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1

Beide Hände hielt Constanze auf der kleinen abgeschabten Handtasche, die ihr im Schoß lag.

Es war so seltsam: da lagen die beiden unbekleideten Hände, die einen müden Ausdruck trugen, auf jener Tasche, die sie tagtäglich gebrauchte, die braun und unscheinbar aussah, die nichts enthielt als eine Börse mit wenig, sehr wenig Kleingeld, das Taschentuch, den Hausschlüssel und das Fahrkartenheft der Straßenbahn. Es war also eine ganz gewöhnliche Tasche. Aber heute barg sie noch einen Brief, der wiederum ein sehr nüchternes, alltägliches Gesicht zeigte, der sogar mit Schreibmaschine geschrieben war, und der doch die eigenartige Fähigkeit besaß, Constanze eine neue Quelle der Kraft zu erschließen.

Ja, es war wirklich sonderbar. Wenn Constanze an diesem Nachmittag, da all die vielen Menschen um sie herum saßen, standen und plauderten, an jenen Brief dachte, so umklammerte sie die Tasche fester, und ein Gefühl, das ihr abhanden gekommen schien, überfiel sie von neuem: die kleinen Flügel des Lebensmutes, die zwischen ihren Schulterblättern saßen und die sie zeitlebens gespürt hatte, die aber seit kurzem geknickt und kraftlos herniederhingen, hoben sich und wurden wieder regsam. Constanze wußte, daß sie wieder atmen konnte. War es wirklich so weit mit ihr gekommen, überlegte Constanze ein wenig benommen, daß sie nicht mehr frei und tief und unbeschwert atmen konnte?

Ja, es war wohl so, bestätigte sie sich. Sie gab sich gleichsam einen kleinen Stoß und dachte beschämt: Es ist ganz und gar unmöglich, daß ich hier so sitze, versunken und abseitig in meine Gedanken versponnen, da man Christian feiert oder vielmehr das Haus, das er gebaut hat.

Sonderbar war es, wie man auftauchen konnte und plötzlich wieder bis zur Oberfläche des Bewußtseins vorstieß. Wie man gleichsam Neuland entdeckte und die Umgebung erneut wahrnahm …

Constanze war immer ein wenig schweigsam, sobald sie sich in einem größeren Kreise befand. Der Gedankenaustausch von Mensch zu Mensch, der lag ihr, da gab sie sich, da konnte sie sich geistig und seelisch öffnen, – aber Geselligkeit – oh, wie sie das Wort allein schon ablehnte. Schon bei ihr zu Hause fingen die Schwierigkeiten und Hemmungen an: »Christian, was soll ich anziehen?«

Als ob man die Lösung einer mathematischen Aufgabe von ihm verlangte, so hilflos stand Christian jener Frage gegenüber.

»Bleib, wie du bist«, war nach längerer Pause die ständige Antwort, die beide Teile befriedigte.

Und dann ging sie – warum auch nicht, man lebte ja in München – in ihrem traditionellen grauen Lodenkostüm mit den grünen Eichenlaubaufschlägen und dem kleinen Gemsbock, der oberhalb des Rockschoßes zierlich und lustig auf die Taille gestickt war, schlang als einzige Variation noch ein buntes, seidenes Bauerntuch um den Hals, stülpte den kleinen grünen Hut mit dem Gemsstutz auf das blonde, schräggescheitelte Haar und war dankbar, daß Christian so mit ihrem Anzug zufrieden war.

Ja, es ist schon so, überlegte Constanze und sah umher: heute hat für mich alles ein anderes Gesicht und alles ist leichter – tragbarer: die vielen eleganten Frauen in ihren Cocktailkleidern, die Bridgetische, die in den Nebenräumen warteten, die dauernd wechselnden Grammophonplatten, die die neuesten Schlager spielten … Constanze wußte, wie wenig Anna, der Gastgeberin, dies alles lag. Aber wie klug sie diese Zugeständnisse machte. All diese reichen, sorglosen, zum Teil unbefriedigten Frauen sollten nicht umsonst mit Christian bekannt werden, sein Werk sehen.

