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Narcissa kommt die Treppe herab

Bühler kam mit dem Nachtzug. Seine Mutter war aufgeblieben und hatte ihm Essen gerichtet. Er schob fahrig mit dem Besteck auf seinem Teller herum. Es wurde kaum gesprochen. Die Augen der alten Frau hingen ängstlich suchend an den seinen, und als er es erkannte, nickte er ihr mit einem Blick zu, der plötzlich in eine stille Sicherheit umgewandelt war.

Dann gingen sie schlafen.

Sein erster Weg am nächsten Morgen war zu Lantz. Bühler schritt langsam über die Mainaustraße und die Bahngeleise, um die Kaserne herum und die Straße am Rhein hinab. Noch war ihm alles verhüllt und verhangen, noch sah er keinen Weg aus der dunklen Schlucht, in der er sich bewegte. Aber er wußte dennoch, daß die Zukunft nahe bei ihm stand. Sie wartete.

Als Lantz ihm dann in seinem Arbeitszimmer von seiner gestrigen Begegnung mit Narcissa erzählte, läutete das Telefon.

»Ihre Mutter, Bühler«, sagte Lantz und gab ihm den Hörer.

Frau Bloos habe ihm einen Brief aus dem Schloß bringen sollen, sagte sie, und sie habe Frau Bloos gleich mit dem Brief zu ihm in die Fabrik nachgeschickt.

Bühlers Hand zitterte, als er den Hörer wieder auf den Apparat legte.

»Ein Brief von Narcissa!« sagte er zu Lantz. »Mein Gott!«

Furcht und Hoffnung stritten in ihm. Dieser Brief, das wußte er, mußte die Entscheidung bringen.

»Ich habe ihr gestern berichtet«, hörte er die Stimme des Geheimrats, »Sie kämen mit dem Nachtzug nach Konstanz. Sie hat still und selbstverständlich ›ja‹ gesagt, als habe ich in ihre Gedanken hineingesprochen.«

Dann brachte der Bürodiener den Brief herein. Aber es stand nur eine Zeile drin:

»Jetzt ist auch mein Vater tot. Narcissa.«

Bühler reichte Lantz den Brief.

»Fahren wir gleich zu ihr«, sagte Lantz.

Jean führte sie ins Haus und Bühler wartete zusammen mit Lantz, wo er schon einmal auf Narcissa gewartet hatte, in der Halle. Jene Stunde stand deutlich vor seinen Augen. Er hatte damals von ihr gemeint, es sei die letzte, die sie noch trenne, und in seinen Vorstellungen hatte er Narcissa diese Treppe, die er jetzt mit brennenden Augen überwachte, hinunter eilen und in seine Arme fliegen sehen. Und wie weit hatte es sie dann auseinandergetrieben!

Lantz hatte sich in einen der Lehnsessel gesetzt. Bühler blieb im Übermaß der Spannung stehen. Er hielt dem Unbekannten, das aus der Höhe des Raums, in den sich die Treppe hinaufbog, ihn erwartete, die Stirn hin.

Da erschien, wie damals, Narcissa. Wie damals kam sie gehalten die Treppe herab, und das erste, was er sah, war die Blässe ihres Gesichts und der Strahl ihrer Augen.

Er ging Narcissa zögernd entgegen. Als sie unten angekommen war, trat sie nahe an ihn heran, ganz nahe, und legte ihren Kopf an seine Brust.

Nach einer langen Minute löste sie sich von Bühler und wandte sich dem Geheimrat zu. Der nahm ihre Hand in seine beiden Hände und sagte:

»Liebe Narcissa, nun beginnt das Leben!«

Sie hielt dem alten väterlichen Freund die Stirn zum Kuß hin, wie sie es so oft ihrem Vater gegenüber getan hatte. Leicht berührte er mit den Lippen die Stirn Narcissas. Dann ging er mit starken hallenden Schritten davon.

 

Ende

 


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