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Flucht aus dem Fossiliengarten

Am nächsten Morgen um 11 Uhr schickte der Herzog Jean-Fait-tout zum Grafen Färg, um ihn zu sich zu bitten. Er fand es passend, gemeinsam mit ihm den Gang zu Narcissa zu machen und die Werbung vorzutragen. Daß er nicht allein, von sich aus, selber als Oberhaupt der Familie diesen Schritt unternahm, sondern dem Beteiligten den Schein selbständiger Verfügung zuschob, war ein Zugeständnis an die Zeit. Außerdem hatte er, obwohl er es sich nicht eingestand, einige Bedenken, wie seine Tochter die Werbung aufnehmen würde. Offen gesagt, der Herzog hatte Angst vor der Prinzessin.

»Der Herr Graf sind in der Früh abgereist«, berichtete Jean. Einen Augenblick lang starrte der Herzog ihn entgeistert an. »Es ist gut!« sagte er dann gefaßt.

Er ist abgereist, dachte er sich aus, weil er durch seine persönliche Gegenwart nicht auf Narcissa einwirken will. Sie soll sich völlig selbständig entscheiden. Er ist ein Kavalier von bestem Schrot und Korn. Und der Herzog fühlte sich gehoben in der Genugtuung, daß dieser Mann zum zweitenmal sein Schwiegersohn werden wollte. Er hatte auch gut geschlafen, war frischer als sonst und von einer lang vermißten Spannkraft.

Aber als er dann vor Narcissas Tür stand –, Luitgarda werkte wie gewöhnlich um diese Zeit im Haushalt und in der Küche, und er war sicher, Narcissa allein anzutreffen –, verging einiges von dieser Sicherheit. Als er eintrat, hatte er bereits den Entschluß gefaßt, diese Sache nicht gleich als erste vorzubringen. Man fällt nicht mit der Tür ins Haus. Er meinte, es sei von Vorteil, wenn er die Prinzessin über seine Weigerung belehrte, um ihr dann den Grafen sozusagen als überwertigen Entgelt anbieten zu können.

Narcissa hatte eine schlaflose Nacht hinter sich. Erst im Morgengrauen war sie in einen bleiernen Schlaf gefallen, aber bald wieder aufgeschreckt, weil ihr war, als ob sich die Wände des Zimmers auf sie zubewegten und sie zu erdrücken drohten. Die Luft kam ihr stickig vor, sie konnte kaum atmen.

Jetzt verlangte sie nichts als Frieden, nach einer Pause der Erholung und des Ausruhens. Sie bedurfte einer Entspannung vor dem entscheidenden Schritt, der nun kommen mußte.

Sie hörte ihren Vater fast teilnahmslos und abwesend an, wie er wieder den Sinn seines »Indiskutabel« zu erläutern suchte. Daß sie nicht widersprach, hielt er für ein Anzeichen der zurückgekehrten Vernunft und des Familienbewußtseins.

Er kam aber nicht mehr dazu, von seinen Plänen mit dem Grafen Färg zu sprechen. Als er vorsichtig andeutete, daß bereits über ihre Vermählung mit jemand gesprochen worden sei, der sein volles Vertrauen habe, daß er aber ihrer Entscheidung nicht vorgreifen wolle, unterbrach sie ihn, ehe er den Namen genannt hatte. Schon bei den letzten Worten des Vaters fühlte sie, wie sich in ihrem Innern der letzte Riegel zuschob. Sie sagte, äußerlich völlig ruhig:

»So also ist es! Jetzt ist es gut. Jetzt weiß ich, woran ich bin. Ich weiß jetzt, du und ein anderer, dessen Namen ich nicht wissen will, ihr habt diesen Konflikt zusammen geschmiedet, habt ihn beleidigt mit eurem Ahnenstolz, habt ihm das Fossil in euch gezeigt. Ihr habt ihn verjagt. Und nun sage ich dir Vater: Und wenn er der Sohn eines Straßenkehrers wäre: Er! Kein anderer! Nie!«

Sie stand ruhig vor dem Herzog und reckte sich ein wenig gegen ihn auf. Der Herzog war auf einmal wieder müde. Er war enttäuscht, daß er sich so in seiner Tochter geirrt hatte. Gehalten entgegnete er:

»Es ist indiskutabel, mein liebes Kind!«

Dann ging er langsam aus dem Zimmer.

