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21

Reinhardt begleitete sie oft. Aber Constanze fühlte, sie durfte ihn nicht allzuviel in Anspruch nehmen. Er arbeitete an einem größeren Werk, das seiner Vollendung entgegenging. Er hielt Vorlesungen an der Humboldtakademie, wurde dauernd von Forschern, Kunsthistorikern und Archäologen aufgesucht. Sonnabends und sonntags, wenn er frei war, widmete er sich ihr ganz, und sie spürte, daß er sich darauf freute.

»Seit Sie da sind«, sagte Marianne in einer kindlichen, offenherzigen Art, »ist mein Mann viel zufriedener – froher.«

»Seit Sie da sind«, sagte Reinhardt zu ihr, »fühlt sich meine Frau weniger einsam und unglücklich.«

So lebte jeder sein Leben, und sie bildeten doch eine Harmonie zu dritt.

+++

Marianne führte ein besonderes Dasein. Sie lebte nicht in Mexiko. Sie lebte in der Vergangenheit und in der Zukunft. Stundenlang konnte sie dasitzen und zuhören, wenn Constanze von München berichtete, von Oberbayern sprach. Sie lauschte, wie Kinder lauschen, die in ein Märchen eingehen. Sie selbst sprach nur von der Zukunft. Wenn ich erst wieder in Deutschland lebe – wenn ich erst wieder in München bin, damit begann jeder Satz, jeder Gedanke.

Als Constanze der jungen Frau gegenüber ihre Verwunderung über ihre Einstellung zum Ausdruck brachte und ihr riet, doch den Forschungsarbeiten ihres Mannes Interesse entgegenzubringen und zu versuchen, jene ferne Welt kennenzulernen, begegnete sie einer seltsamen Heftigkeit: »Ich hasse diese Welt, Frau Constanze. Ich fürchte mich vor diesen unheimlichen Menschen mit den unmenschlichen Augen. Ich verabscheue diese Götzen. Sahen Sie je solche Ausgeburten furchtbarster Phantasie? Sehen Sie doch den Totensonntag. Haben Sie so etwas Schauerliches schon gesehen? Nun, kommenden Sonntag werden Sie es erleben. Es ist ein Festtag, kein Trauertag.«

Nein, Marianne konnte es auch nicht begreifen, was die indianische Seele am Tage ihrer Toten empfand. Bei einem Volke, in dem vivera und muera so eng beieinander lebten, daß sie kaum eine Grenze zu erkennen vermochten, lebte ja der Tote noch unter ihnen. Ein Leben, – was war ein Leben! Dutzende von Kindern gebaren diese unschönen indianischen Frauen. Sie gebaren unausgesetzt. Die Natur hatte es nicht nötig, das Weib schön zu gestalten, um den Zeugungsdrang des Mannes zu reizen. Die Ehe hatte, wie Reinhardt ihr erzählte, etwas Wunderbares, Geschlossenes – etwas von einer Art Kameradschaft. Es war rührend zu beobachten, wie auf den Märkten, in den camions, vor den Adobes der Mann stumm neben seiner stummen Frau saß – stundenlang. Nur seine Augen verfolgten ihr Tun. Sie waren wie zwei Tiere, ein Männchen und ein Weibchen vor ihrem Bau, zwei Vögel vor ihrem Nest. Ehebruch sollte es kaum geben. Man hatte nie davon gehört. Man wußte nur von der Todesstrafe, die manche Stämme darüber verhängten.

Starb ein Kind – buena, man hatte noch ein angelino, ein Englein mehr, das für einen betete. Katholischer Glaube als Firnis verquickte sich mit ihren Kulturen. Man weinte ein bißchen, man war einen Augenblick betroffen, dann vergrub man das Kind sofort. Das Leben gab neue.

