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17

Im eisernen Rhythmus der Tage rollte die Landschaft vorbei. Im eisernen Rhythmus des Zuges, der endlose Weiten durchbrauste, trug jeder Tag dasselbe Gesicht. Die Landschaft ordnete sich ihm ein. In ständigem, eintönigem Wechsel rauschten die einförmigen Bilder abgeernteter Weizenfelder – Wellblechhäuser und häßliche Tankstellen vorüber …

Eintönig – einförmig – einlullend war dies Lied jener Reise. Und Constanze nahm die Musik jenes Lebens wahr, hörte den Takt der Räder, das Schlagen und Klirren der Schienen, wenn es über die urweltlichen Ströme des Mississippi und Missouri ging, lauschte dem Brausen und Sausen der Ventilatoren, die über ihr sangen, wenn sie sich zur Ruhe begab.

Städte mit großen, gewaltigen Namen standen wie Ausrufezeichen, ein Einhalt gebietender Taktstock längs ihres Weges, der sie unaufhörlich weitertrug …

Constanze liebte die Musik jener Reise – sie entspannte – schuf Abstand – gab Ruhe …

Gesichter kamen – blieben und gingen. Auch sie glichen dem Rhythmus des Lebens und Geschehens. Auch Menschen waren in ihr Leben getreten, hatten sie ein Stück des Weges begleitet und sie für immer verlassen …

Aber eines Morgens erwachte das Auge, das blicklos und blind hinausschaute. Die Landschaft trug ein anderes Gepräge. Blaue, purpurne Berge, deren Farben in einer brütenden Sonne ständig wechselten, – eine Landschaft, dünn besät mit Kaktusstauden, hier und da ein indianisches Pueblo oder eine spanische Missionskirche, – dann wieder eine seltsame steinige Wüste, eine Wüste, die farbig erschien, – dann Felsformationen, die vorweltlich anmuteten, – endlose Prärien – ein Tafelgebirge, auf dem Indianerpueblos klebten, – einzelne Yukkas, grotesk, malerisch, aufreizend und schön, von der Höhe eines Baumes – dann wieder verlassene Indianerpueblos und Felsenwohnungen. Constanze riß ihre Handtasche auf und suchte eifrig nach ihrer Landkarte.

Ein Herr, der ihr gegenübersaß, erkannte ihr Bemühen. »Wir sind heute nacht nach Neu-Mexiko gekommen«, sagte er, »wir fahren fast sechzehnhundert Meter hoch und diese Gebirge« – er zeigte dabei hinaus auf die amethystfarbenen gigantischen Bergketten – »sind die Ausläufer der Rocky Mountains. Wir fahren durch Indianerland.«

Indianerland, Indianerland! Warum hatte sie es übersehen, daß sie durch die Indianerterritorien kommen würde, als sie ihre Reise ausarbeitete?

Indianer! – Dies Wort allein rief die Erinnerung an ihre ganze wunderbare Kindheit wach, Lederstrumpf – Karl May – die Erzählungen des Vaters – die geliebten Gestalten: Winnetou – Old Shatterhand – Intschu-tschuna und andere. Das war ja die Heimat der Apachen, hier waren die Navajos, die Zunis, die Hopis. »Ach Gott – ach Gott – Indianerland«, sagte sie fassungslos.

Der Herr nickte: »Dort hinten liegt Arizona, der Grand Cañon und der Colorado.«

Und auf einmal hörte Constanze ihren kleinen Vater sagen: Meine Deern, wenn ich einmal alt bin, fahre ich mit dir zu den Indianern nach Neu-Mexiko, das war immer mein Wunsch!

Und Constanze dachte, daß ein jeder Mensch einmal sagt: wenn ich alt bin, dann will ich noch, – – und dann muß man doch abtreten, ohne daß der Wunsch in Erfüllung geht.

»Bitte – wo sind wir jetzt?« fragte Constanze und zeigte dem Herrn die große Eisenbahnkarte, die ihr mit dem Billett ausgehändigt worden war.

