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11

Dann kamen Tage, die nie enden wollten, Tage, in denen Constanze fühlte, wie seit jener Nacht eine Wand zwischen Christian und ihr stand, eine Wand, die sie nicht niederzureißen vermochte.

Es kamen Tage, da Constanze grübelte und mitten in der Arbeit den Kopf hob und nachsann, wo sie ähnliches einmal gelesen, wo das gleiche beschrieben war, das ihr angetan.

Und eines Tages wußte sie es: es war in Goethes »Wahlverwandtschaften«. Sie zog den Band aus der Bücherei, suchte die Stelle – ja, aber beide Partner betrogen sich. Auch da war die Nacht die Kupplerin, die ihren Schleier lieh.

Es kamen Nächte – ja, jede Nacht lag sie wach und erregt da und ängstigte sich, daß das Erlebnis sich wiederholen könne. Sie hörte Christian seufzen, sich unruhig hin- und herwerfen … Tausend unausgesprochene Fragen füllten den nächtlichen Raum. Es schien ihr untragbar. Und so sollte es Wochen, Monate dauern … diese Nächte der Spannung, der Entfremdung, – Christians Nähe und ihm doch so fern? …

Sie horchte auf seine Atemzüge, bis sie sich verloren … Erst dann entspannte sie sich und suchte einzuschlafen.

Und so geschah es, daß ihr Entschluß nicht aus Unüberlegtheit oder Erregung entstand, sondern es erschien ihr mehr wie eine glückliche Fügung, daß ihr ein so merkwürdiges Angebot vor wenigen Tagen gemacht worden war, ein Angebot, das sie auf längere Zeit von Christian trennen würde, auf eine Weise, die ihr selbst große bereichernde Erlebnisse schaffte. Und vielleicht würde der plötzliche Entschluß Christian zur Besinnung bringen, ihm zeigen, wohin sie trieb.

Und so stand sie eines Morgens – es war erst der fünfte Tag nach ihrer Rückkehr – am Postschalter und überlegte, ob das Telegramm Dr. Reinhardt noch in Warschau erreichen würde. Sie telegraphierte, ohne Christian zu fragen, ohne mit Anna zu sprechen.

Sie fragte an, sie sagte zu, sie erwartete Bescheid, ob es wirklich passe.

Als sie das Postamt verließ, sagte sie sich: ein »Ja« kommt – also die Würfel sind gefallen, – ich gehe fort.

Auf einmal sah sie, wie alles kommen würde: sie legte das Antworttelegramm auf Christians Schreibtisch und setzte mit eigener Schrift die Worte voraus, die sie Reinhardt gesandt hatte. Christian würde aufs tiefste erschrecken – sie sah es ganz deutlich vor sich – er würde zu Tode erschrecken – er würde sie in die Arme nehmen – er würde sie nie und nimmer reisen lassen – es würde alles – alles gut.

Constanze sah all das beängstigend nahe, herrlich klar … Sie ging beschwingten Fußes, ihr kleines Seidentuch wehte. Die Sonne kam gerade durch, ein gutes Omen, dachte sie abergläubisch wie alle Verzweifelten.

Und Reinhardt? – Das war nicht schlimm. Jeden Augenblick konnte sie noch eine Absage senden, daß sie unabkömmlich sei …

Wie wunderbar doch heute die Sonne schien!


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