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Arme Dorothy Marshall – wir haben Föhn, überlegte Constanze, als sie die drei Treppen ihres Hauses hinaufstieg. Die Glieder waren ihr schwer, wie mit Blei ausgegossen, das Hinaufgehen strengte sie ungewöhnlich an. Nun – stellte sie resigniert fest: eigentlich strengt mich jetzt alles an.
Im Treppenhaus roch es nach Fisch, und ihr Hirn schaltete unwillkürlich ein, daß es Freitag sei, und am Dienstag lag das Treppenhaus im Seifendunst der großen Wäsche. Sie sah plötzlich, sekundenhaft, ein kleines Haus, draußen mit dem Blick auf die Voralpen. Es war ihr, als ob dieser Wunschtraum, den sie zehn Jahre gehegt, nun, da er die Erfüllung in sich barg, schemenhaft zerflatterte. Ohne sich auszuziehen, stand sie wie hilflos in ihrer winzigen Vierzimmerwohnung, die ihr plötzlich so leblos erschien. Leblos, seitdem das Rehlein fort war – nein, seitdem sie nicht mehr mit Christian zusammen lebte, sondern nur neben ihm. Sie schaltete das Licht ein und ging aus der kleinen, rotgestrichenen Diele mit den Lackmöbeln zunächst in den Wohnraum mit den grauen Wänden und farbigen chinesischen Holzschnitten. Christian hatte diese bei einem Trödler billig erstanden, und sie liebte sie besonders. Sie sah über den Raum hinweg, als ob sie in der Behaglichkeit ihres Heimes Trost finden könne, und liebkoste mit den Blicken die schönen alten Möbel, die sie sich langsam Stück für Stück erworben hatten. In großen niedrigen Messingkübeln standen exotische Blattpflanzen und Kakteen umher. Sie hatten sich unter ihren Händen so glücklich entfaltet, aber nun entdeckte Constanze zu ihrem Schrecken, daß sie mit einer dicken Staubschicht bedeckt waren. Sie öffnete die Tür zu dem Nebenraum, wo unter bunten Bauernmöbeln Rehleins Bett stand, und warf einen flüchtigen Blick auf das weißzugedeckte Kinderbett, das bei ihr das Gefühl der Vereinsamung nur noch verstärkte. Und da sie nur eine Medizin wußte, ein Mittel, das sie aus der Trostlosigkeit dieser Stunde retten konnte, griff sie danach: Rehleins Stimme. Überall brannte noch das Licht, und sie ging in den kleinen Vorplatz, wo das Telephon stand. Nach einem aufgeregten Hin und Her, der ärgerlichen Mahnung einer Schwester, daß acht Uhr abends keine Zeit sei, ein Kind anzurufen – daß die Patientin (wie schrecklich, Rehlein Patientin zu nennen) schon im Bett läge, versprach man, das Kind zu rufen.
»Bist du's, Mutti?« sagte plötzlich eine tiefe Kleinmädchenstimme.
»Ja, Rehlein, – hier ist Mutti.«
»Ach, Mutti, wie schön, daß du mich anrufst. Ist etwas Wichtiges?« fragte das Stimmlein altklug.
»Nein, Rehlein, ich wollte nur mal deine Stimme hören«, lachte Constanze und spürte, wie ihr die Tränen kamen. Sie sah in diesem Augenblick eine kleine Gestalt in einem langen Nachthemd mit blaugerändertem Krägelchen. Sie sah große braune Augen, die dem Kinde seinen Namen eingetragen hatten.
»Ist Zuckerchen allein?« fragte das Stimmchen verständnisvoll.
»Ja, Rehlein, Vati ist auf einer Sitzung.«
»Armes Zuckerchen (das war der Kosename Rehleins für Constanze, wenn es ahnte, daß seine Mutter traurig war), nun, das Rehlein kommt ja bald«, sagte die Kleine und nahm den Ton an, in dem sie sonst nur mit ihren Puppen sprach.