Am Totensonntag begleitete Reinhardt Constanze zum Friedhof. Das Zuckergebäck, das die Straßenhändler verkauften, hatte die Form von Totenschädeln, Skeletten und Gebeinen. Das Spielzeug für die Kinder waren Skelette als Hampelmänner. Zog man an einem Faden, so begann das Skelett zu tanzen, und das bambino freute sich. Man aß die Symbole des Todes und dachte der Dahingegangenen, der Vorausgegangenen, die noch unter ihnen waren und zusahen und sich mit ihnen freuten. Vor vierhundert Jahren waren zehntausend Kinder, mit Blütengirlanden behangen, die Stufen der Sonnenpyramide von Tetuhuán, die noch unverändert vor den Toren der Stadt lag, hinaufgestiegen. Man hatte sie jubelnd geopfert. Das Herz wurde zu Broten verbacken. Das Blut troff von den Stufen und wurde getrunken, um den Göttern näherzukommen. Und wie in der katholischen Religion durch die Wandlung die Hostie zum wirklichen Fleisch und der Wein zum wirklichen Blut des geopferten Christus wird, so sah der Indianer keinen Unterschied. Er war kein Menschenfresser. Wenn er Menschenfleisch aß, so geschah es stets zu demselben religiösen Zweck. Der katholische Glaube hatte keine Wurzel gefaßt. Man sah es so recht an diesem Fest der Toten. Es war nur der Pomp, der den verwirrten Indio in die Kirche zog.

»Den Begriff der Sünde«, sagte Reinhardt, als sie vor dem Friedhof anlangten, »kennt der Indio überhaupt nicht. Wen wollte Christus mit seinem Blute entsühnen? Der Mann, der stiehlt, dem gibt man etwas auf den Kopf … Die Familie des Mannes, der ermordet wurde, wird sich an dem Mörder rächen. Da hat kein ›Erlöser‹ ihn zu schützen. Die Medizinmänner werden ihn zu Tode sprechen. Dann siecht er dahin … Die okkulten Kräfte waren noch von mysteriöser Macht bei diesem Volke. Man wußte um sonderbare Dinge, die sich täglich bei Indianerstämmen ereignen, die abseits und unzugänglich für Weiße lebten.«

Die alten Mexikaner hatten in ihrer Religionslehre eine Erzählung, die eine merkwürdige Ähnlichkeit mit der Empfängnis der Jungfrau aufwies: Die Mutter des Kriegsgottes war sehr fromm und ging täglich in den Tempel, um zu beten. Plötzlich, als sie im Gebet versunken war, kam ein bunter Ball aus Kolibrifedern. Sie ergriff ihn und barg ihn in ihrem Busen. Kurze Zeit darauf ward sie schwanger, gebar einen Sohn, der mit Kriegshelm, Bogen und Pfeil aus ihrem Leib stieg und am Fuß die Federn trug. »Danach«, erzählte Reinhardt, »wurde er Huitzlipochtli genannt, d. h. Kolibri mit Federn am linken Fuß. Auf der Brust trug er eine Schlange mit Edelsteinen. Er fuhr eines Tages in einem Boot gen Osten und verschwand, versprach aber wiederzukehren. Man wartete täglich auf ihn. Cortez war gekommen, doch hatte er diese Erwartung furchtbar enttäuscht. Huitzlipochtli mußte täglich kommen. Er würde sie von der Herrschaft des weißen Mannes befreien.«

Auf dem Friedhof herrschte das Treiben eines Volksfestes, aber es wirkte durch das Schweigen geisterhaft. Das Schweigen hatte etwas Tierhaftes, Grausames, Leeres, Gespenstisches. Die Indios hockten vor den Gräbern, die beladen waren mit kleinen Tellern und Schüsseln. Diese enthielten die Speisen, die sie den Toten darboten. Der Grabhügel ward zu einem Tisch, um den die Angehörigen schweigend hockten und schweigend aßen. Hier und dort brannten Kerzen. Die Speisen aus der für den Toten bestimmten Schüssel wurden zuletzt aufgegessen, wenn sie den Verstorbenen daran gesättigt glaubten.

Und dann, ehe man sich versah, war das Fest zu Ende. Der Friedhof lag leer … Tierhaft geschmeidig und lautlos war der Indio davongeglitten. Die Frauen hatten sich die Kinder auf den Rücken gebunden, sie waren wieder ins Leben zurückgekehrt, das für sie an einer kaum sichtbaren Grenze zum Tode lag.

Über der niedrigen Friedhofsmauer sah man im abendlichen Licht die schneebedeckte Gestalt der »schlafenden Frau«, den Ixtaccihuatl. Gleich einer dunklen Schlange stieg eine schmale Rauchwolke empor und ringelte sich gen Himmel … zerfetzte Bananenblätter raschelten im Winde. An einem Grab stand noch eine Frau in schwarzem Rock, der ihr bis auf die nackten Füße fiel. Der blaue Rebozo verhüllte ihren Kopf. Sie stand bewegungslos und stumm wie eine Statue, die Hände geöffnet, wie die Bittenden auf den Bildern der Primitiven.


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