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Das Wort, das Narcissa durch den Vorhang mit den weißen Schnüren gehört, hatte im ersten Anprall eine zerstörende Wirkung gehabt: es muß alles aus und zu Ende sein, das bedeutet es für sie. Aber diese Wirkung blieb nicht unverändert in ihrem Innern stehen. Je weiter diese für sie so brutale Äußerung in die Zeit zurücksank, machte sie eine Wandlung durch. Der Geheimrat hatte es ausgesprochen, nicht Doktor Bühler, dem sie es nicht verziehen hätte. Sie wußte nicht viel von den Männern, aber sie waren anders, das hatte sie erkannt. Sie konnten das Zarte nicht bewahren und unausgesprochen lassen. Was Lantz da gesprochen hatte vom Geld und vom Heiraten und von der kleinen Märchenprinzessin Narcissa, das hatte ja wohl selbst in ihr gelegen, unerkannt und unangetastet. Es war wie ein Bote eines Verhängnisses oder des Schicksals, böse und gefährlich, aber es lag auch eine Lockung darin, wie alles, was »draußen« war. Viele Früchte haben eine harte und bittere Schale, kam es Narcissa in den Sinn, aber Kern und Fruchtfleisch sind süß.
Sie wollte am nächsten Morgen die einsame Tiefe des Parkes aufsuchen, wo die Tannen sich dicht zusammenscharten und den Tag wegnahmen, um sich mit sich selber und diesen gewandelten Gedanken zu ergehen. Als sie das Haus verließ, stand unvermittelt Lantz neben ihr.
»Prinzessin«, sagte er rasch und mit einer sonderbar gedämpften Stimme, »es ist gut, daß ich Sie allein treffe. Wenn wir durch den Park gehen, kann ich Ihnen wohl alles sagen, was zu sagen ich herkam, ohne daß es von Ohren gehört wird, für die es nicht bestimmt ist.«
»Bitte, Herr Geheimrat«, antwortete Narcissa und neigte sich mit einer leichten damenhaften Gebärde zu ihm. »Der Park gehört augenblicklich allein uns beiden und dem, was Sie mir sagen möchten.«
Erst war sie vor dem unerwarteten Erscheinen des Geheimrats erschrocken. Dann, rasch gefaßt, ahnend, was die Ursache des Besuchs war, hatte sie sich sofort gemeistert und den Entschluß gefaßt, alle Selbstüberwindung und gesellschaftliche Kunst gegen ihn zu setzen, die sie ihrer Erziehung verdankte.
»Sie gestatten, Prinzessin, daß ich gleich aufs Ziel losgehe. Gestern abend haben Sie aus meinem Mund etwas gehört, was ich natürlich nicht gesagt hätte, wenn ich hätte an die Möglichkeit denken können, daß Sie in der Nähe waren. Bühler ist, was man einen Kavalier nennt. Ich weiß es nicht von ihm, was ich nicht wissen sollte, sondern von Ihnen selber, indem sich das ereignet hat, was so oft in Romanen und schlechten Theaterstücken eine Komplikation hervorruft: Sie haben nämlich Ihr Taschentuch auf dem Stuhl liegen lassen. Hier ist es …«
»Ja, denken Sie sich, Herr Geheimrat«, unterbrach ihn Narcissa und schaute ihn mit einem Lächeln an, das ebensogut dem Dampfer gelten konnte, der weit draußen vorbeifuhr, oder dem Säntis, dessen Gipfel man aus dem Dunst herausdämmern sah. Wie der Vater …, sagte sich Lantz.
»Denken Sie sich, was für eine Ungeschicklichkeit von mir, in dieses Nebenzimmer zu gehen, weil Sie kamen. Es war dumm und unüberlegt, denn, da Sie ja auch vom Fach sind, hätten Sie den Zweck meines Besuches mit erfüllen helfen können. Ich will Chemie studieren. Sie kennen unsere Lage, und die Zeit stellt Forderungen und gibt Möglichkeiten und Aussichten.«
»Ja, es ist eine große Not im Augenblick an Chemikerinnen«, schnitt Lantz ab. »Trotzdem halte ich von mir aus darauf, einen Kommentar zu dem Wort zu geben, mit dem ich Sie in die Verhandlungen zwischen Bühler und mir hineinzog.«
»Herr Geheimrat!« Narcissa lächelte jetzt und legte einen flüchtigen Augenblick lang ihre Hand auf den Arm von Lantz. Als ob sie ihre Hand an den Turm des Münsters oder auf die Meersburg legen würde!, sagte sich Lantz.