Wirklich, alles war heute anders, nicht mehr so herzbeklemmend, so hoffnungslos wie in letzter Zeit.

Ihre Blicke suchten Christian. Er stand am Kamin. Und ihre Gedanken, die in letzter Zeit so zügellos und sprunghaft abirrten, schweiften weiter: er hatte recht, die Kaminecke, die die ganze Schmalseite des schöngegliederten Raumes mit der niedrigen Decke füllte, war ihm besonders geglückt.

Er hatte den einen Fuß auf die Kante des niedrigen Kamingitters gesetzt, in der Linken hielt er die alte braune Shagpfeife. Sie hörte ihn lachen.

Nein, was so ein Brief ausmachte! Sie konnte ihn heute ohne das nervöse ungeduldige Ziehen zwischen den Brauen ganz gelassen beobachten, wie er ein wenig posierte, wie die Frauen um ihn herumstanden und ihn zu offensichtlich bewunderten. Sie konnte ohne einen vorwurfsvollen Gedanken die kostbaren schottischen Kniestrümpfe betrachten, die er zu dem handgewebten Sportanzug sich gekauft hatte, obgleich Constanze noch vor ein paar Tagen scheu eingewandt hatte, ob sie nicht viel zu teuer seien, und daß die Krankenkasse noch nicht beglichen sei und das Rehlein wollene Unterwäsche und Skistiefel benötige.

Sie konnte – ach, sie konnte sogar an Elena denken, die da in irgendeinem der Nebenräume sein mochte, mit einem bisher unbekannten Gefühl: ohne jegliche Bitterkeit, ohne Kummer, sondern mehr mit dem Stoizismus der Erkenntnis ihrer Machtlosigkeit dem Schicksal gegenüber, ein Gefühl, das sie die ganze letzte Zeit vergeblich angestrebt hatte.

»Nun, bist du nicht stolz und glücklich?« sagte Anna. Sie stand hinter ihr, beide Hände auf die Schultern der Sitzenden gelegt, und Constanze, die gleichsam erwachte, lehnte sich unwillkürlich zurück, um durch diese Bewegung etwas Verbundenes, Herzliches auszudrücken.

»Ich bin sehr froh für Christian«, erwiderte sie leise, »aber ich möchte dich lieber fragen, ob du nicht ein beglückendes Gefühl hast in dem Gedanken, daß du durch deine eigene Arbeit, deinen eigenen Verdienst dieses Haus bauen lassen konntest.«

Anna hob den Kopf und sah einen Augenblick über die Räume, die zur Einweihung des Hauses mit Blumen geschmückt waren, sah über die Gäste hinweg, die hier und dort herumstanden und plauderten. Im Nebenraum hatten sich schon einige Frauen zu einem Bridge zusammengefunden, ehe sie bescheiden antwortete: »Ich habe es nicht allein geschafft, Hermann hat dazu etwas beigesteuert.«

Constanze schwieg, legte aber rückwärts ihre rechte Hand auf die der Freundin, die immer noch auf ihrer Schulter ruhte. »Ihr seid wirklich eine beneidenswerte Familie«, sagte sie nur. Es war aber in einem Ton der Bewunderung und nicht des Neides gesagt, und ohne Übergang fuhr sie fort: »Bist du wieder fleißig?«

»Schon – schon, ich muß in den nächsten Tagen nach Tetuan.«

Constanze lachte: »Du sagst das so, wie andere sagen: ich fahre morgen nach Garmisch. Wie kommst du darauf, ausgerechnet nach Tetuan zu fahren?«

»Mein neuer Film spielt in Nordafrika und behandelt den Aufstand der Rifkabylen.«

»Mein Gott, mein Gott, bist du eine tüchtige Person! Wie kam dir diese Idee?«

Anna zog einen zweiten strohgeflochtenen Hocker heran und setzte sich zu der Freundin. Sie nahm eine Zigarette aus ihrem Etui, klopfte sie zurecht und suchte ein Streichholz.

