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Ob die Schamhaftigkeit ohne Augengläser völlig bestehen könnte?
Diese Frage könnte noch genauer ausgedrückt werden: denn ich möchte beinahe sagen, die Schamhaftigkeit beider Geschlechter wurde erst mit dem Augenglase erfunden.
Junge Schönen sehen mit ihren Augen, die keine Arbeit an nahen Gegenständen abstumpfet und die das tägliche Zielen in die Ferne nur noch mehr zuschärfet, leider weit und man erschrickt darüber öfters. Je grössern Raum sie nun umschauen können, desto mehrere ärgerliche Gegenstände müssen ihnen begegnen und nur ganz blinde Damen können fast gar keinen anstösigen Gegenstand erblicken. Sonst hatte das Alter die Erfindung eines zweiten Auges, der Brille, vonnöthen: allein tausendmal nöthiger war iezt für die Jugend ein zweites Augenlied, ein Ding offenbar wie ein Scheu- oder Augenleder der Pferde, kurz ein Glas zu schleifen, das die Augen hinlänglich schwächte und ihnen das Weitsehen versperrte.
Ich bin überführt, das Augenglas der Operngucker u. s. w. thun beides. Ich hatte oft die Ehre, hinter Damen aufrecht zu stehen wenn nicht zu sitzen, die sich mit dem weitesten Gesichte gepeinigt sahen: diesen riet ich dawider fleißigen Gebrauch der Augengläser an: nun sagen sie an mehr als einem Orte, sie wären froh mir gehorcht zu haben, und wären iezt wirklich fast halb blind. Was würde der alte Gelehrte Passeratius, der ein Lob auf die Blindheit niederschrieb, dazu sagen, wenn er sähe und läse, daß gut erzogene Damen sie um der Schamhaftigkeit willen liebhaben und suchen? Er würde, denk' ich, ohne Umschweif sagen, sie irrten nicht; ia er würde dies mit tüchtigen Beispielen befestigen und etwann so fortfahren wollen: denn iede Dame mit entkräfteten Augen kann ohne den geringsten Schaden der Schamhaftigkeit einen Polaken oder Halorum oder Matrosen nakt von der Brücke, über die sie trippelt, ins Wasser springen sehen; eben so wenig kann sie den Herrn von weitem erkennen, der sie gleichfals nur in der Nähe erkannte; so auch ihren Gemahl gar nicht, wenn er ihr beim Wegfahren aus dem Schauspielhause aufstösset – und was unsere kurzen Gillets anlangt, so sind sie ihrem kurzen und daher keuschen Blick so wenig anstössig, daß man denken sollte, sie wären um 4 Zolle länger. Ich kenne den Passeratius von allen Seiten viel zu gut, als daß ich nur einen oder mehrere von meinen Lesern überreden möchte, er ließ' es dabei bewenden: er wird das Lob der Damen aufs Höchste treiben wollen und fragen, ob Demokritus mehr gethan? Ich glaube schwerlich: Demokritus iätete, um ungestöhrter zu philosophiren, – wiewol es noch dazu gar nicht wahr ist – seine beide Augen aus und erreichte dadurch nur mit Noth die Damen, die sich völlig blind machen, um sich schamhaft zu machen. Wenn ichs im Vorbeigehen gestehen darf, so laufet wol dem griechischen Philosophen niemand weiter vor als der deutsche, der der Logik und Metaphysik nicht nur, um sie ungestöhrter zu treiben, seine leiblichen Augen aufopfert, sondern auch seine geistigen.
Mein zweiter eben so feuriger Wunsch ist, zu beweisen, daß das Augenglas, das, so bald mans vorhält, seiner Absicht nach das beste Auge hindern soll, etwas zu sehen, dieser Absicht entspreche. Man wird lachen und mir entgegenstellen, beim Operngucker müste mein Beweis vor der Hand hinken. Ich gesteh' es, durch ihn sieht man: allein ich frage auf und mit dieser Zeile alle Damen, ob sie den Operngucker nicht allemal eh' sie durch ihn schaueten, so weit oder sowenig auseinandergezogen, daß sie, wenn ich anders noch meine Dioptrik weis, unmöglich im Stande waren, etwas rechts zu ersehen und ob nicht meines Bedünkens ihre ganze Absicht dabei gewesen, blos unverschämt zu scheinen, in der That aber es nicht zu sein, wie etwan der große Aristides mehr gerecht zu sein als zu scheinen suchte? Gute Damen können mich allemal eines Bessern belehren: aber ich kann mirs nicht vorstellen. Eben so ziehen sie die Augengläser ungezweifelt nur deswegen aus den Futteralen, damit sie nichts sehen können und daher sind sie so konkav geschliffen; denn ich erbiete mich die ganze Sache vor iedem Gerichtsstand zu beschwören, weil ich oft wol tausende höflich zwischen die Finger genommen und durch diese tausende, so weitsichtig sonst meine Augen sind, doch auf keine Spanne weit vor mich voraus zu schauen vermögend gewesen; wie viel weniger vollends eine übermässig kurzsichtige Dame!
