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Irrweg nach Italien

Der Beginn der Schule war nahe. Bühler hatte Vorbereitungen für den Unterricht zu treffen, den er in den oberen Klassen in Chemie gab. Als er sich daransetzte, fragte er sich unvermittelt: Wozu? Ich werde doch keine Schule mehr halten.

Gleich aber kam ihm dieser Einfall als vollkommen willkürlich, einfältig und gegenstandslos vor. Er war sehr erstaunt, daß ihm so etwas in den Sinn kommen konnte. Aber er vermochte es nicht über sich, dann wirklich mit den Vorbereitungsarbeiten zu beginnen.

So verbrachte er drei Tage, fast immer in seinem Zimmer, in einem ruhelosen Hin und Her, und sah außer seiner Mutter keinen Menschen. Abwechselnd zürnte er Narcissa oder versuchte grübelnd ihre Handlungsweise zu erfassen und in ihr etwas zu erkennen, das so fremd der Wahrheit war, die zwischen ihnen bestand, daß ihr Fernbleiben unmöglich von Dauer sein konnte. Aus dieser Vorstellung begann er auf sie zu warten. Wenn jemand an der Haustür schellte, fühlte er den Schlag seines Herzens pochen, der ihm das Blut in die Augen trieb, daß er sie schließen mußte. Die Tageszeit maß er nach den Briefträgerstunden.

Aber es kam nichts, und Narcissa selber kam noch weniger.

In die Marter dieser Vergeblichkeit schob sich immer beharrlicher die Erinnerung an die Hand, die so hauchzart und dennoch so lastend auf seinem Arm gelegen war … in der Schweiz!

»Oder in Italien!« sagte er einmal laut vor sich hin.

Er sagte es laut, weil er mit dem Hörbarwerden seiner Stimme Dinge vertreiben zu können meinte, die immer unabwendbarer gegen ihn vorstießen.

Aber es half nichts. Er hielt es nicht mehr aus im Zimmer, dessen Luft ihm plötzlich erstickend schien. Ungeduld befiel ihn, es zerrte an seinen Nerven, er meinte, nicht mehr atmen zu können.

Eine Viertelstunde später betrat er die Italienerwirtschaft.

Er kam aus der Dunkelheit in den ersten Raum, in dem unter hellen Glasschirmen unabgeblendete Birnen leuchteten und ein dicker Stoß Tabakrauch gestockt saß, durcheilte wie blind Licht und Rauch, und als erstes im Nebenzimmer hörte er Lantz, der ihm freudig entgegenrief. Lantz schob den leeren Stuhl neben sich zurecht, und Bühler ließ sich darauf niederfallen. Kaum berührte er das Holz, gewahrte er, daß in der Gesellschaft jemand war, der sonst nie herkam, und dieser Jemand war der Arzt, der Doktor Baumann.

Sofort sprang er wieder hoch. Er will nicht in der Gesellschaft dieses Menschen sitzen. Lantz faßte nach ihm. Bühler richtete sich steif und ergrimmt ganz auf, wandte sich um zur Tür zu, und da stand Concordia dicht bei ihm. Ihre Augen hielten ihn fest. Er fühlte sie übernah. In einer raschen Wendung beugte er sich zu ihr nieder und hörte es plötzlich aus ihrem Mund, wie in einem heißen Hauch in seinem Ohr klingen:

»Immer noch Liebeserlebnis?«

Da packte es ihn. Er sah aus dem Wirrsal seiner Nöte einen Ausweg. Er sah ein kleines Loch, durch das er entschlüpfen konnte. Er sah auch, daß dieses kleine Schlupfloch möglicherweise auf einen verbotenen Weg führte. Aber Haß und Widerstand gegen Baumann und Lantz trieben mit. In einer Leichtfertigkeit, die ihm sonst unvertraut war, flüsterte er zurück:

»Mit Dir!«

Und er legte dabei die Hand um ihre Hüfte.

»Prost!« rief Lantz.

Concordia löste sich ab und ging Wein holen. Den ganzen Abend über suchten ihre Augen die Bühlers und sie waren auch bereit, sich suchen zu lassen. Der Tisch war voll besetzt. So ging es leicht, daß sich einzelne Nachbarn zu einem Gespräch zusammenfanden, das von den andern nicht beachtet wurde. Baumann tuschelte seinem Nebenmann zu:

»Aha, unser Doktor Bühler erholt sich an den Concordianischen Schinken vom Mont'Altischen Liebeszeremoniell!«

Es hatte sich in der Tat etwas in der Stadt herumgesprochen, und der andere lächelte verständnisinnig zurück.

Aber auch Lantz fand Gelegenheit zu einem kleinen Privatgespräch mit Bühler. Als Concordia eine Weile verschwunden blieb, neigte er sich zu ihm.

»Sagen Sie, Doktor, ich platze vor Neugier. Man hat mich in eine Sache hineingezogen und mir dann mitgeteilt, die Prinzessin in Frage sei abgereist. Was ist los bei den Hochbergischen?«

»Was weiß ich? Abgereist!« antwortete Bühler, »vielleicht zum Bräutigam! Prosit, Herr Geheimrat!«

»Zu wem?« fragte Lantz, sich überrascht aufrichtend.

»Grafen Färg.«

»Was?«

»Verlobt mit dem Grafen Färg.«

»Hören Sie, Bühler, Sie sind heute aufgeregt. Sie sind das schon eine ganze Zeitlang. Lassen Sie mich Ihnen wiederholen, was Sie jetzt gesagt haben. Die kleine Mont'Alto, unsere Freundin Narcissa, hat sich mit dem Grafen Färg, ihrem Schwager also, verlobt. Haben Sie das gesagt?«

»Mit demselben.«

Lantz lachte laut auf. Dann sagte er plötzlich leise:

»Ich hatte dem Herzog einen anderen Rat gegeben.«

»So hat ihn die Prinzessin für schlecht gefunden.«

»Woher wissen Sie das?«

»Aus bester Quelle. Direkt vom Herzog.«

Lantz lehnte sich zurück und besann sich. Dann kam sein großer stahlgrauer Kopf wieder zu Bühler. Mit einem Ernst, den er sonst nur in geschäftlichen Verhandlungen zeigte, sagte er eindringlich zu Bühler:

»Ich möchte Sie warnen. Ich fand es immer so schön, daß Sie nicht merkten, wie Concordia Schinken bis über die Ohren in Sie verliebt ist. Verirren Sie sich nicht! Es stimmt etwas nicht in Mont' Alto, nicht mit dieser Abreise von Narcissa und nicht mit dieser Verlobung. Verrennen Sie sich nicht. Passen Sie auf sich auf!«

Dann kam Concordia wieder und blieb in der Nähe Bühlers.

Bühler ging nun jeden Tag in die Schweiz. Oft saß er schon vormittags in der Kneipe des Italieners. Concordia war immer für ihn da. Bald trafen sie sich auch außerhalb der Wirtschaft und fuhren in die einsamen Wälder hinauf.


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