»In der Badewanne«, erwiderte sie fröhlich und weidete sich förmlich an Constanzes Erstaunen.

»In der Badewanne?« wiederholte Constanze, als ob sie nicht richtig gehört hätte.

»Nun, du weißt ja, wie merkwürdig und drollig das oft mit meinen Eingebungen ist. Da liege ich also morgens in meiner Wanne, ich sehe noch, wie ich mit den Füßen spiele und die herrliche Entspannung des heißen Wassers genieße, und da plötzlich kommt mir diese Idee. Ich sehe die ganze Entwicklung vor mir, springe aus der Wanne, werfe den Bademantel um, renne, so wie ich bin, in mein Arbeitszimmer. In einer halben Stunde hatte ich die Stichworte beisammen, den Aufbau, das Abklingen fixiert … In den nächsten Tagen fahre ich nun nach Nordafrika, um mir den Schauplatz anzusehen, damit ich ihn vor Augen habe, wenn ich mit der Arbeit beginne. Dr. Martin, der Regisseur der deutsch-österreichischen Filmgesellschaft, ist von dem Vorwurf sehr angetan und arbeitet dieses Mal mit mir. Er hat auch mehr historische Kenntnisse als ich, die hier unerläßlich sind.«

»Na, du bist schon eine fabelhafte Person«, wiederholte Constanze neidlos.

Anna sah auf Constanze herab, auf das zarte, unebenmäßige Gesicht, das in der Dämmerung des Augustnachmittags fast farblos wirkte.

»Wir müssen uns einmal allein sprechen«, sagte sie, indem sie diese Worte gleichsam als Schlußsatz einer Gedankenreihe setzte, »kannst du nachher noch etwas bleiben?«

»Ich werde sehen.« Constanze nickte. »Du kannst dich deinen Gästen jetzt nicht entziehen!« Sie stand selbst auf, um Anna den Aufbruch zu erleichtern,

»Ja, und dem Helden des Tages«, meinte Anna fröhlich mit einer Kopfbewegung zu Christian hin, dessen Stimme herüberklang.

Sie legte ihren Arm auf den der Freundin und ging von Gast zu Gast.

»Das Haus ist bezaubernd schön – sehr schön«, sagte eine Frau, die ihnen entgegentrat. Sie hatte ein ganz junges, blühendes Gesicht, umrahmt von vollem, weißem Haar, und dunkle, ausdrucksvolle Augen. Ihre mädchenhafte Figur, ihre Bewegungen waren von großer Anmut.

Und Anna, die es liebte, sich selbst zu verspotten, bemerkte halblaut zu Constanze: »Jedesmal, wenn ich Dorothy Marshall sehe, fühle ich mich irgendwie schuldig, daß ich sie – ich meine ihre Gestalt – noch nicht in einem Film verwendet habe. Ist sie nicht anziehend?«

Constanze freute sich. Man spürte Annas Zufriedenheit, die in jeder ihrer Äußerungen zum Ausdruck kam, die Befriedigung einer Frau, die ihr Leben erfüllt sah. Sie war nicht weit von den Fünfzig; die drei Söhne, die kleine Tochter machten ihr Freude, gingen ihren Weg. Was hatte Christian einmal treffend von Anna gesagt: sie hat es fertiggebracht, daß sie ihr Leben stark und ihrer Veranlagung gemäß lebt und doch der Mittelpunkt der Familie, der beste Kamerad ihres Mannes bleibt. Sie war oft wochenlang fort, um zu arbeiten. Von außen betrachtet wirkte die Familie wie sechs Glieder, die auseinanderstrebten. Aber das Gegenteil war der Fall: eine unsichtbare eiserne Kette umschloß sie alle. Jeder stand für den anderen ein, zu jedem Opfer bereit. Anna selbst aber bildete den Mittelpunkt: wo sie war, fühlten die Kinder, war die Insel im Chaos der Zeit. War einer ihrer Angehörigen in Not und hatte es noch nicht ausgesprochen, immer war Anna schon da und nahm die verworrenen Fäden in ihre starken Hände, um sie zu entwirren. Aber kaum stand der Betroffene wieder auf eigenen Füßen, verließ Anna ihn wortlos, um sich der eigenen Arbeit wieder zuzuwenden.

