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Hartmann hatte sich wirklich Urlaub genommen und war in die Stadt gekommen. Er wohnte im Hotel Isabelle in der Avenida del Catolica.
Reinhardt begrüßte es. Er wollte sich im Januar freimachen und nach Chichen Itza – nach Jucatan, um dort zu arbeiten, und Constanze mitnehmen. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte er sich ihr nicht widmen. Es waren zu viele Ausländer gekommen, die ihn sprechen wollten. Diese Besprechungen nahmen ihm viel Zeit. Seine große Arbeit kam nicht so vorwärts, wie er gehofft hatte. Mit Marianne war nicht zu rechnen. Er verstand, daß ihre ablehnende Haltung Mexiko gegenüber lähmend auf einen Menschen wirken mußte, der doch alles aufnehmen und verarbeiten wollte, wie Constanze es tat.
Sie hatte ihm eines Abends eine ganze Mappe kleiner Entwürfe für Goldschmiedearbeiten vorgelegt, die in letzter Zeit entstanden waren – angeregt durch die Eindrücke, die sie hier empfangen hatte. Alle Ornamente trugen etwas von der Schwere und Symbolik toltekischer und aztekischer Kunst – abgewandelt in die Ausdrucksform europäischer Gestaltungsweise. Eines war also sicher; sie hatte wirklich viel aufgenommen, von dem sie noch Jahr und Tag zehren konnte. Auch der Entwurf für Marianne, den sie ihm vorlegte, gewann seinen Beifall. Sie würde den Schmuck in München arbeiten. Hier war es ohne ihre Werkzeuge und ohne ihre Werkstatt völlig unmöglich.
»Ja, ich bin froh, daß Hartmann hereinkommt«, sagte er. Er saß ihr gegenüber oben in dem Raum der Sammlungen, die Zeitungen des Tages auf den Knien.
»Sie haben die Stadt und die nähere Umgebung gesehen, weiter dürfen Sie nicht allein vordringen, mit Hartmann können Sie große Touren machen, nach Quadalajara, nach Acapulco, in die Tropen … Und später, wenn Sie erst Jucatan gesehen haben – nun, dann haben Sie doch schon einen gewissen Eindruck von Mexiko erhalten.«
»Das habe ich schon jetzt«, sagte Constanze. Es klang dankbar – gewissermaßen gesättigt. Sie saß da, in einem grauen kurzärmeligen Leinenkleid, das sportlich gearbeitet war, mit großen aufgenähten Taschen. Sie saß da, etwas mager geworden, das zinnblonde Haar lag ihr straff um den Kopf. Alles wirkte an ihr silbergrau in der fahlen Beleuchtung, die durch die geöffneten Fenster fiel. Vom Chapultepec-Park her hörte man den Schlag der Nachtigallen …
»Ja, ich bin froh, daß Hartmann kommt«, wiederholte Reinhardt und hob die Zeitung. »Haben Sie schon gelesen?«
»Mein Spanisch ist noch hoffnungslos«, unterbrach Constanze lächelnd.
»Nun, das Land ist ja immer unsicher, gesetzlos und wild. Aber die letzten Nachrichten lauten wenig erfreulich: In der Abenteurer- und Ölstadt Tampico und auf den Silberminen hat sich sehr viel bewegliches und unzufriedenes Proletariat angesammelt, das sich gern von bolschewistischen Agenten einfangen läßt. Manche Banditen, sogenannte »Generale«, die nach den Bürgerkriegen unter Calles flüchten mußten, wären einem Abenteuer nicht abgeneigt. Auch im Staate Chihuahua, durch den Sie gekommen sind, brodelt es … Es wird sich zeigen, ob Präsident Cardenas über genügend Machtmittel verfügt, um jede Auflehnung im Keime zu ersticken.«
»Heute morgen«, sagte Constanze, »sah ich eine wütende, zu Tausenden zählende Menge zum Palast des Präsidenten stürmen. Sie trugen rote Fahnen. Ich konnte nicht verstehen, was sie wollten.«
»Hier steht es schon«, sagte Reinhardt betroffen. »Sie haben zwei Lehrerinnen mit abgeschnittenen Ohren zu ihm gebracht … Und hier … steht, daß sie den Lehrer Mario Murillo mit Pferden zu Tode schleiften.«
»Ja –, ein schönes – friedliches Land«, sagte Marianne mit leisem Spott. Sie war eingetreten und stand hinter Reinhardts Stuhl. Sie legte ihre Hände in liebkosender Gebärde um seine Stirn. Wellen der Erinnerungen spülten um Constanzes Seele – sie verwoben sich mit Hartmann und verschwanden wieder.
»Bitte, hört weiter«, sagte Reinhardt erschrocken, »am Montag ist der Zug, der von Mexiko nach Vera Cruz fährt, durch ein Bombenattentat von einer Brücke gestürzt. Achtzehn Tote. Ja – ja, es sieht ernst aus.«
»Stimmt das eigentlich, daß noch Indianerstämme existieren, die Menschen opfern?« fragte Constanze und sah scheu zu den ausgestopften Menschenköpfen hinüber. Es war dämmrig geworden, so daß sie nur das blonde, helle Köpfchen wahrnahm, das Köpfchen mit der Mähne silbrigblonden Haares, das dem ihren glich.
»Sie brauchen sich nicht zu ängstigen«, sagte Reinhardt, »im Staate Chihuahua und Sonora sollen allerdings noch Indianerstämme leben, Nachkommen der alten Aztekenkönige. Die Priester dort sollen die uralte Religion lebendig erhalten und Menschenopfer bringen. Forscher, die halbverhungert und elend von dort kamen, berichteten es. Aber Hartmann wird nie so leichtsinnig sein und irgendwelche gewagten Exkursionen mit Ihnen unternehmen. Dazu kennt er die Gefahren zu genau. Er ist mit dem Lande und der Sprache vertraut, kann einige Brocken verschiedener Indianerdialekte, ist ein forscher Kerl – nein, Sie können sich ihm völlig anvertrauen.«