Der Herr – es stellte sich heraus, daß er Orangenplantagen in Kalifornien besaß, aber in Boston lebte – fuhr jedes Jahr mehrmals diese Strecke.

»Sie können mir sicher Auskunft geben«, fuhr Constanze fort: »Kann ich hier irgendwo aussteigen? – Ich möchte allzugern etwas von diesem Gebiet sehen.«

»Wir kommen heute abend nach Lamy. Von dort können Sie mit einem Autobus nach Santa Fé fahren. Sie fahren eine Strecke auf dem alten historischen Pfad: den Santa-Fé-Trail. Bis vor kurzem war es für den Durchschnittsreisenden unmöglich, dies Gebiet zu besichtigen, aber jetzt hat die Harvey-Gesellschaft, die auch Hotels an dieser Strecke gebaut hat, Touren oder Führungen veranstaltet. Auf diese Weise können Sie viel sehen.«

In dieser endlosen, erhabenen, zerklüfteten Prärie erblickte Constanze die ersten Indianer. Die Luft war von so unwahrscheinlicher Klarheit, daß sie oft vermeinte, es sei eine optische Täuschung, denn sie konnte ganz klar Menschen und Dinge erkennen, die einige Kilometer entfernt auftauchten.

Sie sah Indianer in rotleuchtenden Blusen und langen ledernen Hosen, an den Füßen die berühmten weißen, ledernen Mokassins, auf Pferden dahintraben, ein rotleuchtendes Seidenband um das blauschwarze Haar, das in einem gebundenen Zopf oder langsträhnig wie Adlerfittiche auf ihren Schultern lag. Sie sah einen Indianer, einsam, meilenweit entfernt von der nächsten Siedlung, mit einem Gewehr in hohem Gestrüpp stehen und ihrem Zuge nachschauen, der sein Land durchbrauste, – sein Land, das man ihm genommen und in dem man ihm nur Wüste, das ödeste und unfruchtbarste Gebiet dieses Erdteils, als Reservat gelassen. Oder sie kamen zu zweit auf einem Pferde sitzend. Riesige Cowboyhüte verdeckten ihre Gesichter. Einsame Indianer hüteten Schafe, von denen man sich nicht vorstellen konnte, daß sie in jenem wüsten Kakteengestrüpp noch Nahrung fanden.

Am Abend erreichte Constanze Lamy. Ihr Entschluß war gefaßt. Der Wunsch ihres Vaters hatte sie ergriffen. Sie würde versuchen, einige Einblicke zu gewinnen.

Nachts kam sie mit dem letzten Überlandautobus in Santa Fé, einer kleinen amerikanisierten Stadt, an und fragte den Autoführer, wo sie billig und sauber übernachten könne. Sie schlief in einem bescheidenen Gasthof, der sich stolz und bombastisch »Hotel Rio Grande« nannte. Als sie am nächsten Morgen erwachte und den Besitzer, einen Mischling, fragte, wie sie auf bestem, billigstem Wege nach El Taos, der berühmten zweitausend Jahre alten Indianersiedlung, kommen könnte, erwies es sich, daß seit dem ersten Oktober keine Ausflüge und Führungen dorthin mehr stattfanden. Es zeigte sich, daß das ganze Indianergebiet jetzt von aller Welt bis zum Frühjahr abgeschlossen lag, daß die Schneestürme seit Tagen über das Mesaland fegten – ja, daß es wirklich keine Möglichkeit für sie gäbe, dies Land und die Siedlungen zu sehen.

Frierend ging sie durch die Straßen, besichtigte das sehr reichhaltige Museum, das in einem alten spanischen Palast untergebracht war, hörte, daß sie bis zu dem amerikanischen Dorf El Taos noch kommen könne, da täglich einmal ein Überlandautobus dorthin fahre, und entschloß sich, ihn zu benutzen.

