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13

Constanze traf Anna in der Brienner Straße. Sie erblickte sie in der üblichen Situation: sie stand da und hielt Ausschau nach Lumpazius. Lumpazius war das Enkelkind der Familie Grautoff, wie einer der Jungen den ebenso mißratenen wie geliebten Drahthaarigen zu nennen pflegte, der, ewig schmutzig, nie gehorchte, und stets verlorenging. Er war ein bildschönes Tier von überschäumendem, unberechenbarem Temperament. Er konnte Anna zur Verzweiflung bringen, weil er nie aufpaßte und stets Gefahr lief, unter einen Wagen zu geraten. Soeben zeigte er seiner Herrin noch seine Liebe, indem er sie mitten auf der Straße mit Heftigkeit überfiel und völlig beschmutzte. Fünf Minuten später hatte er sich schon mit einem Wolfshund verbissen. Ein Kreis Zuschauer sammelte sich, nahm Partei und … beschimpfte Anna, daß sie diesen Köter – armer Lumpi, solch Ausdruck bei solchem Stammbaum – frei herumlaufen ließ.

Anna stand dabei, schämte sich ihres »Enkelsohns« und versuchte vergeblich, ihn loszureißen! Als es endlich gelungen war, war er darauf wieder abhanden gekommen, weil er wieder irgendeine Hündin entdeckt hatte, die bestimmt nicht in die Familie Grautoff paßte. Wenigstens dreimal im Jahre mußte man ihn aus dem Schlachthof holen, wo der arme Findling abgeliefert worden war. Man sollte meinen, daß er selig gewesen wäre, wenn er dann Anna oder eines der Kinder erblickte oder sein Körbchen sah, in das er sofort sprang. Aber nein, er war dann jedesmal verstimmt, knurrig und sah jeden böse an. Er war offensichtlich beleidigt, daß er eine Nacht im Schlachthof verbracht hatte, die dortige Atmosphäre sagte ihm nicht zu, das Essen war sicher anders gewesen als im Hause Grautoff. Er war tief verletzt, daß man ihn nicht früher abgeholt hatte, anstatt dankbar zu sein, daß er nicht geschlachtet worden war, was die Familie ihm des öfteren androhte, wenn seine Unbotmäßigkeit jedes Maß überschritt.

Constanze mußte lächeln, als sie Anna erblickte. Anna war wie immer hilflos und erschien selbst wie verloren, denn Lumpazius war wieder einmal unauffindbar. Sicher traf Anna auch etwas Schuld, sie konnte nicht aufpassen noch ihn an die Leine nehmen.

Ihr eigener Freiheitsdrang schien Lumpazius zu verstehen. »Es ist kein Wunder, er ist mein Enkelsohn«, sagte sie entschuldigend, »er hat das von mir geerbt«, und fügte zerknirscht hinzu: »Na ja, Conny, nun muß ich morgen wieder zum Schlachthof, und Lumpazius ist wieder verstimmt!«

»Wollen wir noch suchen?« fragte Constanze bereitwillig und sah sich um, aber Anna meinte, es sei hoffnungslos, und bat Constanze, doch mit ihr eine Tasse Kaffee zu trinken.

»Also du willst wirklich nach Mexiko?« fragte sie, »ich war sprachlos, als du es mir telephonisch mitteiltest. Ich finde die Einladung großartig und würde sie unbedingt annehmen. Eine längere Trennung ist in solchen Fällen meist das beste.«

»Du kennst sicher Mexiko und du mußt mir Literatur geben und noch vieles sagen«, bat Constanze.

»Es sind schon viele Jahre her, daß ich dort war«, meinte Anna und öffnete die Tür zum Carlton-Teeraum.

Aber der erste, der vor ihr den Raum betrat, war Lumpi, der – wie, wissen die Götter – Anna gefunden hatte und mit Freudensprüngen eilig durch die Tür schoß, sehr eilig, um jeglicher Auseinandersetzung zu entgehen!

Anna hatte natürlich die Hundeleine vergessen und band Lumpi zu seinem größten Ärger mit ihrem langen Gürtel an den Garderobehaken an. »So«, sagte sie diktatorisch, »jetzt kannst du mal über deine Sünden nachdenken.«

»Jetzt habe ich Zeit«, sagte Anna, »ja, Liebste, ich kann dir, wie ich schon sagte, nicht viel über das gegenwärtige Mexiko sagen. Als ich dort war, herrschte das ›goldene Zeitalter Porfirio Diaz‹. Soviel ich weiß, findet jetzt eine Art Rückindianisierung statt, eine Art Kommunismus – Haß gegen die weiße Rasse. Du mußt dich erkundigen, ob es auch ganz sicher dort ist.«

»Ich nehme an, sicher genug für einen kurzen Aufenthalt wird es schon sein«, meinte Constanze, »sonst hätte Dr. Reinhardt mich nicht eingeladen.«

»Du fährst natürlich via Vera Cruz mit dem Schiff.«

»Nein, über New York. Ich will Betty sehen, die in der Inflationszeit hinüberging. Sie war meine beste Freundin. Ihre Berichte sind sehr lakonisch und klingen flügellahm. Ich denke, ich muß nach ihr sehen. Sie wird sich sicher freuen.«

