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Prinzessin Habenichts

Die Mitteilung des Geheimrates hatte Bühler Sinn und Absicht von Narcissas Brief erschlossen. Es war ein Verlangen nach Hilfe, und hatte er ihn zunächst für einfältig gehalten, so erschien ihm Narcissas Handlungsweise jetzt als etwas berückend Liebliches, dem gegenüber er sich auf die robuste Kraft seines Willens besann. Lächerlich, diese Kraft nicht zu benutzen, wenn sie verlangt wird. Er ließ voll Unternehmungslust und voll Schwung seinen kleinen Wagen zum Schloß der Mont'Altos laufen.

Er wartete in der großen Halle. Den Diener, dem er seine Karte gegeben, hatte er die Treppe hinaufgehen sehen. Und er stand hier in der Mitte des alten, düsteren Hauses nur von der einen Vorstellung beherrscht: Jetzt wird sie dort oben erscheinen, und wenn sie mich sieht, kommt sie zu mir geflogen. Doch als sie kam, stieg sie mit gemessenen Schritten die Stiegen hinab. In der Enttäuschung meldete sich bei Bühler auch schon der Widerstand wieder. »Ich muß sie demütigen!« dachte er. »Anders zerschlage ich die Seifenblase nicht.«

Als sie vor ihn hintrat, war ihm, an ihrer Seite sei der Geist dieser unvertrauten uralten Umgebung mit zu ihm getreten und schaue ihm hochmütig, unfreundlich auf die Schulter. Narcissa bat ihn, mit hinaus in den Park zu gehen.

Bühler hatte keine Frauenerlebnisse. Er war ein fleißiger und leidenschaftlicher Mensch und hatte bisher die Frauen mit in den Bereich gefaßt, dem sein Streben gehörte: Chemie. Er meinte, eine Frau sei nicht viel anders als die Formel einer chemischen Mischung leicht und klar in ihre Bestandteile aufzuteilen, wenn dies nötig werden sollte.

Doch in der Enttäuschung, die er gerade erlebt, begann er von dieser Einordnung abzuweichen. Narcissa ging neben ihm in die ineinanderstrebende Landschaft, in der die alten Bäume ihre dunklen Kronen über sie in den Himmel hoben und einen neuen Raum um sie zu schaffen schienen. Und da rann auch der Schimmer einer neuen Erkenntnis in seine Vorstellungen, daß er nicht nur das Gespenst von Herkunft und Umgebung zu zerstreuen hätte, sondern daß seine Hände durch jenen neuen Raum in einen viel dunkleren Bezirk einzudringen hatten, wollte er sie aufgreifen. In einen Bezirk, in dessen verdämmernder Luft er die Sicherheit dieser Hände verrinnen fühlte.

Er lehnte sich auf und ballte die Fäuste. Da ging sie neben ihm, die zu ihm gehörte und die er doch nicht zu ergreifen vermochte. Erstürmen hatte Lantz gesagt. Erstürmen kann man das Feste, das sichtbar vor einem liegt. Aber das Wesen neben ihm, das ihm doch, er spürte es, zu eigen war, blieb dunkel verhüllt. Wenn er den Nerv bloßlegen könnte, in dem alles in dem Wesen seinen Ursprung, seinen Ablauf und sein Dasein hat! Den Lebensnerv dieser Seele, in die man wie in ein Glas hineinschauen könnte. Eine chemische Formel war das freilich nicht, die man nach sorgsamer Analyse folgerichtig aufbauen könnte. Hier war es nichts mit der Chemie, und ebensowenig mit dem Sturmangriff des Geheimrats.

Keiner von beiden hatte bisher ein Wort gesprochen. Bühler grübelte, und Narcissa genügte die reine Gegenwart. Sie genoß sein Dasein ohne weiteren Wunsch, sie ging neben ihm und war fröhlich im Gleichmaß ihrer Schritte.

Sie kamen in das Tannenwäldchen. Die Luft stand in sanfter Dämpfung um sie. Das einsame Nebeneinander war durch die Beharrlichkeit des Schweigens zu um so größerer Eindringlichkeit gesteigert, und nun, bei dem Wechsel der Umgebung unter den schattenden, eng einschließenden Tannen, war es, als schaute plötzlich die Natur ganz von nahe mit hinein. Da ließ Bühler das Grübeln sein, wie er mit geistiger Gewalt das bereits Errungene für sich sichern könnte. Ich werde ihr in die Augen schauen, sagte er sich, und sie wird mir mein Schwanken und Zaudern verzeihen. Er blieb plötzlich stehen. Da hielt auch sie an und wandte ihm langsam ihr Gesicht zu. Noch immer sprachen sie nicht. Aber nun blickte er in ihre Augen, und mit einem Male und zum erstenmal gewahrte er ihre fast mystische Absonderlichkeit. Sie hatten in Farbe und Fassung Ähnlichkeit mit Rauchtopasen, die zugleich schwärzlich dunkel und von einer durchsichtigen Kristallkühle sind, und in dieser Durchsichtigkeit glaubte er eine Leidenschaft zu erkennen, die nur bisher in Abwehr zurückgestaut war. Er entdeckte auch, daß ihre Augen nicht, wie es zunächst schien, kreisrund waren, sondern zart gegen die Schläfen ausschwangen. Er hatte die Empfindung, in dieser abwegigen Formung liege ein Geheimnis. Das Rätsel dieses Geheimnisses war allein noch zu lösen, dann wäre der Einlaß in ihre Seele frei und offen für ihn.

