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Als sie in Peralvilla umsteigen wollte, fuhren keine Camions mehr nach Mexiko-City. Sie war nicht in der Lage, sich zu verständigen oder einen Gasthof aufzusuchen. Sie blieb hilflos und überlegend stehen. Erst am nächsten Morgen fuhren die Camions wieder. Sie konnte sich nicht in den Straßengraben setzen und warten – die ganze Nacht warten. Das war zu gefährlich. Auch waren die Nächte von schneidender Kälte. Sie fror schon jetzt in ihrem grauen Leinenkleid. Während sie so unruhig dastand und die Indios an ihr vorbeikamen, alle eingehüllt in ihre Sarape, so daß sie nur den Schlitz erkannte, wo die Augen sein mochten, sah sie einige Männer in Zivilkleidung stehen und sich beraten. Vielleicht hatte sie Glück – sie redete sie englisch an, und zu ihrer großen Freude antwortete ihr der eine, der ein paar Worte verstand. Sie erfuhr, daß auch sie noch heute nacht nach Mexiko-City fahren und sich einen Wagen mieten wollten. Ob sie mitfahren wolle. Sie willigte erfreut ein, und eine halbe Stunde später jagte der kleine ausgefahrene Fordwagen in rasender Geschwindigkeit mit ihnen dahin …
Die Nacht war eiskalt, und sie fror jämmerlich. Eine Stunde mußten sie ungefähr fahren. Sie blickte aus dem Fenster. Die Nacht war von seltener Klarheit. Die Landschaft sah aus wie eine Mondlandschaft – kalt – die Berge leer und unergründlich – kahle Hügel – unbewegte Kakteen. Alles hatte etwas Geisterhaftes in dem starken blauen Licht des Vollmondes.
In diesem Augenblick sprangen zwei Indios aus dem Graben und waren mit dem Sprung eines Panthers auf den beiden Trittbrettern des Wagens. Beide bis zu den Augen eingehüllt in ihre Sarape, trugen sie riesige Sombreros mit blutroten Kordeln, die ihnen bis über die Schultern fielen.
Constanze setzte das Herz aus: Das ist das Ende, dachte sie …
Der Wagen hielt. Die Männer riefen dem Chauffeur einen Befehl zu und bedeuteten den Wageninsassen, die Fenster herabzulassen, damit sie sich an den Fensterrahmen festhalten könnten.
Der Wagen springt wieder an. Die beiden Indios blieben auf den Trittbrettern stehen … Ihre weißen Sarape flatterten und knatterten im Wind des dahinsausenden Wagens. Eine eisige Nachtluft schlug Constanze entgegen. Man sah nur die vermummten weißen, gespenstischen Gestalten in dem blauen magischen Licht – es hatte etwas Grauenhaftes.
»Was wollen diese Indios?« sagte Constanze leise zu ihrem Nachbar.
»Mitgenommen werden – es scheint ihnen auf den Nägeln zu brennen«, erwiderte ebenso leise der Mexikaner. »Ich bin schon froh, daß sie weiter nichts wollen – ich dachte, unser letztes Stündlein sei gekommen.«
»Ich dachte es auch«, antwortete Constanze, »warum nimmt unser Autoführer sie aber mit … warum weigert er sich nicht? Der Wagen ist auch zu leicht gebaut für sieben Menschen!«
»Weil er dann erschossen würde und wir vielleicht mit ihm.«
»Hm«, machte Constanze. Sie dachte nur noch: hoffentlich sehen wir bald Lichter – die Stadt. –
Der Wagen sauste wie vom Teufel geführt, nahm die Kurven in derselben Geschwindigkeit, aber mit unheimlicher Sicherheit.
Auf einmal gab es einen Krach. Der Wagen stand. Die Indios sprangen ab. Constanze hörte den Mexikaner fragen … »Panne«, sagte er zu Constanze, »schöne Geschichte. Jetzt können wir auf der Landstraße die Nacht verbringen und in Gesellschaft dieser Banditen.«
Die Mexikaner stiegen aus. Auch die zwei Indios beugten sich über den geöffneten Kühler. Alle berieten. Man konnte den Schaden nicht finden. Es war zu dunkel.
Unterdessen kamen hin und wieder Autos vorbei. Aber sobald sie den verunglückten Wagen erblickten, gaben sie Vollgas und jagten an ihm vorüber.
»Ich denke, ich stelle mich auf die Landstraße und winke, wenn ein Wagen kommt«, meinte Constanze.
»Das wird Ihnen nichts nützen. Sie sehen, sie geben nur Vollgas, um noch schneller an uns vorbeizukommen.«
»Aber warum?«
»Weil sie glauben, die Panne sei nur eine Falle, glauben, es seien Banditen, die sie überfallen wollen, sobald sie hilfsbereit halten.«
»Mein Gott«, sagte Constanze erschreckt.