»Ja, das Rehlein kommt bald«, wiederholte Constanze und fühlte sich in dem Augenblick ganz glücklich. »Rehlein, ich muß dir etwas Feines sagen: heute ist Grautoffs Haus eingeweiht, und alle Leute schienen begeistert, und Mutti soll in Warschau am zweiundzwanzigsten August ihre Arbeiten ausstellen und fährt zur Eröffnung dorthin.«
»Ach, Zuckerchen – das ist ja herrlich, aber sei bloß pünktlich zu meinem Geburtstag da!«
»Aber selbstverständlich, Rehlein«, sagte Constanze und merkte erschreckt, daß diese Mahnung angebracht war. »Übrigens, Rehlein, hast du auch Morgenschuhe an?« Ihr Mutterherz machte plötzlich einen merkwürdigen Gedankensprung. –
Schweigen …
»Rehlein – bist du noch da?«
»Ja, Mutti«, kam es leise … »Ich hole schnell die Pantoffeln.«
»Aber Rehlein, wenn du dich erkältet hast, du weißt doch, daß du nicht ohne Morgenschuhe laufen sollst!«
»Ach, Zuckerchen, nicht böse sein«, bettelte das Stimmlein.
»Nein – aber schnell ins Bett.«
»Ja«, kam ein ängstliches Flüstern: »Gute Nacht, Zuckerchen.«
Ein Glück, dachte Constanze, daß ich mit dem Kinde sprach. Wenn am zweiundzwanzigsten die Eröffnung der Ausstellung in Warschau ist und am sechsundzwanzigsten Rehleins Geburtstag, dann weiß ich allerdings nicht, wie ich das schaffen soll. Ich kann unmöglich das Kind enttäuschen und am Geburtstag fehlen … Sie blieb ratlos stehen, plötzlich fiel ihr ein, daß sie eine Flugkarte nehmen konnte. Die guten Aufträge gestatteten ihr schon einmal diesen Luxus. Die Freude auf das Unbekannte beschwingte sie.
Sie war durch das Gespräch mit dem Kinde abgelenkt, löschte überall das Licht und ging über den Vorraum in das winzige Zimmer, das ihr als Werkstatt diente. Sie schaltete die Jupiterlampe ein, die den Raum taghell erleuchtete. Die weißgetünchten Wände verstärkten die Helligkeit. Ihren einzigen Schmuck bildeten zwei Stiche, die einträchtig beisammenhingen: Benvenuto Cellini und Peter Vischer, die Meister der Schmiedekunst, und gegenüber eine Reproduktion von Pala d'Oro in der Basilika di Marco. Alle Bilder hingen schief, und die Rahmen erschienen verstaubt. Der Raum hatte etwas Unbelebtes, wie die ganze Wohnung.
Sie trat an den aufgeräumten Werktisch und hob die kleine Goldschale empor, die den Reichtum ihrer Steine barg. Es war eine unwillkürliche Bewegung, die sie oft machte und die sie meist inspirierte. Die Schale enthielt neben Smaragden, Rubinen, Saphiren, Brillanten und anderen Edelsteinen zumeist Halbedelsteine, die Constanze mit Vorliebe verarbeitete. Es war ein Farbenrausch von roten und grünen Turmalinen, Rauch- und Goldtopasen, veilchenfarbenen Amethysten und blassen Mondsteinen, Achaten und Opalen, Perlen, Korallen und Türkisen. Sie fuhr mit spitzen Fingern in diese Pracht und zog ein indisches Katzenauge hervor, und da wußte sie es plötzlich: sie würde einen Ring formen und diesen Stein umgeben mit kleinen Splittern von Chrysoprasen und Lapislazuli und kleine Tupfen Malachit und Amazonit hinzugeben. Farbig durfte der Ring werden, farbig und prächtig zugleich, und doch nicht bunt – nicht laut. Sie sah das alles vor sich und wußte: jetzt mußte sie ihn gestalten, wenigstens die Farbeffekte zusammenstellen, sonst verlor sie das innere Bild.
Sie ging an ihren Werktisch, der ausgebuchtet und mit Stahlplatten belegt war, und zog sich einen Hocker heran. Sinnend und sich sammelnd sortierte sie das Handwerkszeug, dessen sie bedurfte. Nach einigem Zögern stand sie auf und trat an den kleinen Backsteinofen in der Ecke, wo ihr weißer Mantel hing. Dann band sie das Schurzfell vor, das die kostbaren Abfälle auffangen sollte, damit nichts auf den Boden fiel. Auf einmal war alles vergessen, was ihr so untragbar erschien. Sie sah vor sich die letzten geglückten Arbeiten, die ihren Namen gefördert hatten, den Kelch aus Zellenschmelz, die Monstranz für die kleine Kirche in Friesland, den Schmuck für die Silberbraut, jene Zweige aus Myrten und Tauben, das Symbol der Ehe. –
Ja, sie konnte wieder schaffen. Sie war plötzlich eine andere Frau, die, die sie bisher immer gewesen – zielbewußt und sicher und in sich ruhend.
