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Am Nachmittag des folgenden Tags hatte Geheimrat Lantz, der Vorsitzende des Segelclubs, zum Abschluß der Festlichkeiten auf einen Gartentee bei sich eingeladen. Das Haus lag in derselben Seefront mit dem maurischen Schloß der Mont'Altos. Es hatte Blumenanlagen, deren Reichtum und Gepflegtheit zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt gehörten, und stets stoppten die fremden Boote, wenn sie diesen Garten am Ufer leuchten und flammen sahen.
In dem großen alten Park der Mont'Altos hungerten die moosverfilzten Rasen ein. Ein einziges Beet war mit verkrüppelten Rosen erhalten. Sie sahen aus wie die ausgewaschenen Blusen, die Luitgarda und Narcissa im Haus aufzutragen pflegten. An einigen Stellen torkelten vor Alter blutarme, magerstenglige Rudbeckien durcheinander. Eine Reihe Dahlien stand gegen den See mit altmodisch kleinen Blumen, die das Laub überwucherten. Der Haufen der versteinerten Fossilien aus Feuerland beherrschte die Anlage. Und bloß im Frühjahr schwammen die Vergißmeinnicht, die Armeleutsblumen, über die Rasen, wie türkisblaue Teiche, und die Bäume erhoben sich in einem gewaltigen alten Adel über sie. Solche Bäume hatten die neuen Anlagen der Villa des Geheimrats nicht.
Inmitten der auftrumpfenden Pracht des mit äußerster Sorgfalt gepflegten Lantzschen Gartens dachte Narcissa an ihren Vater. Eine aufbegehrerische Schwermut befiel sie. Es geht alles zur Neige. Diese Rosen, sagte sie sich, und warf bewundernd abschätzende und traurig vergleichende Blicke in das Übermaß des Blütenreichtums, sind rot und aufrecht. Die unserigen sind blutlos, ein Insektenstich tötet sie. Aber weshalb weiß ich das alles erst seit gestern und weshalb habe ich es vorher nie beachtet?
Sie sah Doktor Bühler neben Luitgarda stehen, die mit ihrem rotgebrannten Gesicht ein wenig hilflos zu dem großen kräftigen Mann aufschaute. Die Blicke von Narcissa und Bühler begegneten sich für einen kurzen Augenblick, dann wandte sie den Kopf weg. Ihr war, als liege in diesem Blick ein allzu vertrautes Einverständnis, als käme darin wieder die zweimalige ferne nächtliche Begegnung auf dem See unter der Trauerweide zum Ausdruck, der Säntis und die Sterne, die der Wille dieses Mannes um ihretwillen zur Erde zwingen wollte.
Nein!, sagte sie, ich bin nicht irgendein kleines Mädchen, das man so anblicken darf. Ein hochmütiger Ausdruck trat in ihr Gesicht. Ja, ich bin hochmütig, Herr Bühler, ich will hochmütig sein. Die Sterne sollen dort über dem Berg in klarer, unendlicher Ferne weiterleuchten.
Doktor Baumann trat zu ihr und Narcissa nahm unvermittelt den Schein einer in weiten Abstand gerückten, unverbindlichen Liebenswürdigkeit, einer weltläufigen Gleichspannung an. Lächelnd gab sie Doktor Baumann Bescheid, da er sie ansprach. Aber es erschien ihr schwieriger als sonst, diese Haltung zu bewahren, zu der sie von Kindheit an geschult war. Um wieviel leichter und beseligender wäre es, sich den Kräften zu ergeben, von denen sie seit vorgestern so zwiespältig umgetrieben wurde …
Viel später, als sie mit mehreren Festgästen in nichtssagendem Geplauder durch die Gartenanlagen ging, hörte sie hinter sich seine Stimme. Von der Unterhaltung, die er mit dem Geheimrat führte, vernahm sie nichts. Doch plötzlich verstand sie laut und deutlich, wie die Stimme sagte:
»Jede Zeit ist mir recht. Ich bin abends immer zu Haus.«
Mit überdeutlicher Klarheit erfaßte sie diese Worte, und es war, als seien sie allein an sie gerichtet.
Kurz vor sechs Uhr verließen die Prinzessinnen das Fest, um rechtzeitig zum Nachtessen im Schloß zu sein. Narcissa war nicht mit Bühler zusammengekommen, und sie wußte, daß er sie mit Absicht gemieden hatte.