In diesem Augenblick wurde ein Wagen sichtbar. Constanze lief ihm mutig entgegen. Sie riß ihren weißen Hut vom Kopf und winkte – winkte verzweifelt. In dem blauen Licht der Nacht stand sie da – das blonde Haar – das blasse Gesicht – das helle Kleid – man mußte erkennen, daß es eine weiße Frau war.
Der Wagen hielt. Es war ein leerer Privatwagen. Der Wagen eines Minendirektors. Der Mexikaner sprach mit dem Chauffeur. Ja, er würde sie mitnehmen und Constanze am Chapultepec-Park absetzen.
»Tausend, tausend Dank«, sagte Constanze wie befreit. »Aber Sie kommen doch mit?«
»Ich will die zwei anderen Herren fragen«, meinte er und ging zu dem verunglückten Wagen zurück.
Constanze setzte sich neben den Chauffeur. In diesem Augenblick sah sie, wie die zwei Indios hinten in den Wagen sprangen und dem Chauffeur zuriefen, weiterzufahren. – Sie wollte rufen, sie wollte aussteigen – aber der Chauffeur verstand sie ja nicht, und ehe sie selbst die Wagentür öffnen konnte, um herauszuspringen, raste der Wagen davon …
Sie drehte sich um, sah die zurückgebliebenen Mexikaner winken – rufen – verstand nichts …
Sie sah scheu in das Wageninnere. Aber sie sah in der Dunkelheit nur zwei vermummte, gesichtslose Gestalten, und neben ihr saß der Chauffeur, mit dem sie sich nicht verständigen konnte …
Constanze empfand wohl den Ernst ihrer Lage. Sie – ganz allein neben einem mexikanischen Chauffeur – im Hintergrund zwei wilde, unheimliche Gesellen, die sie im Terror hielten. Unter ihren Sarapos mochten sie ihre Pistolen, konnten sie leicht ihre Messer bergen.
Plötzlich sah sie, wie der Chauffeur ebenso scheu und ängstlich nach hinten äugte, ihm war also ebenso zumute wie ihr. Und wie weit mochte es noch bis Mexiko-City sein? Und um sie die steinige, zerrissene, grausame Landschaft im kalten Vollmondlicht … Da vernahm sie hinter sich einen knappen Ruf, der einem gebietenden Halt glich. Der Chauffeur hielt, die Indios sprangen ab, und ehe Constanze es fassen konnte, hatte die Nacht sie wieder verschluckt, waren sie untergetaucht so urplötzlich, wie sie erschienen waren … Und da sah man auch schon hier und da die würfligen fensterlosen Lehmhütten, aus denen kalte Feuer zwinkerten. Dann ein fahles Licht am Himmel wie der Widerschein einer beleuchteten Stadt.
Mexiko-City war erreicht. Sie nannte dem Chauffeur die Straße, Calzada La Fundizion 16 … Wenige Minuten später und sie läutete an der Haustür.
Reinhardt kam selbst die Haustreppe heruntergeeilt, als er die Glocke hörte. Er war in größter Unruhe, befragte den Chauffeur und entlohnte ihn reichlich.
Als sie glücklich und erschöpft neben Marianne saß und alles berichtete, sagte Reinhardt: »Ja, der Chauffeur sagte auch, er hätte Todesangst gehabt, daß die Gesellen Sie in das Gebirge verschleppen wollten, um ein Lösegeld zu erpressen.«
»Mein Gott, und dann?«
»Ja, wenn die Kerle das Lösegeld haben, lassen sie meist den Gefangenen nicht frei, damit er nichts verrät, sondern töten ihn.«
Constanze dachte an den kleinen Yivaro mit der blonden Haarmähne. Ihr schauderte. – Gott sei Dank, daß das so gnädig abgegangen war.
Ein blasses Lächeln huschte über ihr ermüdetes Gesicht.
Als sie in ihr Schlafzimmer kam, lag Post auf ihrem Tisch, eine Karte von Sherman Talbert, dem hilfsbereiten Amerikaner aus El Paso. Er schrieb: »Da Sie über El Paso zurückfahren müssen, so schreiben Sie mir nur rechtzeitig eine Flugpostkarte, damit ich wieder zur Stelle bin und Ihnen helfen kann.«
Diese Hilfsbereitschaft der Amerikaner ist einzigartig, dachte Constanze beglückt und beruhigt im Hinblick auf die verflossenen Stunden.
Aber ach – da lag ja auch ein Brief von Christian. Hastig wie stets riß sie den Umschlag ab … Es war ein in herzlichem Ton gehaltener langer Brief, der viel fragte – viele belanglose Nachrichten enthielt und – nichts besagte.
Ihre Hände zitterten, als sie ihn enttäuscht auf den Tisch gleiten ließ.