Ich bitte die deutschen Moralisten, ob dieser schamhafte Gebrauch des Augenglases, den ich noch besser zu erweisen habe, nicht den entgegengesezten gut macht, zu dem einige den Fächer bestimten. Freilich wollten die Wienerinnen vor langer Zeit durch milchflorne Fächer den nakten Mohren des tripolitanischen Gesandten (wiewol er vom Kopf bis auf den Fuß ganz in den spanischen Schleier der allgemeinen Züchtigkeit eingemummet war) gewissermassen ansehen, und das kleine Glas in den Fächern der Pariserinnen soll wie die Stäbe der Deutschen bis auf diese Stunde nichts verdecken als das sehende AugeWollte man sagen, der Fächer wäre eine Paradeschildwache der Schamhaftigkeit, so sezte dieser lächerliche Ausdruck voraus, sie wäre noch am Leben: nennte man ihn aber eine Leichenwache derselben, so behauptete man ia gerade das Gegentheil. Viel nüzt er der Schamhaftigkeit noch dadurch, daß iede, wenn sie sich anstellen muß als betete sie, ihn dabei vorthut. Schamhaftere Mannspersonen entbehren diesen Vortheil ungern; wir müssen uns, wenn wir die Mine und Stellung des Gebets annehmen müssen, ganz ohne Fächer hinstellen und uns von Unverschämten ins nakte Angesicht bei einer Handlung schauen lassen, über die wol ieder erröthen muß, wenn er auch nur einigermassen die Religion verachtet. . Allein' ich werde den Augenblick den bessern Gebrauch des Augenglases so gut als möglich, ia noch besser darthun.
Selten geht eine ganz angenehme Dame (schlechtere handeln freilich anders) vor einem ärgerlichen Gegenstande, vor einer unangezogenen Statue, oder einem Badorte vorbei, ohne – gesezt auch die Gegenstände lägen so weit ab, daß sie solche kaum sehen könnte – das eine Auge gar ganz zuschliessen und vor das andere den Wall des Augenglases aufzufahren, um nichts zu sehen; und nach solchen Vorkehrungen, sagt iede, leide ihre Schamhaftigkeit dabei fast nichts. Da man sich auf dieses Glas völlig verlassen kann: so nehmen schwache aber gutgesinnte Schönen dieses durchsichtige Schild öfters vor, wenn sie gegen die Angriffe entfernter Herren wenig zu bestehen fürchten und machen, so wie der Naturforscher sich das goldne Insekt durch ein vergrösserndes Glas sichtbar macht, sich dasselbe durch ein verkleinerndes unsichtbar: ist die Liebe ein Feuer, (»wovon man Beispiele hat«) so ist so ein Glas nichts anders als eine Brandmauer. Daher verschämtere Damen in der Kirche, wo die Andacht vor den häufigsten Versuchungen kaum zu Athem kömmt, diesen Lichtschirm wol nie vom Auge bringen, und die Kanzel wäre der Plaz, wo das Lob eines solchen Betragens hingehörte. Es war neulich durchgängig nicht mein Ernst, da ich die Schamhaftigkeit solcher Damen weniger geordnet und zweckmässig als übertrieben fand, die wirklich im Schauspielhause, sobald ein gefährlicher Schauspieler aus der Kulisse schreitet, zwischen ihre Finger, woran sie offenbar keine besondern Ringe zu zeigen haben, iene Schneebrille in der Absicht nehmen, sich dadurch gegen seine übermannenden Reize, vielleicht auf Kosten der theatralischen Täuschung, glücklich zu verpanzern. Diese Schamhaftigkeit ist, ich wiederholt es deutlich gar nicht überschraubt, sondern ganz noch in den Gränzen, worin sie eine große Tugend bleibt.