»Ist der Weg nicht viel weiter?«

»O nein, ungefähr acht Tage bis New York, dann ungefähr vier Tage durch die Südstaaten und Texas, in El Paso über die Grenze. Dann knapp drei Tage durch die Wüste.«

»Diese Gegend kenne ich nicht«, meinte Anna. »Wie regelst du die Sache finanziell?«

»Die Schiffs- und Eisenbahnkarten kann ich hier mit deutschem Geld bezahlen, zudem darf ich fünfzig Dollar an Devisen mitnehmen, das wird – das muß reichen.«

»Und wie lange bleibst du?«

Constanze machte eine vage Bewegung mit der Schulter … Die Freundin verstand: »Na, ungefähr?«

»Nun, Dr. Reinhardt sagte: einige Monate. Ich möchte sagen, drei bis vier Monate – was weiß ich – es hängt wohl alles davon ab, wie es sich hier entscheidet. Wird mein Schicksal hier negativ ausgehen, so weiß ich noch nicht, wann ich zurückkomme; fahre dann vielleicht über Ostasien zurück und direkt nach Berlin.«

»Und das Rehlein?«

»Nun, das soll ja sowieso bis Ostern im Allgäu bleiben. Und ich muß doch erst aufbauen, in Berlin Fuß fassen, ehe ich das Rehlein holen kann.«

»Ich verstehe – weiß die Kleine etwas von eurem Konflikt?«

»Ich weiß es nicht, Anna, gesagt habe ich natürlich noch nichts, denn solange ich noch einen Funken Hoffnung habe, dem Kinde das Elternhaus zu erhalten, darf ich das Rehlein nicht belasten. Aber ich fürchte schon, daß sie ahnt, wie schwer ich zu tragen habe.«

»Umsonst ist es nicht das Rehlein«, meinte Anna sanft. »Ja – ja, das Rehlein – es ist eine glückliche Mischung von euch beiden!«

Constanze saß da und spielte mit dem Löffel, das unvermeidliche Lodenhütchen war ihr etwas schiefgerutscht, das Halstuch ebenfalls. Sie sah so jung aus. Wie ein junges Mädchen, dachte Anna.

»Anna? –« Es kam wie aus tausend Tiefen.

»Ja, Kindl?«

»Ich habe eine Bitte an dich. Willst du sie mir erfüllen?«

»Wenn ich kann, herzlich gern«, sagte Anna ernst.

»Sieh, ich gehe weit – sehr weit fort. Du allein weißt weshalb. Ich kann hier nicht warten, ewig warten. Es mag sich hier viel zutragen. Du siehst ja Christian öfters – auch Elena – sprichst Freunde unseres Kreises. Wenn du etwas hörst, das dich annehmen läßt, daß ich die Schlacht verloren habe, bitte, schreibe es mir. Ich möchte nicht so unvorbereitet sein, mich nicht noch mit Hoffnungen tragen, wenn hier alles schon entschieden ist.«

Anna zögerte.

»Warum zögerst du?« meinte Constanze befremdet.

»Weil – nun, weil ein Außenstehender solche Dinge, die er sieht und hört, doch oft falsch deutet, und man muß mit solchen Berichten äußerst vorsichtig sein!«

»Ja, Anna, ich verstehe, aber du bist ja so gewissenhaft. Ich will ja nicht, daß du mir jedes Gerücht mitteilst, nur wenn du glaubst, daß Entscheidungen stattgefunden haben. Versprich es mir!«

»Ja«, sagte Anna zögernd. Sie gab das Versprechen nicht gern, spürte Constanze. Trotz ihrer übersprudelnden und lebendigen Art war Anna sehr vorsichtig in der Beurteilung menschlicher Verhältnisse, weil sie das Leben kannte und wußte, wie oft der Schein trog.

»Ich werde – auch wenn ich in einem anderen Erdteil bin – immer in Christian leben«, sagte Constanze plötzlich. Es kam ganz unmittelbar. »Ich glaube«, fuhr sie fort, »ich werde das immer tun, auch wenn er Elena heiratet. Es wird mir wichtig bleiben, wie er lebt, wie sein ferneres Leben sich gestaltet. Ich habe immer in ihm gelebt«, meinte sie schlicht, »nicht nur neben ihm.«

»Keiner weiß das besser als ich, Kindl«, antwortete Anna. »Kennst du die Worte: ›in einem Menschen leben und mit einem Menschen leben ist nicht dasselbe. Man kann in einem Menschen leben, ohne mit ihm leben zu können!‹ Ich denke, es paßt auf dich!«

»Ja, Anna, – ganz und gar.« Sie wollte keine weiche Stimmung aufkommen lassen, knöpfte ihre Jacke zu und erhob sich unvermittelt. Auch Anna suchte sich zwischen den Tischen einen Weg, um Lumpazius zu holen, der neben der Garderobenfrau saß, mit der er sich unterhielt.


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