Aber es war ein ergebnisloses Vordringen. Dies El Taos vermittelte nichts von dem, was Constanze suchte.

Unterdessen stürmte es wieder – es war ein schneidender Wind, der durch den kleinen Ort fegte. Der Himmel sah schwarz aus. In der Ferne sah man die schneebedeckten Rocky Mountains.

Als sie an eine Straßenecke kam, erblickte sie einen Trupp von Indianern. Einige hielten Pferde am Zügel. Es war das erstemal, daß Constanze sie in der Nähe sah. Sie wirkten sehr malerisch, hatten über farbigen Blusen lederne Jacken. Ihre blauschwarzen Zöpfe waren mit bunten Lederriemen durchflochten. Ihre Gesichter waren mager, lederbraun, scharf geschnitten, die schwarzen Augen von hochmütiger Melancholie überschattet. Sie wirkten wie traurige Adler, die man in Käfige gesperrt hatte.

Sie unterhielten sich in ihrer leisen fremden Sprache …

Constanze ging auf sie zu: »Können Sie mir sagen, wie ich nach El Taos komme?« »Ihrem El Taos«, fügte sie hinzu. Sie bemühte sich, ein sehr klares, sehr reines Englisch zu sprechen. Die Indianer blickten sie einen Augenblick an – sie hatten einen merkwürdigen, durchdringenden Blick und berieten sich dann.

»Ich kann Sie hinbringen. Ich verschaffe mir eine Maschine«, sagte ein junger Mann, der einen großen Cowboyhut trug. Er war schmalhüftig, langhalsig, mit scharf markiertem Gesicht, großem kantigem Mund, einer gebogenen, dünnwandigen Adlernase und scharfblickenden, weit auseinanderstehenden Falkenaugen.

Sie fragte nach dem Preis – er war gering – sie sagte zu. Zehn Minuten später kam er mit der Maschine. Die anderen Indianer hatten sich entfernt. Es war ein kleiner zerbrochener Fordwagen, eine Blechbüchse, wie ihn der Indianer nannte. Überall quoll aus dem Sitz die Füllung hervor; es war nur noch ein Sitz neben dem Steuer. Constanze setzte sich neben den jungen Indianer, der schweigend das Rad zwischen die Hände nahm und vorsichtig durch den kleinen Ort fuhr. Man war sofort in der Prärie, und dann plötzlich fuhr der Wagen einem Gebirgskamm zu.

»Yes – no«, antwortete der Indianer einsilbig auf Constanzes Fragen. Der Wagen fuhr nun schmale Gebirgspfade. Unten schäumte ein reißender schmaler Fluß. »Rio Grande«, sagte er und deutete mit dem Kopf nach dem Strom. Der Wagen schraubte sich immer höher und höher. Man sah rote kahle Felsen – weiße harte Felsen, die viertausend Meter hohen, schneebedeckten Felsspitzen der Rocky Mountains und einen schwärzlichen Himmel, obgleich es erst Mittagszeit war.

Auf einmal erkannte Constanze blitzartig, was sie tat. Da fuhr sie mit einem Indianer mutterseelenallein, völlig unvertraut mit den Sitten und Gefahren eines Gebietes, in die abgelegenen Bezirke eines Indianerstammes. Niemand würde erfahren, wo sie verblieben, wenn ihr etwas zustieß. Wie eine Sturzwelle überkam sie die Erkenntnis, welch ungeheuren Gefahren sie sich ausgeliefert hatte, aber nun war es zu spät. – Sie blickte scheu auf ihren einsilbigen Begleiter, aber der hatte seinen ernsten Blick geradeaus gerichtet und nahm vorsichtig die Ecken und Windungen des schmalen Gebirgspfades …

Wenn er mich jetzt überfällt und dort unten in den Strom wirft. Constanze wagte es gar nicht zu Ende zu denken. Sie saß da, das Herz schlug ihr in der Kehle. – Auf einmal hob der Indianer die rechte Hand und deutete in die Höhe, sagte aber nichts. Und nun sah Constanze zu ihrer größten Beruhigung, daß ihr Begleiter sie wirklich nach El Taos brachte: die berühmten Pueblobauten, die fünf, sechs Stockwerke hoch übereinanderliegen, wurden deutlich erkennbar. Der Indianer hielt am Eingang des Pueblo und bedeutete ihr, er würde warten. Constanze legte eine neue Filmrolle in den Apparat und stieg aus.