Sobald er draußen war, suchte Narcissa einen Koffer hervor. Es war 11 Uhr und 15 Minuten, und sie hatte eine Stunde vor sich, in der niemand sie stören würde. Sie drehte den Schlüssel in der Tür um und packte mit fliegenden Händen den Koffer voll mit Wäsche und Kleidern. Das Buch, das Bühler ihr geschickt hatte, legte sie obenauf, nachdem sie noch einmal die Verse angeschaute hatte. Als sie fertig war, barg sie den Koffer in den großen eingebauten Schrank. Dann strich sie mit der Hand über das Bett, die Stühle, den Tisch, das Sofa mit dem ausgeblichenen Plüsch. Ein letztes Mal! sagte sie. Sie wußte, daß es richtig war, was sie vorhatte, aber der Abschied war schwer, unendlich schwer. Hier hatte sie ihre Kindheit, ihre Jugend verbracht, hier hatte sie vertraute Zwiegespräche gehalten mit ihrer Schwester und mit dem Spiegel. Ich wollte meine Augen mit einem Rosenhag umgeben und einen Prinzen herbeiträumen, dachte sie. Und hier war das Fenster, von dem sie den Säntis sah und die Sterne darüber, und die Trauerweide, die ihr zweimal ein Segelboot verdeckt hatte.

»Es muß sein«, sprach sie in die Ecke zu dem Hausgeist hinauf, »es ist unvermeidlich. Hilf du mir! Es ist unvermeidlich, auch wenn es ein Unrecht gegen dich sein sollte.«

Erschrocken über den Klang ihrer eigenen Stimme, blickte sie sich scheu um. Sie sah nur den Stuhl, auf dem Luitgarda zu sitzen pflegte, wenn sie über dem Haushaltsbuch rechnete. Sollte sie es nicht doch ihrer Schwester sagen? Nein, es war unmöglich! Zu weit schon hatte sie sich in den Kreis der Heimlichkeit treiben lassen, als sie den Entschluß zur Flucht faßte. Sie mußte allein fertig werden.

Noch einmal nahm sie Abschied von all dem, was bisher ihr Leben bedeutet hatte. Dann wandte sie sich rasch und ging hinab, schaute in die Küche hinein, in der Luitgarda und Frau Bloos hantierten, und gab Frau Bloos ein Zeichen. Frau Bloos verstand, und nachdem Narcissa die Küche verlassen, ging auch sie hinaus.

Narcissa wartete im Hof. Sie zog Frau Bloos mit sich hinter die Stallgebäude und sagte zu ihr:

»Frau Bloos, in dem eingebauten Schrank ist ein Koffer. Bitte, gehen Sie gleich hinauf, nehmen Sie diesen Koffer und bringen Sie ihn zu dem Pförtchen hinter der Hecke. Dort stehe ich und hole ihn ab. Fragen Sie nicht weiter. Tun Sie es. Tun Sie es rasch. Es muß sein. Bis gleich, Frau Bloos.«

Narcissa, die ihren Mantel auf dem Arm und den Hut in der Hand hatte, ging hinten um den Stall herum und dann rasch durch das Tor hinaus. Als sie außer Sicht war, zog sie im Gehen den Mantel an, setzte den Hut auf und begab sich an das verborgene Pförtchen, das in den Jacobswald und auf einen Pfad mündete.

Sie brauchte nicht lang zu warten. Frau Bloos kam mit dem Koffer. Die Frau schaute sie stumm an. Narcissa nickte und wollte den Koffer nehmen. Aber Frau Bloos gab ihn nicht her und fragte:

»Wohin soll ich ihn bringen?«

»Ich werde selber …«

»Nein!« beschied Frau Bloos entschlossen und trat durch das Pförtchen in den Wald. Sie setzten sich gleich nebeneinander in Gang. Als sie dann in den Hauptweg gemündet und ihn eine Strecke schweigend gegangen waren, sagte Narcissa:

»Ich muß fort, Frau Bloos. Aber ich weiß nicht, wohin.«

»Königliche Hoheit tun …«

»Sagen Sie: Narcissa.«

»Fräulein Narcissa tun, was Sie müssen.«

»Ich will mittragen«, sagte Narcissa und faßte an einem der Handgriffe.

Es wäre nicht nötig, meinte Frau Bloos. Doch war sie gerührt und glücklich, daß die Prinzessin es tat, und so gingen die beiden, jede einen Griff haltend, mit dem Koffer zwischen sich, durch die einsamen Villenstraßen auf die Mainaustraße zu. Als sie diese erreichten, nahm Frau Bloos wortlos aus Gründen des Anstands und der Vorsicht, den Koffer wieder allein an sich.

