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19

Schon nach wenigen Stunden erkannte Constanze, daß es keine einfache Sache war, drei Tage durch die Wüstengebiete Mexikos zu fahren, wenn man kein Wort Spanisch verstand und als einzige Weiße unter Mestizen und Indianern saß.

Gleich hinter Juarez begann schon die Wüste des Staates Chihuahua. Man fuhr auf dem zweitausend Meter hohen Plateau der Sierra Madre, das zu beiden Seiten gegen die Ozeane in ein Tropenland hinabfiel. Es war das Felsenmassiv, auf dem einst die Chichimeken, die Tolteken und Azteken aus dem unbekannten Norden gekommen waren und erst haltgemacht hatten, als sie ihre Weissagung erfüllt sahen; einen Adler auf einem Nopal, eine Schlange in den Fängen, und seine gewaltigen Schwingen der aufgehenden Sonne zugewandt. Dort bauten sie Tenochtitlan, das heutige Mexiko.

Während jener Tage und Nächte in den Wüstenstaaten Mexikos überfiel Constanze erneut dieses gefährliche, ihr nicht bewußte Gefühl der Zeitlosigkeit, nahm die starke Atmosphäre dieses Indianerkontinents wieder so stark von ihr Besitz, daß alles Vergangene verblaßte.

Da sie nicht in der Lage war, zu fragen oder sich zu verständigen, schärfte dies ihre Sinne und die Empfänglichkeit für alles, was um sie her vorging. Bedürfnislos, wie sie stets war, genügte ihr der Proviant, den der fürsorgliche Amerikaner ihr in einem Korb in den Zug gestellt hatte und der vor allem Obst, Eier und Zwieback enthielt. Außer dem Wort »Café« konnte sie nichts nennen. Der Zug war nicht so bequem wie in den Staaten. Er schaukelte stark, er stieß. Nachts flackerten die Lichter auf und nieder, und sie hatte Angst, aus ihrem Bett hinab in den langen Korridor geschleudert zu werden. So verbarrikadierte sie sich mit ihren Kissen, hinter denen sie sich angekleidet niederlegte. Der Staub der Wüste drang durch die feinsten Ritzen, belegte Hals und Lungen, sie hustete viel, sie dürstete unausgesetzt. Die Nächte waren voll unbarmherziger Kälte, und ebenso unbarmherzig prallte am Tage die Sonne senkrecht herab: man kam in den Wendekreis.

Der Zug hielt mehrmals am Tage, hielt in kleinen Wüstenorten mit unaussprechlichen Namen spanischen oder aztekischen Ursprungs. Constanze sah, daß der Zug von einigen Dutzend kleinen dunkelgesichtigen Soldaten in schäbigen Baumwolluniformen bewacht war. Sie sprangen mit ihren Gewehren von der Lokomotive und den Trittbrettern herab und stellten sich vor den Zug.

Ein Mexikaner, der einige Brocken Englisch verstand, antwortete, von Constanze befragt: »Soldaten – ja nötig – Banditenüberfälle – ein-, zweimal im Monat.« – Wenn es nur ein- bis zweimal im Monat geschieht, braucht es nicht gerade dann zu geschehen, wenn ich unterwegs bin, dachte Constanze beherzt und glaubte an ihren guten Stern, der sie doch nun schon so weit geführt hatte.

Nur noch drei Tage, und sie hatte ihr Ziel erreicht.

Die Landschaft, durch die sie in jenen Tagen fuhr, war von einer unheimlichen ergreifenden Monotonie, aber von einer anderen als die Neu-Mexikos. Sie war noch vorweltlicher, trostloser, erschütternd in ihrer Unfaßbarkeit. Das Gebirge, das an beiden Horizonten die Wüste erbarmungslos einschloß, lag stets in einem fahlen, geheimnisvollen Licht. Die Ortschaften, durch die der Zug kam, verdienten kaum diesen Namen. Es waren eine Handvoll armseligster würfelförmiger Lehmhütten, jene Adobes, ohne Fenster, nur mit einer Tür, durch die man nachts ein Feuer erblickte. Eine Leiter führte auf das Dach. Mit trockenen Reisern war ein Stückchen Wüstenerde abgegrenzt und stellte den Hof dar, auf dem ein paar Truthähne und ein magerer Bastard von einem Hunde herumschlichen. Oft war solch ganze Siedlung mit einem Zaun umgeben. Oft aus Dornhecken oder Stangenkakteen, die bis acht Meter hoch wuchsen. Diese starken, stachligen, dicken, festen Kaktusstangen bildeten vorzügliche Zäune. Sobald die heulende Glocke ertönte, die die Ankunft des Zuges meldete, der nur einmal am Tage dies Felsenplateau durcheilte, kam die Bevölkerung an den Zug.