In dem Augenblick, da sie die Indianersiedlung betrat, flüchteten die Frauen. Sie rissen die Kinder an sich – putzige kleine Wesen, beladen mit Muschel- und Türkisketten und in Faltenröckchen, die bis zu den Füßen hingen – und verschwanden in den Adobes, den Lehmhütten mit den flachen Dächern.

Unkundig jener gefahrdrohenden Anzeichen wanderte Constanze ruhig weiter und machte photographische Aufnahmen. Als sie einige besonders eindrucksvolle terrassenartige Lehmbauten aufnahm, von denen sie gehört hatte, daß sie Jahrtausende alt seien, sah sie Indianer auf den Dächern erscheinen und die Leitern einziehen, die von einem Stockwerk in die weiter oben gelegenen führten. Auch hier ahnte sie nicht, daß das nicht Furcht, sondern Haß bedeutete, und machte weitere Aufnahmen von den flüchtenden Frauen, die in den weißen oder bunten Sarape eingewickelt waren, von den Kindern mit den braunen Gesichtern und den ziegelroten Bäckchen, von den Männern, die unwirklich und malerisch in weißen Gewändern auf den Dächern standen und sie unheimlich still und regungslos beobachteten.

In der Mitte des Platzes stand eine Art Brunnen, aus dem eine Leiter hervorragte. Sie erinnerte sich, daß es eine Kiwa sei, das Heiligtum, in dessen Tiefe die Schlangentänze, die Kulte stattfanden, und ein glücklicher Stern bewahrte sie davor, in die Tiefe zu schauen und sie somit zu entweihen.

Sie besichtigte die runden Lehmöfen, die vor den Lehmhütten standen und in denen die Brote gebacken wurden, und machte Aufnahmen von den Korals, auf denen das Futter für die Pferde hing.

Ein paarmal schaute sie sich um, um ihren Wagen nicht aus den Augen zu lassen, und kehrte zuletzt zurück, so schwer es ihr wurde. Als sie einsteigen wollte, erblickte sie einen uralten, in ein weißes Wollaken gehüllten Indianer, der neben dem kleinen zerbrochenen Wagen stand und sie mit schwarzglitzernden, haßerfüllten Augen betrachtete. Er sprach in einer leisen, strömenden Sprache auf ihren jungen Begleiter ein, ihn beredend und mit den Augen nach ihr hindeutend. Sein weißes langes Haar hing unordentlich aus dem weißen Sarapo … In diesem Augenblick erkannte Constanze die große Gefahr, in der sie sich befand, und geistesgegenwärtig sprang sie schnell in den Wagen und befahl, umzukehren. – Sie sah, wie ihr Begleiter zu den Worten des Alten den Kopf schüttelte – verneinend – abwehrend. Es war zu offensichtlich, was da vorging. Constanze erfaßte alles, ohne die beiden zu verstehen. Der junge Mann schüttelte nochmals den Kopf, der Wagen sprang an, der Alte wich zurück, und mit beschleunigtem Tempo nahm der Indianer den Rückweg.

»Sagen Sie mir ehrlich«, sagte Constanze, als der Wagen langsam die steinigen Pfade hinabfuhr und sie die Gewißheit hatte, daß ihr Begleiter sie vor etwas Schlimmem bewahrt hatte, »was war geschehen?«

In mühsam zusammengesuchten englischen Brocken erklärte er ihr, daß sie Heiligtümer photographiert habe, was verboten sei, und daß der Alte sie zur Strafe habe völlig berauben wollen. Er habe sich aber geweigert, mitzutun. Er berichtete, daß seit kurzem der Haß gegen die Weißen bei dem zum Rassenbewußtsein erwachenden Indianer aufgeflammt sei, daß die jungen Indianer, die aus den Siedlungen herauskamen und von den Amerikanern in Schulen gesteckt wurden – sie würde solche noch in Albuquerque sehen –, zu der Erkenntnis gelangt seien, was man ihrem Volke seit vierhundert Jahren angetan.