Und, was niemand ahnte, in noch erhöhtem Maße war sie für den Mann da, mit dem sie einige zwanzig Jahre verbunden war. Arzt sein – Chirurg sein, Anna erkannte, was das bedeutete: Tod und Leben ständig in den Händen halten, die Möglichkeit, nach »glücklich verlaufener Operation«, durch eine Embolie, eine Sepsis, eine Lungenentzündung, durch irgendeine ungeahnte Komplikation die Arbeit zerstört zu sehen!

Nach einer erfolglosen Operation war Hermann Grautoff tagelang krank, schloß sich ein, aß nicht, war für niemand zu sprechen, fühlte sich schuldlos schuldig.

»Anna ist der einzige Mensch, der mir dann helfen kann, sie ist immer da«, sagte er zu seinen Freunden, ohne zu ahnen, warum Anna dann immer da war, nie fort war, nie arbeitete, wenn besonders kritische Operationen vorlagen.

Da-sein, sich für die Menschen einsetzen, die ihr angehörten oder die ihrer bedurften, war ihr Lebensbedürfnis, war der Ausfluß einer starken Vitalität, entsprang ihrer Erkenntnis für den Lebenskampf, den ein jeder auszufechten hatte.

Es war für sie kennzeichnend, daß ihre Kinder sie scherzend »Löwenmutti« nannten. Sie waren der Ansicht, daß ihre Mutter alle Ströme des Widerstandes durchqueren würde – unbeirrt, wenn es galt, daß eines ihrer Jungen in Not war. Neckend sandten sie ihr Bilder aus irgendeiner Zeitschrift, eine Szene darstellend, die ihnen gleichsam ein Symbol für die Persönlichkeit ihrer Mutter schien: irgendein Urwaldtier, das sein Junges rettete. Dieses Gefühl für die Ihren beherrschte Anna Grautoff so ausschließlich, daß sie zu jedem Opfer fähig war, und oft genug, ohne daß die Ihrigen es ahnten, eine ehrenvolle Arbeit ablehnte, weil sie ihre Gedanken, ihre Kraft ganz für den Bedürftigen einsetzte.

Und nun gab sie diesem Wesenszug einen äußeren Ausdruck: sie baute ein Haus, eine Zuflucht, eine Insel, wie es Jobst, der Älteste ihrer Söhne, soeben in einer kleinen Ansprache ausgedrückt hatte.

So war dieser Nachmittag und dieser Empfang eine Doppelfeier, denn auch Christian Andergast wurde dankend hervorgehoben, Christian, dessen Name seit kurzem von sich reden machte und der durch dies Haus erneut einen sichtbaren Beweis für sein künstlerisches Gefühl und Können bot.

Das Eigenartige, das seine Bauweise ausmachte, bestand darin, daß er keine Villa, kein mehrstöckiges Haus schuf, sondern eine Art Anwesen. Lebendig und reizvoll gliederte er zu ebener Erde Raum an Raum in Hufeisenform um einen plattenbelegten Hof und verband alles in schöner Einheit mit dem Garten, der von Blumen und Stauden und Sträuchern gleichsam überfloß.

»Der Föhn heute sehr böse«, sagte Dorothy Marshall, die sich zu den beiden Frauen gesellt hatte und mit ihnen langsam durch die Räume schritt.

Mrs. Marshall war Berichterstatterin einer großen amerikanischen Zeitung und lebte seit kurzem in München.

»Ich München liebe, aber ich nicht tragen kann das Klima«, war ihre ständige Klage.