»Wir sind ja alte Bekannte, und meine Schwester und ich haben so viele Beweise der Liebenswürdigkeit Ihrer Gesinnung zu uns. Grade noch die schönen Tage des Festes im Segelclub …«
»Nun, dann freue ich mich, daß Sie die Sache in so verständiger Weise hingenommen haben, und unser Gespräch kann beschlossen werden. Ich wollte mit ihm einen Besuch bei Ihrem Herrn Vater verbinden.«
Narcissa überhörte nicht, daß in dem Ton etwas Geärgertes war. Aber sie durfte ihn nicht davon reden lassen.
»Sie sind sehr gütig, Herr Geheimrat. Mein Vater wird sehr bedauern, aber er ist auf seiner täglichen Ausfahrt mit den Pferden.«
Auch dies hatte Narcissa in dem flüssigen Unterhaltungston gesagt, zu dem sie sich gegen den Aufruhr ihres Gemüts durchrang. Lantz gab ihr die Hand und wandte sich rasch ab.
Narcissa, eben noch so froh darüber, daß sie mit anerzogener gesellschaftlicher Kunst einem ihr peinlichen Thema auszuweichen vermochte, war nun auf einmal enttäuscht, als sie Lantz davongehen sah. Alles mache ich falsch, sagte sie zornig zu sich. Was soll er denn halten von diesem Unsinn, daß ich Chemie studieren will und mich nicht an ihn, sondern an Bühler gewandt habe. Was soll er von mir und meinem Besuch zur Abendzeit bei einer so offensichtlich fadenscheinigen Ausrede denken? Gerade der Geheimrat war stets gut zu ihr gewesen, er war erfahren und klug – und er hatte ja ohnehin längst durchschaut, wie es um sie stand. Sie war dumm wie ein verliebter Backfisch. Wenn sie ihm Vertrauen entgegengebracht hätte, statt ihn mit seelenloser gesellschaftlicher Kunstfertigkeit von sich zu treiben!
Sie sah ihn verdrossen dem Schloß zugehen. Soll ich ihm nachlaufen, soll ich … Aber da wandte er sich plötzlich um und kam zurück. Er trat nahe an sie heran und sagte:
»Prinzessin, mir haben Sie mit Ihrer oberflächlich entgleitenden Redeweise nicht weisgemacht, daß meine Worte von gestern Sie nicht bis ins Innerste getroffen haben, stärker als irgend etwas jemals in Ihrem Leben. Gottseidank! Und weil ich weiß, daß ich Gottseidank sagen kann, deshalb kam ich her. Wenn die Menschen mehr Vertrauen zueinander hätten, würden sie sich das Leben leichter machen. Ich kam nämlich nicht, um mich zu entschuldigen, sondern um Ihnen, was ich sagte, Aug' in Aug' zu wiederholen. Sie sollen nicht meinen, daß ich jemals hinter Ihrem Rücken leichtfertig mit Ihnen umgehe. Sie haben mir vorgestern gesagt, sie seien von einer Vorstellung überfallen worden, in der sie sich versteinerten Lebewesen aus einem andern Zeitalter und nicht uns Menschen zugehörig fühlten. Das sind wohl diese Fossilien?«
Narcissa nickte scheu: ja.
»Nun, so erlauben Sie mir, Ihnen einen Kommentar zu meiner Bemerkung zu geben: wenn eine Chemie Sie vor dem Prozeß retten kann, mit dem Sie der Anblick dieser versteinerten Molche wahrscheinlich mit Recht bedroht, so ist es die des Doktor Bühler. Adieu, jetzt gehe ich wirklich. Es gibt einen Bezirk in jedem Menschen, in dem man ihn mit sich selber allein lassen muß … Den sehe ich jetzt bei Ihnen. Ich bin Ihr Freund, Kind!«
»Kind«, hatte er gesagt, gerade so wie gestern Frau Bloos. Ja, sie war wirklich ein Kind – aber auf einmal ein glückliches, seliges Kind, vor dem die Zukunft leicht und vertraut dalag.