Für Frau Bloos bestand kein Zweifel, daß diese Flucht mit dem Brief zusammenhing, den sie Doktor Bühler gebracht hatte, und als sie an die Stelle gekommen, wo es von der Mainaustraße zum »Grüngang« abzweigte, in dem Doktor Bühler wohnte, strebte sie hinein. Sie war erstaunt, daß Narcissa unter dem Omnibusschild Fuß faßte. »Es kommt gleich einer«, sagte sie dabei.

Frau Bloos trat, ohne etwas zu sagen, neben sie.

Nun dämmerte es ihr, daß der Fall heikler lag und schwerer zu fassen war, als sie zunächst annahm. Sie hatte einen gesunden Kopf und erkannte, daß die Prinzessin das Schloß wegen dieses Mannes verlassen hatte. Aber sie wollte nicht zu ihm. Auch das begriff die einfache Frau gefühlsmäßig, ohne sich die Gründe im einzelnen klarlegen zu können.

Aber nun mußte das nächste sein, vorerst einmal rasch eine Unterkunft zu suchen. Sie durfte ihre Prinzessin ja nicht einfach ohne Ziel in die Welt hineinlaufen lassen. Sie dachte an Frau Bühler, mit der sie die Beziehungen seit dem ersten Besuch weiter gepflegt hatte. Nun, das also ging nicht, denn da wohnte ja auch der Mann, zu dem Narcissa wollte und zu dem sie nicht wollte. Also mußte es außerhalb von Konstanz sein.

Während sie mit dem Omnibus in die Stadt fuhren, grübelte Frau Bloos weiter darüber nach. Im Bahnhof sagte sie plötzlich:

»Ich weiß, wohin Fräulein Narcissa gehen sollte.«

»Frau Bloos?« rief Narcissa.

»Einmal hat eine Dam' angerufen, die Fräulein Narcissa sprechen wollte, eine Jugendfreundin aus dem Institut, Fräulein Narcissa … ein Fräulein Doktor … Doktor … ja, wie hieß sie nur?«

Ach, Frau Bloos, es war doch so … daß ich … daß ich nicht wollte … nicht …«

»Macht nix, Fräulein Narcissa. Ich weiß, was war, und ich han mit seller Dam weiter am Telefon g'schwätzt und mehr, als ich Ihne g'sagt han. Denn die Dam' g'fiel mir besonderlich gut. Sie hat nämlich eine so schöne Stimm' g'habt, wisset Sie Fräulein Narcissa. Nämlich eine so gute, tiefe Stimm'. Die tiefe Stimme sind immer gute Mensche. Und mit die helle Stimm', da kreischt es auch da drinne. Und wenn Fräulein Narcissa mir it bös ischt …«

Sie schaute wartend zu Narcissa hin.

»Nein, nein, Frau Bloos«, sagte sie.

»Ebe, dann kann ich's sage, daß ich ihr g'sagt han, die Dam' möcht it zürne, Fräulein Narcissa meine es gewiß it unfreundlich, gewiß it … Königliche Hoheit han i dazumal noch g'sagt, Fräulein Narcissa habe Sorge … ganz besondersartige Sorge … und dann hat die Dam' g'lacht und g'fragt: Verliebt? Und da han i g'sagt: ebe sell. Und wenn so was in ein Schloß fällt, dann gibt's ein noch anderen Plumps, han i g'sagt. Ich versteh' schon, hat die Dam' … die Fräulein Doktor … Doktor wenn i nur schon den Namen wieder hätt', hat die Dam' g'sagt, ganz wirklich freundlich mit ihrer scheenen Stimm'. An Stell' von Fräulein Narcissa tät i zu seller Dam' gehe. Und wenn Fräulein Narcissa den Namen wisset, sie wohnt in Freiburg, hat sie g'sagt, soll i ausrichte. Und was dem Herrn Doktor sei Stimm' isch, die isch auch so dunkel! Nix für ungut.«

»Frau Bloos«, sagte Narcissa und legte eine Hand auf die Schulter der Frau.

Abends in Freiburg fand Narcissa im Adreßbuch folgende Eintragung: Fräulein Dr. Hansi Paasche, Frauenärztin, Schloßbergstraße 12a.

Um halb acht ging sie, die Hausnummern ablesend, die Schloßstraße hinauf. Da kam ihr eine Dame entgegen, wollte an ihr vorbei, blieb mit einem kleinen Aufschrei stehen. Es war Hansi Paasche. Daß der Zufall dieses Wiedersehen ein wenig vorverlegte, erschien Narcissa eine gute Vorbedeutung.


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