»Seit bald zwölf Jahren lebe ich in München«, erwiderte Constanze, ohne einen Vorwurf in ihren Ton zu legen, »aber ich spüre den Föhn fast gar nicht.«

»Nerven – Nervensache«, klagte Mrs. Marshall. »Sie eben keine Nerven haben, meine Liebe!«

Constanze lächelte. »Nerven, hm … aber vielleicht was schlimmer ist: eine sehr zarte Antenne.«

»Antenne – Radio?« fragte die Amerikanerin.

Anna lachte: »Frau Constanze meint, eine sehr feine Seele, die stark reagiert, was oft weher tut als schwache Nerven.«

Constanze nickte. Eine feine Röte flog über ihr Gesicht, das heute von durchsichtiger Blässe war.

Die Serviermädchen gingen lautlos umher und boten kleine Erfrischungen an.

Constanze blieb einen Augenblick zurück, um Anna nicht weiter ihren Gastgeberpflichten zu entziehen, und betrachtete ein holländisches Blumenstück, das über einer alten Kommode hing.

Dorothy Marshall blieb neben Constanze stehen: »Ich einen Bericht geben muß für meine Zeitung«, sagte sie mit der ihr eigenen liebenswürdigen Anmut, »würden Sie, liebe Mrs. Andergast, mir ein wenig helfen? Ich Namen nicht kenne von den vielen Gästen. Sie die Gemahlin des Baumeisters, nicht wahr?«

Vorsicht war ausländischen Berichterstattern gegenüber geboten. Wie leicht brachten sie Persönliches und Sensationelles, nichts Sachliches, Wesentliches, dachte Constanze, wenig erfreut, Mrs. Marshall nun Rede stehen zu müssen.

»Sie kennen doch Frau Anna Grautoff schon seit längerer Zeit«, bog sie die Aussprache, ab. Sie hatte wieder das verschlossene Gesicht, das nun fast wie eine schöne Maske wirkte.

»O ja! Mrs. Andergast, ich Anna Grautoff gut kenne und wissen, daß sie ist eine bekannte Filmmanuskriptdichterin, daß sie baute Haus von ihrem Verdienst, dies sehr schöne Haus, daß ihr Mann ist surgeon – Chirurg –«, verbesserte sie sich, »und daß sie hat sechs Kinder.«

»Nein vier«, stellte Constanze richtig.

»Well vier, und daß morgen Mrs. Grautoff geht nach das Norden von Afrika.« …

»Oh, da komme ich ja gerade zurecht«, sagte ein junger Mann, der eine dunkle Hornbrille trug und sich dadurch scheinbar den Anschein einer gewissen Würde zu verleihen suchte: »Ich will einen Artikel über Ihren Herrn Gemahl in der T.B.Z. bringen.«

Wie eingeklemmt stand Constanze nun an dem Türpfosten. Sie hatte die Jacke geöffnet, das bunte Tuch lag ihr lose über der Schulter. Es war heiß. Das laute Stimmengewirr griff sie an.

»Also bitte«, sagte sie müde, offensichtlich bemüht, höflich zu sein.

»Ich auch wissen will mehr über Christian Andergast«, begann Dorothy Marshall von neuem. Sie zog einen winzigen Block aus ihrer Rocktasche, die seitlich und schräg über ihre Hüfte lief, und hob den Füllhalter.

»Also mein Mann hat in Darmstadt, Dessau, München studiert«, begann Constanze gefällig. »Er ist Rheinländer, in Mainz geboren, neununddreißig Jahre alt und lebt seit vierzehn Jahren in München.«

»Sie selbst, gnädige Frau, sind auch Künstlerin?« fragte der junge Mann interessiert. Es war sein erstes Interview, und er wollte so gern etwas Besonderes bringen.

»Ja, ich bin Goldschmiedin, eine Schülerin des bekannten Johann Michaelis.«

»Oh, Sie beide Künstler«, sagte die Amerikanerin und stenographierte eifrig auf ihrem winzigen Block.

Jetzt müßte ich eigentlich erwähnen, was in dem Brief steht, dachte Constanze, und eine fast vergessene Welle trug sie einen Augenblick wieder empor. Aber sie schwieg …

»Sie haben auch Kinder?« fragte Mrs. Marshall.