Constanze staunte, wie klar sich der Indianer ausdrücken konnte.

Die Indianer Neu-Mexikos, so erzählte er ihr, wollten nicht mehr zur Schaustellung für die Weißen dienen, sich nicht mehr angestaunt sehen wie Tiere im Zoo. Sie wollten sich nicht mehr besichtigen, photographieren, ausfragen lassen.

Zu spät habe der Amerikaner nun erkannt, daß er Unrecht getan, die Ureinwohner eines Erdteils zu verdrängen und ihnen das unfruchtbarste, schlechteste Land zu belassen. Sie sähen auch nicht, daß sie sich selbst das Grab schaufelten, wenn sie die Indianer zu Amerikanern erziehen und umformen wollten. Das Gegenteil trete ein.

Dies alles hatte Constanze aus dem Indianer herausgeholt, als sie das amerikanische El Taos erreichten. Sie hatte Mühe, dem jungen Mann eine größere Summe Geldes aufzudrängen – als Dank. Er nahm es dann, aber fast widerwillig und mit einem gewissen Hochmut in den weit auseinanderstehenden Augen.

»Ich danke Ihnen«, sagte die junge Frau und reichte ihm die Hand.

»Haben Sie Vertrauen zu mir?« fragte er zögernd.

»Nun – wenn ich das nicht hätte – nach allem …« Constanze verstand nicht, was er ausdrücken wollte.

»Dann will ich Ihnen noch ein paar Tage lang unser Land zeigen«, fuhr er fort. »Die Cliffhöhlen von Puyés und la Friyoles – die painted desert, die farbige Wüste –, den versteinerten Wald – die Hopiindianer in Arizona – den Grand Cañon – den Colorado …«

Constanze benahm es fast den Atem. Wenn sie das sehen könnte! Wie oft hatte der Vater ihr davon gesprochen. Und der Mann hatte bewiesen, daß er vertrauenswürdig war. Sie sagte zu.

Die Erlebnisse der Tage, die dann kamen, waren so unwirklich, so abenteuerlich, so fern ihrem bisherigen Leben, daß sie augenblicksweise vermeinte, Constanze Andergast sei in München geblieben – sie sei eine Doppelgängerin ihrer selbst, die sich einer anderen Kultur, einer anderen Welt, einem anderen Leben verschrieben …

In der ersten Nacht, die sie in einer Adobehütte bei den Navajos oben im Gebirge, fast dreitausend Meter hoch, verbrachte, vollzog sich etwas in ihr, das ihr völlig unbewußt blieb … sie verlor das Gefühl für Zeit und Raum.

Im Laufe der Monate, die dann folgten, verharrte sie in diesem Zustand, dessen sie sich nie voll bewußt war, der später nur dem Freunde in Mexiko auffiel und der ihn veranlaßte, sie nicht zurückzuhalten, als sie eines Tages aufbrechen wollte. Denn er allein erkannte bestürzt, daß in Constanze sich das vollzog, was er ihr in Warschau angedeutet hatte: sie war der Gefahr dieses Indianerkontinents, der zu starken vorweltlichen, merkwürdig zeitlosen Atmosphäre erlegen. Jener Welt, die andere Begriffe von Zeit – Logik – Weltraum und andere religiöse Vorstellungen besitzt. Es ist ein hoffnungsloses Beginnen, jemals zu schildern, was ich erlebe und sehe, dachte sie nur, wenn Sam tierartig geschmeidig neben ihr herschritt, die Zügel des Pferdes hielt, auf dem sie saß, und sie über berühmte, verschollene Indianerpfade führte. Nie sah sie ihn ermüdet. Er lehnte es ab, ein Pferd selbst zu besteigen, erklärte ihr, daß es für sie unmöglich sei, diese beklemmend abschüssigen Pfade, die oft über tausend Meter neben einem schwindelerregenden Abgrund in die Tiefe führten, ohne seine Hand am Zügel zu bewältigen.

