben da – wir hatten eine böse Nacht. Der Arzt teilte unsere Ansicht, daß es besser ist, Sie wohnen außerhalb, bis die Krankheit abgeklungen ist. Wir möchten nicht die Verantwortung tragen, Sie hier zu lassen.«

»Ich werde selbstverständlich abreisen«, sagte Constanze. Sie saß im Bett, die Decke gegen die Brust gedrückt. Auf ihrem Lager lagen, wie stets, Hefte und Bücher ausgebreitet.

»Aber keinesfalls, gnädige Frau«, sagte Reinhardt erregt. »Der Arzt sagt, man kann die Entwicklung noch nicht übersehen. Vielleicht ist das Kind in zwei, drei Wochen gesund. Ich habe schon für Sie ein Zimmer im Hotel Isabelle bestellt. Es ist das angenehmste Hotel für Deutsche, geleitet von einem ehemaligen deutschen Marineoffizier und seiner Frau.«

»Aber ich sollte dann doch reisen …«, unterbrach Constanze erneut.

»Tun Sie uns das nicht an«, rief Reinhardt. Er war schon wieder die Treppe hinabgeeilt …

Constanze packte. Da sie nicht viele Sachen hatte, packte sie alles ein und zog in die Avenida del Catolica. Das Hotel lag in der Stadt bei der Humboldtakademie.

Constanze fühlte sich in der ersten Stunde heimisch durch die reizende Art der Inhaber, die sie bei den Mahlzeiten an ihren Tisch nahmen. Abends füllte sich der kleine Speisesaal mit Deutschen, meist Angestellten großer Häuser, die hier ihre Niederlassung hatten, und es war schön, deutsche Laute um sich zu hören.

Das Hotel war ein alter spanischer Bau, die Räume darum hoch und groß, die Eintrittshalle von gewaltigen Ausmaßen. Ihr Zimmer lag im ersten Stock nach hinten. Ein Fahrstuhl führte zu den oberen Stockwerken und zu dem Dach hinauf, das einige kleine Zimmer umgaben. Aber diese waren besonders begehrt, denn aus diesen erblickte man den südlichen Sternenhimmel, und trat man hinaus, so fiel das Auge auf die furchtbaren glitzernden Wächter des mexikanischen Tales. Hier war auch das kleine Zimmer, das Hartmann stets bewohnte, wenn er zum Wochenende in die Stadt kam.

Constanze fuhr täglich mit dem Fahrstuhl hinauf. Sie setzte sich auf das Geländer des Daches. Die Straßen waren wie dunkle Abgründe, aus denen der brausende Lärm der Großstadt heraufdrang. Um sie her glänzten flache unebene Dächer, hier und da sah man einen Patio – Geranien – Telephondrähte. Vor ihr lagen die Türme einer alten Kirche. Ihre Kuppeln glitzerten blau, gelb und weiß. Es waren die berühmten keramischen Ziegel aus Pueblo, die viele Kirchenkuppeln Mexikos bedeckten. Und über allem ragte gegen einen türkisfarbenen Himmel Ixtaccihuatl, die weiße Frau. Wie deutlich sah man von hier den gelagerten Körper, die auf der Brust gefalteten Hände und die Füße, die unter der Schneedecke sich abzeichneten. Wirklich, der Ixtaccihuatl war eine schlafende Frau, eine Frau im Todesschlaf. Aber der Tod war hier nicht Tod, er war ein anderes, unsichtbares Leben. Constanze hörte ganz deutlich die klingende, schimmernde Gegenwart des Todes, die hier allgegenwärtig war.

Eines Nachts träumte ihr, Christian träte auf sie zu. Sie konnte ihn nicht erkennen. Sie wußte nur, daß es Christian war, denn die Gestalt trug Christians Hände. In diesen Händen hielt er ihr einen Brief entgegen, den sie zitternd erfaßte, aber ihr gebrach es an Kraft, ihn zu öffnen. So schaute sie nur den weißen Umschlag an und sah durch ihn hindurchleuchten die Worte ›komm – komm – komm‹. – Da wußte sie, alles war gut – und sie erwachte …

Bestürzt und noch in ihrem Traum befangen, vermochte sie sich nicht zurechtzufinden. Ganz verstört tastete sie zur Nachttischlampe und richtete sich auf … Da wußte sie, daß es ein Traum war, der ihr nur das besagte, was sie zu übertönen suchte.

Auf dem Nachttisch lag Christians letzter Brief, den sie vor dem Einschlafen noch einmal überlesen hatte, immer voll Sehnsucht, daß sie etwas von dem zwischen den Zeilen entdeckte, das ihre Seele rief.

Sie saß in ihrem Bett; die weißgetünchten hohen Wände des engen Raumes, das Fenster mit den Milchglasscheiben verstärkten die Gefühle namenloser Einsamkeit und Verlorenheit.

Wo bin ich – wo treibe ich hin – wo ist mein Kind – meine Heimat –, ich muß, muß umkehren, dachte sie. Verzweiflung übermannte sie. Schluchzend barg sie ihr Gesicht in den Händen und wünschte, daß es Tag sei.

Aber sobald sie das Licht ausgeschaltet hatte, vernahm sie die Stimme der Erde, sank sie ein in die geheimnisvolle Welt, die sie umgab. Mexiko war ein Panther, den man gekettet hielt. Bald würde die Kette reißen, und der rote Mann stand bis zum Nabel in seiner Erde – vernichtete alles, was vierhundert Jahre Zivilisation ihm aufgedrängt hatten, und ging wieder ein in das Reich der Götter. Man spürte, Huitzlipochtli kam, – der Messias wurde täglich erwartet. Die Kirchen waren geschlossen. Der Gottesdienst war verboten. Eine kommunistische Minderheit versuchte, wie Reinhardt es ihr ja gesagt hatte, dem Indianer eine Staatsform aufzudrängen, der er nicht gewachsen war. So kämpften drei Elemente gegeneinander, denn der dritte Faktor war die Herrschaft der weißen Rasse, die immer noch glaubte, was sie glauben wollte, und jene Entwicklung abstritt.

Man hörte immer mehr von Überfällen auf Weiße, die ermordet wurden, – von Haziendabesitzern, die ermordet wurden, – das Land wurde enteignet. Kommunen wurden gebildet – sogenannte Ejidos – Gemeindeäcker des Stammes. Die Peone, die Landarbeiter, sangen, wenn sie nachts um die Feuer hockten und die roten Hände wärmten, die wie rotes Blut leuchteten:

No quiero mas que tener
Lo que me quito el patron
Un rancho y una mujer
Un coyot cimanon.

(Ich will ja nicht mehr,
als was mir nahm der Herr.
Ein Stück Land und ein Weib
und ein Hündchen zum Zeitvertreib.)

Ja – sie wollten – sie sollten ihre Erde wiederhaben, die ihnen der Weiße genommen hatte.


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