So nahe war er nie einem Menschen gewesen. Ihn durchdrang eine gar nicht mehr fordernde, sondern bittende Hingabe. Ohne seine Augen aus den ihren zu lösen, hob er die Hände zu ihren Schultern.

Als Narcissa wahrnahm, daß mitten im Anschauen seine Blicke eine Wandlung erfuhren, sagte sie sich: Jetzt sieht er meine Augen! Hier war endlich der Weg, den sie solange gesucht hatte. Es war keine Spannung mehr in ihr, sondern nur Auflösung, auch kein Erwarten, nur schwebendes Einklingen.

Seine Hände erreichten inzwischen ihre Schultern, und sie schrak zusammen vor der körperlichen Berührung. Ohne es zu wollen, wich sie einen halben Schritt von ihm, aber ohne sich ganz von ihm zu lösen. Nun halt mich fest, dachte sie, laß mich nicht weiter zurück – und sie sagte, ihre kleine Abwehr entschuldigend:

»Sei Er mir nicht bös!«

Sie wählte diese Form, die sie von den einzigen vertrauten Begegnungen ihres Lebens mit Luitgarda her im Herzen hatte, und war in einer wundermäßigen Übereinstimmung beseligt, sie mit ihm anwenden und mit ihrer Anwendung ihm das höchste Einverständnis gewähren zu können. Es kam ihr vor, nie habe sie ihr Gefühl auf eine so nackte, herausstellende Weise laut werden lassen, und eine Glut von Scham und Glück strömte durch ihr Herz.

Er mißverstand dieses »Er«. Wie wollte er wissen, daß die Schwestern mit dieser seltsamen Anrede in ihren geheimsten Stunden ihre Seelen öffneten und ihre Zuneigung bekannten? Und dennoch war es kläglich und töricht und im schlechtesten Sinne »männlich«, daß er dies ihm unbekannte »Er« mißverstand. Was ihm das Wort nicht sagte, hätte ihm in dieser Stunde der Zweisamkeit der Ton sagen müssen, mit dem es in voller Hingabe ausgesprochen wurde. Sein Gefühl hätte ihn erkennen lassen müssen, daß dieses »Er« eine unendliche Steigerung des zärtlichsten »Du« war, die willenlose Hingabe eines liebenden Mädchenherzens.

Aber Bühler bestand die hohe Prüfung dieser Stunde nicht. Er wollte noch immer Herr seines Gefühles sein, statt sich von ihm beherrschen zu lassen. Sein unseliger kalter, klarer und chemisch analysierende Verstand mischte sich in einem Sternenaugenblick ein. Noch immer durchdrang ihn die Vorstellung, er müsse kämpfen statt sich hinzugeben, und so wachte bei diesem »Er« alles Trennende wieder auf. Seine Hände fuhren von ihr weg. Wie ein Peitschenschlag hatte ihn dieses »Er« getroffen, und außer Fassung und Haltung knirschte er:

»Er? Ich bin Ihr Dienstbote nicht, Prinzessin!«

Er wollte mit Gleichem vergelten, er wollte aus dem Grimm der Empörung ein böses Wort sagen, ihren Hochmut züchtigen, und ihm fiel nichts ein als das unselige: Prinzessin Habenichts!

Er sprach es nicht aus. Einen letzten Augenblick lang gewann er aus dem Brunnen seines Herzens die Kraft, das Wort von seinem Mund wegzubrechen.

Etwas hatte gemahnt: Es wird alles verschüttet und alles tot sein, wenn du es sagst. Dieser unbewußten Stimme hatte er gehorcht.

Narcissa war weiß geworden. Er hatte das Wort nicht ausgesprochen, aber es hatte in seinen plötzlich haßerfüllten Augen gestanden. Das selige Schweben hatte jäh in einem Absturz geendet. Ihre Augen hingen entsetzt wartend an seinen Lippen. Ihre Hände zitterten.

Sie verstand nicht, was die Wendung hervorgebracht, aber sie hatte sie hinzunehmen, denn sie hatte sich selbst schutzlos gemacht.

Aber das Wort kam nicht. Sie sah, wie er sich im letzten Augenblick davor zurückbäumte. Noch standen sie beieinander, qualvoll nah. Noch war alles gut, wenn er wieder in ihre Augen blickte. Aber er wandte sich plötzlich und schritt rasch und rascher davon und hörte nicht mehr, wie sie leise sagte:

»Lorenz!«

Nein, Lorenz Bühler bestand die hohe Prüfung nicht.

Als er auf seinen Wagen zustürzte, sich hineinwarf, davondrehte, durchs Tor hinausstob, stand Luitgarda hinter der Gardine. Sie zitterte so, daß sie sich mit beiden Händen in dem Stoff festhalten mußte. Als sie niederfiel, riß die Gardine mit ab.


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