Nie überkam sie Furcht. Nie ein klares Gefühl für das Eigenartige, Einmalige, Mutige und Abenteuerliche ihres Verhaltens, da sie tagelang meist zu Pferd durch die berühmten Indianergründe Neu-Mexikos, Colorados und Arizonas zog. Durch die Furten der urweltlichen Ströme des Rio Grande und des gelben, schmutzigen Colorado.

Der sie umfassende Horizont war so fern – so an der Grenze der Himmelswölbung, daß er Raum gab für Bilder und Naturereignisse, die einander in höchstem Grade widersprachen. Ein Sonnenuntergang im Westen warf Reflexe auf östliche Wolkenberge. Heftige Regenströme brausten im Süden herab, und jenseits senkten sich zwei Regenbogen zur Erde auf dem Hintergrunde schneebedeckter, viertausend Meter hoher, purpurner Bergketten. In all diesen Farbkombinationen gab es wenig Grün. Nur am Himmel glotzten blasse Flecke wie Grünspan. Die Berge wechselten ihren Ausdruck unausgesetzt. Rote, gelbe, blaue, violette Schatten wechselten mit beruhigendem Grau und dann wieder blendendem, verwirrendem Weiß, wenn die Sonne schien … Die Luft war kühl, trocken, stimulierend wie Sekt. Man ermüdete nie. Nach Tagen gewaltiger Schneestürme brach die Sonne hervor, so daß es in den Höhen fast heiß war.

Constanze saß auf dem Pferd, dessen Sattel den Imbiß für einen Tag barg. Sam füllte ihn stillschweigend auf, wenn sie in die Siedlungen kamen, mit Brot und Früchten, die Constanze nie gesehen, und Wurzeln, die den Durst stillten.

Zweimal begegneten sie Weißen am Rande des Grand Cañon. Es war ein eigenartiger Anblick, als die blonde Frau in kurzärmeliger weißer Bluse, ein Seidentuch um den Hals geknotet, geführt von einem großen, ernst dreinschauenden Indianer, dessen Rabenhaar ihm wie Gefieder um den Kopf lag, aus der Tiefe der Schlucht emportauchte. Die Reisenden, die am Rand der unermeßlich tiefen Schlucht standen und den Anblick genossen, den das in allen Regenbogenfarben schillernde Tafelgebirge bot, und hinabschauten auf den Colorado, der von hier oben wie eine kleine gelbe Eidechse aussah, stutzten, als die zwei vorbeikamen und jenseits wieder verschwanden, dort, wo die painted desert, die farbige Wüste, begann.

Sam machte sie aufmerksam auf die vielen Gefahren, die für den bestanden, der ohne Führung von Indianern in ihre Welt eindrang: Klapperschlangen, Wüstentriebsand, der ganze Automobile verschluckte, – Ströme, die durch schwere Wolkenbrüche entstanden und alles mitrissen und so schnell versickerten, wie sie auftauchten. Sie kamen zu den prähistorischen Felsenwohnungen und stiegen mit Leitern hinauf. Überall waren seltsame Bilder, Tiere, Vögel und Fische in die Felsen geschnitten. Er brachte sie nach Mesa Verde, von wo man die vier Staaten, Utah, Colorado, Neu-Mexiko und Arizona überblicken konnte. Es war ein gigantischer Anblick, und der Indianer stand da und streckte die Hand aus mit einer weiten stolzen Gebärde wie Gottvater, als er die Welt schuf.