Nie hatte Constanze solche Armut gesehen. In Lumpen gekleidet, boten die dunkelhäutigen Indianerinnen, deren blauschwarze Haare, in zwei langen Zöpfen geflochten, ihnen weit über die Hüfte hingen, den Kopf verhüllt in dunkle Rebozos, ihre armseligen selbstbereiteten Speisen an: die Tortillas, jene grauweißen Maisfladen, die ihre einzige Nahrung waren, oder einen Ziegenkäse. Sie hoben jene Dinge mit der uralten Gebärde des Gebens empor, die allen Primitiven eigen ist. Sie hielten sie wortlos, unaufdringlich hin. In den Augen, die weder tierhaft noch menschlich blickten, sondern pupillenlos schwarz wie Augen, die an der Grenze menschlichen Bewußtseins stehen, konnte man keine Regungen menschlichen Gefühls entdecken.

Hin und wieder näherten sich, eingehüllt in den Staub der Wüste, aus weiter Ferne Ochsenkarren, jene Carretas, nicht anders, als Cortez sie vor vierhundert Jahren erblickt hatte, – lange schmale Karren auf runden Holzscheiben. Sie waren mit Gestein beladen und kamen, wie der Mexikaner ihr mühsam zu erklären suchte, aus den Silber- und Goldminen jenseits am Horizont.

Wüstenstrecken folgten, in denen die Frauen mit leeren Töpfen an den Zug traten und um Wasser bettelten. Als Gegengabe lagen in ihren braunen, kleinen Händen Opale, ja sogar Goldkörner.

»Um Gottes willen – was trinken sie denn, wenn sie kein Wasser erhalten?« fragte Constanze den Mexikaner. Vergeblich versuchte er zu erklären. Er zeigte ihr Agaven, aber erst nach Tagen erfuhr sie, daß die Einwohner jener Wüstenstriche, die bar jeder Wasseradern sind, aus den Agaven Saft gewinnen.

Am Vorabend der letzten Nacht, ehe sie Mexiko-City erreichte und der Zug immer höher und höher das Felsenplateau emporstieg, stürzte ein Gewitter, nein, viele Gewitter über die Wüste. Eine solche Urgewalt, solch Dröhnen und Krachen brach über den Zug herein, als ob er in dem Kanonendonner wilder Schlachten dahinführe. Die Wucht war so elementar, der Regen stürzte wie aus Kübeln, daß er den Zug einhüllte in nachtschwarze Tücher, durch die unaufhörlich Blitze tobten, die den Himmel aufrissen … Alle paar Sekunden blitzte es. Man sah durch schwarze Regenwandungen blutrote Wolken, die so nahe der Erde lagen, daß man vermeinte, sie greifen zu können. Alles wirkte zerrissen, der Himmel, die Felsengebirge an den Horizonten, die auf schwarzem Hintergrunde lagen. Und plötzlich war alles vorüber … so urplötzlich, wie es geschehen war. Der Himmel war vergißmeinnichtblau mit grünen Flecken, dazwischen tropften blutrote letzte Sonnenstrahlen, und schon sah man eine silberne Sichel jenseits des Horizontes.

Und weiter – immer weiter stürmte der Zug …

Am anderen Morgen erreichte Constanze Mexiko-City. Es war der dreiundzwanzigste Tag ihrer Reise, und das erste, was sie erblickte, als sie aus den blind gewordenen, verstaubten Fensterscheiben sah, war die bekannte graue Mütze. Sie hätte vor Freude und Erregung fast geweint.

Auch Reinhardt erkannte sie sofort. Er sah das blasse, kleine, reichlich ermüdete Gesicht, die grauen versponnenen Augen, das bunte Halstüchlein, ohne das sie anscheinend nicht leben konnte. In wenigen Sprüngen stand er auf der Plattform, auf die sie gerade hinaustrat … Er packte sie mit solcher Heftigkeit und freudiger Erregung an den Schultern, daß es fast schmerzte.

»Gottlob, daß Sie da sind. – Gottlob, daß Sie da sind«, sagte er fast atemlos, »was habe ich mich um Sie gesorgt!«


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