Constanze fand die Frage reichlich überflüssig, aber da sie wußte, daß amerikanische Berichterstatter sich für jede persönliche Belanglosigkeit interessieren, gab sie geduldig Antwort: »Ja, ein kleines Mädchen von neun Jahren. Es heißt Renate und ist für ein Jahr in einem Kindersanatorium im Allgäu.«

»Das Kind ist krank?« fragte der junge Mann und zeigte eine Teilnahme, die er keinesfalls empfinden konnte.

Das gehört doch weiß Gott nicht in ein Interview über einen Architekten und seine Bauweise, überlegte die junge Frau und wußte nicht, ob sie lachen sollte.

»Nicht ernstlich krank; die Kleine hatte im vorigen Winter eine Lungenentzündung. Die Drüsen sind angegriffen. Die Ärzte hoffen aber, daß das Kind nach einem Jahre Höhenluft wieder ganz gesund ist. Wir gaben es darum nach Oberstdorf.«

»Ich möchte nun einige nähere sachliche Auskünfte über die Bauweise und letzten Pläne Ihres Gatten haben«, sagte der junge Mann und steuerte die Berichterstattung in das richtige Fahrwasser.

»Da sollte Ihnen mein Mann oder Fräulein Elena Terwin Auskunft geben. Sie ist die Assistentin meines Mannes und eine sehr tüchtige junge Dame«, antwortete Constanze und sah sich um …

Die Gäste hatten sich zum größten Teil schon verabschiedet. Die erwachsenen Kinder der Gastgeber zeigten ihren Freunden noch die große Fensterscheibe, die versenkbar war und einen herrlichen Ausblick in den abendlichen Garten bot.

Anna stand am Ausgang der Wohnhalle mit ihrem Mann, den Constanze einen Augenblick gar nicht erkannte. Er war kleiner als seine Frau und wirkte fast zierlich, aber hatte einen bedeutenden Kopf. Christian und Elena Terwin kamen in diesem Augenblick durch den großen Raum mit der niedrig gehaltenen Decke auf sie zu, und Constanze bemerkte zum ersten Male, daß Christian an den Schläfen weiß wurde, was seinen schmalen, dunklen Kopf mit der großen Nase noch ausdrucksvoller machte. Elena trug ein hohes schwarzes Kleid mit einem Stückchen Silberborte um den Hals. Und Constanze, immer redlich bemüht, sachlich zu bleiben und keine persönlichen Gefühle herrschen zu lassen, dachte: Wie schön sind diese beiden Menschen, vor allem Elena, deren dunkles Haar und heller Goldton der Haut in einem reizvollen Widerspruch zu ihren blauen Augen stehen.

»Oh, ihr müßt mir helfen«, sagte Constanze. Sie fühlte sich wie befreit. »Ich soll hier Auskunft geben und bin sicher, daß ich nur dummes Zeug sage«, und sie stellte die beiden Berichterstatter vor.

»Ach, wir haben so wenig Zeit, darf ich das nicht morgen in meinem Atelier tun? Seien Sie mir bitte nicht böse, Fräulein Terwin und ich haben uns soeben entschlossen, in die Uraufführung des neuen Farbfilms zu gehen – Sie verstehen – kommst du mit, Constanze?«

Und Constanze, die ihre Antenne unbewußt aufgespannt hatte, wußte, ohne daß sie Christian ansah, daß diese Frage keine Zusage erwartete. Nein, sie mochte Christian auch nicht ansehen, denn was sie an ihm liebte, war seine Ehrlichkeit. Sie wollte es ihm und sich selbst ersparen, daß er ihrem Blicke auswich …

So hörte sie noch mit halbem Ohr, daß Elena die beiden Berichterstatter vertröstete, ihnen morgen einen ausführlichen Bericht zu geben, und antwortete: »Nein, danke, Christian – ich bin müde – ich möchte heute bald zur Ruhe gehen.«


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