Indessen will ich nicht gerade haben, daß der gröste Theil der Welt Abwesenheit des Augenglases für Abwesenheit der Schamhaftigkeit ansehe. Hätt' ich selber zuerst dieses bedacht: so hätt' ich genug unmöglich in meiner vergriffenen Städtebeschreibung von Wien die Tugend einer alten und einer iungen Dame blos darum in Zweifel ziehen können, weil die alte auf die Gemälde, an denen wir vorher eine seidne Schürze aufzogen und die im ganzen genommen so unzüchtig waren, daß sie iedem gefielen, mit blossen Augen, und die iunge durch die Stäbe des Fächers hinblikten, ohne freilich nur an ein Augenglas zu dencken. Allein ich hätte annehmen sollen, ihr Gesicht wäre so schwach daß sie damit so wenig gesehen als hätten sie das Glas selbst in Händen. Künftighin hab' ich mir daher vorgenommen, bei iedem verehelichten Weibe, das anstössige Dinge nur mit unbewaffnetem Auge besiehet, auf die richtige Vermuthung zu verfallen, es sei gewissermassen halb blind, besonders wenn es gar dem anstössigen Dinge näher zu treten versuchte.
Es war nie meine Sache mich zu stellen, als übersäh ich den großen Werth sogenannter iunger und feiner Herren und ihre Schamhaftigkeit ganz. Denn wie kann ichs vergessen, daß ich selbst mit einem über 30 Meilen gereiset, der die Schwächung seine Gesichts aus einer unschuldigen Liebe zur Schamhaftigkeit (man mochte ihn immer wegen seiner Tugend lächerlich machen) durch Augengläser so hoch brachte, daß er in wenigen Quatembern nur die nächsten Gegenstände und zuletzt nur den allernächsten, nämlich sich selbst erkennen und besichtigen konnte: ia das nöthigte (und man hatt' es ihm prophezeiet) ihn zulezt, in den glänzendsten Geselschaften voll der herrlichsten Dames und Herren seine Blicke blos auf das nahe Gebiet seines Ichs, auf seine Gliedmaßen, seine Kleidung einzuschränken und sein Vergnügen gänzlich an und in sich selbst zu suchen, gerade als wär' er ein weiser Mann.
Er fixirt oft sein Bild im Spiegel: allein Leute, die viel zu voreilig in Urtheilen dieser Art verführen, würden es mehr seiner Kurzsichtigkeit als einer wirklichen Begierde beimessen, einer ganzen Gesellschaft unendlich nützlich und verständlich zu sein. Es ist aber nicht wahr. Es ist ihm aus Lavaters Fragmenten recht gut bekannt, daß dieser wenn er Kinderlehre hält, allemal das schwächste und einfältigste Angesicht, das nur in der Kirche aufzutreiben ist, anblicke, um nach diesem Gesichte die Faslichkeit seines Vortrags völlig zu stimmen. Da nun der gedachte feine Herr wol in ieder Gesellschaft der klügste ist und lauter Zuhörer rings um sich sieht, die er fast wie Kinder zu behandeln und zu belehren hat: so ists ia sicher etwas bessers als Eitelkeit, was seine Augen auf sein Bild im Spiegel heftet, damit er am schwächsten Gesicht den Maasstab vor sich sehe, nach dem er die minder schwächern zu behandeln habe. Es versteht ihn dann, sobald er diesem schwachen Gesichte nämlich seinem eigenen faßlich geworden, iedes andere nicht schlecht. Das ist nicht Eitelkeit, sondern Demuth, aber viel zu große.
Man muß von der andern Seite bekennen, daß wenn ich in feinen und scharfsinnigen Gesellschaften den Ton angebe, mir mein Gesicht im Spiegel recht gut zu statten komme.
Ich vergess' es am wenigsten, daß ich in Leipzig oft aus Kirchthüren heraus kam, aus denen hernach iunge Herren zogen, die nicht nur davor zwei Reihen (ich stellte mich selbst mit darunter) formirten, durch die wie durch einen Thierkreis die Schönen wie Sonnen rückten, sondern die diese Sonnen auch durch Gläser observirten, die nichts zeigten als die Flecken derselben.
Es ist der Mühe vielleicht werth, daß ich den Leser versichere, daß ich hiermit diesen Aufsatz beschliese.