Sie vergaß die Zeit, sie arbeitete fieberhaft. Sie hantierte an dem kleinen Schmelzofen und nahm das Gaslötrohr, um das Goldblech zu glühen und zu walzen. Dann ergriff sie eine Walze für Golddraht und Goldblech und formte winzige Blätter, Stiele und bezauberndes Blattwerk, das sie mit Edelsteinen besetzte.
Als sie die Steine zusammenstellte, erkannte sie, wie das Gebilde den Zauber trug, der ihr vorschwebte. Es war ein berauschendes Gefühl, das beglückendste, das es für einen Künstler gibt. Sie vermischte darauf Kohlenstaub und Goldteilchen und brachte sie in einem Schmelztiegel zu Fluß. Mit Borax und Wasser verhütete sie das Oxydieren des Goldes. Kleine Goldkügelchen, die sie zur Granulation benötigte, entstanden. Sie sortierte sie in verschiedene Größen mit einem Mikrometer und setzte sie mit einem Pinsel auf. Keine Müdigkeit verspürte sie, kein Nachlassen der Einfälle. Es war wie ein übersteigerter heißer Quell, der sie befreite und erlöste. Sie wußte, es gab jetzt nur das eine: Arbeit, Arbeit – alles andere war stärker als sie: Schicksal.
Es hieß dann nur ein Jasagen zum Schicksal finden, wie es sich auch immer gestalten mochte. Als sie plötzlich aufsah – sie wußte nicht, wie spät es war –, stand Christian da. Sie hatte nicht einmal seinen Eintritt vernommen.
Sie sah auf und lächelte. Sie erwachte jetzt förmlich und sah, daß auf einem Stuhl an der Tür ihre Jacke lag und die Mimosenzweige darauf, die ermüdet und verwelkt waren, und auf dem Boden ihr Hut. Es war eine andere Constanze, die vor endloser Zeit diese Dinge dort achtlos hingleiten ließ, als innere Kräfte wieder in ihr wach wurden und an die Oberfläche des Bewußtseins drangen. Constanze hatte das Gefühl unendlicher Dankbarkeit, als ob sie wieder genesen sei.
Sie sah ihn immer noch mit fragendem Ausdruck an und lächelte zugleich beglückt. Es kam ihr nicht einmal der Gedanke einer Frage, die so nahe lag. Christian betrachtete sie überrascht. Die ganze Frau war kunstlos, nie hergerichtet, nie elegant, ihr Wesen immer im Einklang mit diesem Äußeren.
»Bist du aber fleißig«, sagte er. Er wollte hinzusetzen: es geht schon gegen Morgen, aber er wagte es nicht. »Laß mich sehen.«
»Noch nicht«, erwiderte sie hastig und legte die Hand über das Schmuckstück. »Du weißt, man zeigt nicht gern eine Arbeit, die unvollendet ist. Aber hier – dies – das wird dich vielleicht interessieren«, und sie zog das amtliche Schreiben aus der Tasche und reichte es ihm. Sie beobachtete seine Züge und erkannte, wie benommen er war. Er konnte es kaum begreifen!
»Das ist ja unglaublich, nein, wie mich das freut.«
Sie spürte, er war aufrichtig. »Ja«, sagte sie, »es gibt viel Kraft und Selbstbewußtsein, und diese schienen mir in letzter Zeit abhanden gekommen.« Sie sagte es leichthin, fast fröhlich. »Und nun wird geschafft – geschafft – und dann« – und sie hörte ihre eigenen Worte, als ob sie aus dem Munde einer fremden Frau kämen, die da etwas auswendig Gelerntes aussprach – »dann wird eine Werkstatt in Berlin aufgemacht, denn dort werde ich viele Aufträge bekommen – dort ist für mich keine Konkurrenz.«
»Was heißt das?« Er schaute sie an, als ob sie eine fremde Sprache spräche, die er nicht verstand.
Bloß jetzt nicht schwach werden – heute nacht muß Klarheit geschaffen werden, die Klarheit, ohne die ich nicht leben kann. Nur die Ungewißheit zermürbt, dachte Constanze.
»Christian«, sagte sie – und sie wunderte sich, wie ruhig sie sprach – »mit jeder Tatsache, mit jedem Schicksal kann man sich abfinden –«, setzte sie hinzu, »aber ich muß Klarheit haben, um mich – in mir. Wie steht es zwischen dir und Elena?«
»Zwischen mir und Elena?«
Er fühlte sich überfallen. Dinge wurden gefragt, die noch nicht reif waren, Fragen aufgerüttelt, die er zu übertönen suchte, Gefühle bloßgestellt, die er nicht wahrhaben wollte.