Sie trafen die Puebloindianer, die Hopis, die Zunis und die Navajos. Und Sam erklärte ihr die Unterschiede ihrer Stämme und Kulte, ihre Gebräuche und ihre Fähigkeiten. In Santa Clara sah sie die berühmten schwarzen Tongefäße, die die Frauen mit der Hand formten, in der Sonne trockneten und, mit Schafs- und Vogelmist verpackt, in den Backöfen langsam brannten, so daß sie durch diese Exkremente jene schwarze Tönung bekamen. Der Lehm war von besonderer Art und oft mit pulverisierten Muscheln und Schalen vermischt. Herrliche Tongefäße waren es, die sie mit roter Farbe, oxydierten Eisenfarben, bemalten. Die Frauen webten prächtige Teppiche und Sarape mit wunderbaren echten Farben, die sie selbst erzeugten. Sie sah zu, wie die Frauen das Gelb durch Kochen im Urin, das Blau durch Zusatz von Kupfererde und andere Farben durch den Saft von Schierling und Kräutern erzielten.

An einem Abend gelangten sie, nachdem der Indianer das Pferd an eine Zeder gebunden hatte, auf Leitern und schmalen, in den Fels gehauenen Stufen in ein Pueblo, das gleich einem Vogelnest an einem wenige Kilometer breiten, hohen, tafelartigen Felsen hing. Diese Felsenplateaus, die man Mesas – Tafeln – nennt und die dem Land den Namen Mesaland eingetragen haben, wurden selten von Weißen erreicht. Dort erlebte Constanze zum ersten Male den Tanz der Apachen.

Sie tanzten zur Feier des Mondes, und es war so unfaßbar für Constanze, dies erleben zu dürfen, daß sie die ganze Nacht vermeinte, ein Traum halte sie umfangen. Sie sah die kupferdunklen Männer im Tanzschritt dahinschreiten. Die Nacht war klar. Der leuchtendste mexikanische Mond stand am Himmel. Die fernen Felsen schimmerten rosa. Der Himmel war tiefsammetblau, und nicht einmal der Mond konnte den Glanz der ungeheuren nahen, tanzenden Sterne mindern. Aber unter den tanzenden Sternen tanzten die roten Männer, und während der ganzen Nacht schlugen die Trommeln einen dumpfen, klagenden, eintönigen Laut in seltsamem Rhythmus, der den Rhythmus der Schritte begleitete. Man tanzte den Adlertanz und hob die mit Adlerfittichen geschmückten Arme wie Schwingen. Man ging zum Regentanz über und trug Masken, die unheimlich leuchteten, blutrote Masken mit einer gelben Eidechse auf der Stirn und einer Kröte am Kinn, den Symbolen der Sonne und des Regens. Dann kamen der Korntanz, der Yei-beichai, der Spinnentanz und der Feuertanz … Man tanzte die ganze Nacht. Kein Feuer brannte außer einigen Fackeln, die die Frauen trugen – Frauen in weißem Sarapo, die Beine in hohen, weißen, ledernen Schnürstiefeln. Die Männer trugen Fuchsschwänze, die ihnen am Gürtel hingen. Ihre Füße in gefransten Mokassins schlugen leise die Erde. Einigen war das Schlangensymbol auf ihre Stirn gemalt. Die Federbüsche boten ein kriegerisches Bild, und die Rasseln, aus den Gurgeln der Truthähne gefertigt und mit Schafszehen gefüllt, gaben, an ihre Kniekehlen gebunden, einen leisen knatternden Ton bei jedem Tritt. Unzählige Ketten aus Türkisen und Muscheln schmückten ihre nackten Oberkörper, die mit langen roten Streifen bemalt waren, was furchterregend wirkte.