Auch heute gab es ein schweigsames Nachtmahl. Der Herzog saß matt da.
»Die Hitze ist groß!« sagte er.
Luitgarda verdrängte, was sich in ihrem Herzen immer wieder erheben wollte, unter hastig vorgeschobenen Vorstellungen, wie sie die oder jene Haushaltungssorgen erledigen, was sie morgen kochen, was zum Flicken, was zum Bügeln kommen sollte.
Narcissa begriff nicht, was Bühler veranlaßt hatte, jeder Gelegenheit, um zusammenzutreffen, auszuweichen. So kann dies nicht bleiben!, sagte sie sich. Sie suchte und grübelte. Ich muß mit Luitgarda darüber sprechen, sie muß mir helfen. Aber sie verwarf diesen Gedanken sofort wieder.
Ihre Nöte bewegten sich in einer so fremden Zone ihrer Seele, daß sie nicht zu diesem Versteck vordringen konnte. Wie hätte sie es ihrer Schwester erklären wollen! Luitgarda hätte sie so hilflos angeschaut wie vorhin den sie um Haupteslänge überragenden Sohn des Mannes, der die Schiffe auf dem Bodensee angebunden hatte. Nein, für solche Dinge war Luitgarda gewiß nicht »zuständig«.
Nachdem die Tafel aufgehoben, ging sie, wie gewohnt, mit ihrer Schwester in das gemeinsame Wohnzimmer. Bevor sie sich ans Umkleiden begab, sagte sie zu ihr:
»Luitgarda, ich gehe jetzt zu Doktor Bühler.«
Luitgarda machte: »O mein Gott«, und schon trat jener hilflose Ausdruck in ihr Gesicht, den Narcissa vorausgesehen hatte. Es war noch mehr darin – Schreck, Angst und Bestürzung. Aber das sah Narcissa nicht.
»Ich gehe gleich«, fuhr sie sachlich fort. »Ich ziehe meinen Staubmantel über das Kleid und nehme Frau Bloos mit.«
Luitgarda hätte nun wohl fragen müssen, was ihre Schwester zu einem so ungewöhnlichen Besuch in später Abendstunde veranlaßte. Aber sie hatte Mühe, mit ihrem Atem zurechtzukommen. Beklommen starrte sie Narcissa nach, die den Mantel aus einem Schrank holte, ihr, ohne eine Miene zu verziehen, zunickte und rasch davonging.
Frau Bloos war mit Jean-fait-tout in der Küche beschäftigt, das Geschirr vom Nachtessen zu reinigen.
»Kommen Sie einmal herauf, Frau Bloos«, sagte Narcissa. Und draußen im Flur:
»Legen Sie einen Mantel um. Wir müssen gleich zusammen in die Stadt gehen.«
Was werde ich ihm sagen?, fragte sich Narcissa, als sie sich der Anlage näherten, an der das kleine Haus stand. Jetzt weiß ich es noch nicht. Aber das Recht zu diesem Gang ist auf meiner Seite. Dieses Recht wird mir eingeben, was ich zu sagen habe, sobald er vor mir steht.
In diese Überlegung hinein hörte sie Frau Bloos sagen:
»Es wird ein Gewitter kommen!«
Narcissa bezog es auf sich und ihr Unternehmen und entgegnete unwillig:
»Unsinn! Weshalb soll ein Gewitter kommen?«
»Weil es so schwül ist«, antwortete Frau Bloos.
Ja, es war schwül. Es war viel zu schwül. Verwirrt und hastig sagte Narcissa:
»Nun, wenn auch. Im August kommen oft Gewitter. Warten Sie hier, Frau Bloos, bis ich wiederkomme.«
Sie waren bis zur Mainaustraße gelangt und das Haus war in einer der ersten Querstraßen. Narcissa fand es gleich. Sie stand noch einen Augenblick in der Dunkelheit an dem eisernen Gartenpförtchen, klinkte es dann auf und ging rasch auf die Haustüre zu. Es war finster hier unter den Bäumen, aber es gab nichts mehr zu verfehlen, denn der bekieste Weg führte geradeaus auf die Tür zu. Sie tastete mit den Fingern nach der Glocke, und diese rief drinnen plötzlich überlaut. Ebenso überlaut pochte ihr Herz. Sie wollte davonlaufen, aber sie stand wie festgenagelt.