»Bitte, weich mir nicht aus, Christel!« Sie suchte den alten Kosenamen hervor, da sie plötzlich spürte, daß sie ihm überlegen war, und dies Gefühl stärkte und beruhigte sie. Sie hatte das Empfinden, daß er hilflos war in seiner knabenhaften Art, die sie immer an ihm geliebt hatte. Wie er wohl als kleiner Junge gewesen sein mochte, wenn er sich bei einem Streich ertappt sah!
»Das Schönste zwischen uns«, fuhr Constanze fort, die klar verspürte, daß Christian nicht ausweichen wollte, »ist die Wahrhaftigkeit, die stets zwischen uns herrschte. Nicht wahr, Christel?« Sie wünschte ihm zu helfen, als sie sah, daß er betroffen schwieg. »Wie es auch kommen mag, wie du dich auch entschieden hast oder entscheiden willst – laß diese Wahrhaftigkeit zwischen uns bleiben.«
Christian schwieg noch immer … Er schaute wie blind in seine Hände.
»Ich möchte eine Frage stellen, Christian«, sagte Constanze, und sie vermeinte, nun durch alles Leid und alle Wirrnisse durchgedrungen zu sein, daß sie mit jeder Entscheidung sich abfinden könne. Nur diese quälende Unsicherheit mußte jetzt enden: »Du liebst Elena?«
»Ja« … Es kam gequält. Er griff nach seinem Rockaufschlag.
Constanze blieb ruhig stehen. Wie merkwürdig, dachte sie, – ich bin doch ganz ruhig, und es ist mit diesem einen Wort doch schon fast alles gesagt, was ich wissen muß. Aber sie fuhr in ihrer Frage fort, ohne deren Beantwortung es keine Klarheit gab: »Und du willst, daß Elena bei dir bleibt für immer?«
Sie sah noch lange Zeit, ja bis zu ihrem Tode jene Szene vor sich, den schmalen Werktisch zwischen ihnen, den kleinen kalkigweißen Arbeitsraum in jener kühlen Sommernacht, die nervösen Hände des Mannes, die verkrampft den leichten Sommermantel entlangglitten, die ungeheure verdeckte Erregung des Mannes, den sie in diesem Augenblick mehr liebte denn je. Sie betrachtete die niedergeschlagenen Augen und den Mund. Es war der schönste Mund, den sie kannte. Wo die Lippen aufeinanderlagen, entstand eine Linie …
»Ich weiß – weiß es nicht, Conny … Gib mir Zeit!« Er stand da, und sie sah, daß seine Hände zitterten.
»Sie ist deine Geliebte, Christel?« fragte Constanze, und sie wunderte sich, daß sie das so sagen konnte mit einer solchen Selbstverständlichkeit, ja mit einer Mütterlichkeit, die sie ihm in den schwersten Stunden stets gegeben hatte, und so, als ob es sie selbst nicht beträfe.
»Nein – Conny – du wirst es mir glauben müssen – sie ist nicht meine Geliebte …«
»So«, sagte Constanze. Sie wußte in diesem Augenblick nicht, warum diese Tatsache sie nicht beglückte, beruhigte – wie sie auf jede Frau in ihrer Lage gewirkt hätte – warum es sie irgendwie kalt ließ. Es war ein so merkwürdiges Gefühl in ihr, das sie nicht zu deuten wußte und das ihr erst klar wurde, als eine Welt zwischen ihnen zerbrach.
Er betrachtete sie in der Hoffnung, daß seine Worte ihr Eindruck machten, ahnte verstimmt, daß sie ihr nichts besagten.
»Ich bitte dich, Conny«, hörte sie ihn nach einem kurzen Schweigen von neuem sagen, einem Schweigen, das tausend quälende Fragen barg: »Conny, ich bitte dich, gib mir Zeit – ich sehe noch keinen Weg …«
Er drehte sich um, noch ehe sie antworten konnte, und verließ den Raum.
Sie blieb stehen und schaute ihren Arbeitstisch an, das Schmuckstück, das seiner Vollendung noch bedurfte. »Ich bin nicht weitergekommen«, sagte sie laut und wußte im Augenblick nicht, ob sie das Schmuckstück meinte oder die Unsicherheit ihres eigenen Geschicks.