Constanze beobachtete Sam. Sein Antlitz war völlig verändert. Wenn er auch selbst nicht tanzte, so tanzte sein Geist diesen mystischen Tanz unausgesetzt mit … Seine Augen hatten ekstatischen Glanz, als er den Stamm tanzen sah, sich vorwärts und rückwärts schwingen, die Knie beugen, die Füße die Erde treten, sich wenden, halten und wieder beginnen. Sie verloren nie den Rhythmus, sie ermüdeten nie, es ging so die ganze Nacht, bis der Mond verblaßte und nach wenigen Minuten der Dämmerung am Horizont der Wüste rote Strahlen emporschossen.

Am nächsten Morgen wanderten sie weiter.

Hier und da tauchten kleine spanische Missionskirchen auf, aber Sam sagte ihr, daß seine Brüder dort nur der Erde und dem Morgenstern, dem Regen und dem Monde opferten. Alles war voller Wunder. Aber das Wunderbare war nicht länger unwahrscheinlich in einem Lande, wo der ferne Regen in sonderbaren schwarzen Strähnen niederbrauste, den blauschwarzen Haaren gleichend, die den Indianern in Strähnen bis zur Hüfte fielen, – in einem Lande, wo die Sterne und die Regenbogen so greifbar nahe waren wie die gemalten Symbole, die Männer auf Stirn und Kinn trugen …

Je weiter sie kamen, je mehr eröffneten sich ihr Ausblicke in ein Land der Mythen, das keine Geschichte kannte und das in jahrtausendalter Überlieferung zeitlos dalag.

Nachts schliefen sie in den Adobehütten, die mit blutroten Girlanden des trocknenden Pfeffers behangen waren. Innen weiß getüncht und von unglaublicher Sauberkeit, bestand die einzige Einrichtung meist in einem Tisch, einem Stuhl und einem Lager mit selbstgewebten Decken. Sam bereitete ihr aus dem Sattel und einem mitgebrachten Sarapo ein Lager, auf dem sie ermüdet sofort einschlief.

In der letzten Nacht, als sie nicht schlafen konnte und vor die Tür trat, stand plötzlich lautlos der Indianer neben ihr. Sie erschrak nicht, denn die ganzen Tage war er von einer Ehrerbietung ihr gegenüber, die sie immer wieder überraschte und beglückte. Sie war doch noch jung und eine Frau; aber nie behandelte er sie anders, als dürfe kein anderer Gedanke sie streifen. Die Nächte in der Wüste waren nicht schwarz, auch wenn der Mond nicht schien. Die Sterne hingen unwahrscheinlich groß und nahe in einem tiefblauen Himmel über ihr, und die roten und grauen und lila Töne der Prärie waren nie völlig erloschen. Nur die Kakteen und seltenen Zedern wirkten schwarz.

»Sehen Sie«, sagte Sam und zeigte ihr einen. mattschimmernden Regenbogen, der eingebettet schien in Milliarden glitzernder, tanzender roter Sterne, »an einem Ende steht der Regenbogen in einem Topf mit flüssigem Gold – an dem anderen Ende in dem Mutterschoß der Erde. Wir sind hier im Mittelpunkt der Welt.«

Constanze erschauerte. Der Indianer blieb schweigend stehen und lauschte angestrengt in das Weltall: »Ich höre den Klang der wachsenden Pflanzen, ich höre das kristallene Tönen der Sterne, das Singen der Sphären, ich höre, wie der Mond ruft: ›wacht auf – wacht auf und erhebt euch‹ – ich vernehme den Morgenstern, der uns Kraft schickt.« Er sagte das in einem eintönigen Rhythmus, daß es wie eine unheimliche monotone Musik klang. Dann schwieg er wieder. Plötzlich bückte er sich, brach zwei kleine Zweige von einem harten Präriebusch und legte sie gekreuzt unter einen Stein. Constanze sah ihn an, sie wagte nicht zu fragen. Aber Sam, der ihre unausgesprochenen Fragen stets beantwortete, sagte: »Ich bin ein Zuni; wenn wir danken wollen für etwas Schönes, das uns widerfahren ist, so legen wir zwei gekreuzte Zweige – das ist der Morgenstern – unter einen Stein.«


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