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Lange Beine und junge Beine

Die Regatta der großen Klasse ging quer über den See von Konstanz nach Lindau. Der Segelclub hatte für seine Gäste einen Dampfer gechartert, der sie begleitete.

»Findet Sie es auch so … so beglückend?« flüsterte Narcissa ihrer Schwester zu. Sie schauten den Yachten nach. Die hohen Segel überneigten sich, ein Bild der Kühnheit, die sich der Wind dienstbar machte. Der Bug schnitt in den See, der sich im Kielwasser kräuselte. Schau nur, lachte sie, der Bodensee ist recht gefallsüchtig, nur ein bißchen erregt. Bin ich auch so?

»Sag doch!« beharrte Narcissa.

»Wundervoll!« bestätigte etwas trockener ihre Schwester.

Lantz stand mit Doktor Baumann neben den Prinzessinnen und hatte den Feldstecher an den Augen, um die Yacht zu verfolgen, die ihm gehörte und die dem Dampfer am nächsten lag.

So beglückend! wiederholte Narcissa bei sich. Richtig beglückend wäre es eigentlich nur, wenn sie es allein erleben könnte. Hier aber bewegten sich ein paar Dutzend Menschen um sie herum. Die Bekannten unter ihnen, und vor allem die, die sich vorstellen ließen, sagten reichlich oft: »Königliche Hoheit!« Mit diesem Wort legten sie eine respektvolle Grenze zwischen sich und sie, die Prinzessin. Das war immer so, wenn sie in bürgerlicher Gesellschaft war. Es störte sie nicht gerade, doch manchmal erschien es ihr als etwas Unnatürliches, ja als etwas in einem geheimen Sinn Demütigendes.

Sie hörte Lantz zu Baumann sagen:

»Der Doktor Bühler ist heute nicht in derselben Form wie gestern, als er sein kleines Boot segelte. Bei dem Wind müßte meine ›Babette‹ mehr hergeben. Weshalb bleibt er so nah am Dampfer?«

Was war gestern, in der Nacht, Unbegreifliches in mir gewesen? fragte sich Narcissa, als der Klang des Namens sie traf. Sie hatte den Tag über nicht an Doktor Bühler gedacht, und sie war sofort vor sich selbst zurückgewichen, als Luitgarda von ihm sprach. Sie hatte ihn auch nicht gesehen. Er steuert das Schiff dort! sagte sie sich jetzt. Ja freilich, deshalb hatte sie ihn nicht gesehen. Kein Pulsschlag ging lauter oder rascher. In lässiger Gehaltenheit stand sie neben den andern an der Reling und verfolgte das schöne Bild der Boote in der Regatta.

»Wissen Sie, Herr Geheimrat, Sie kennen ihn ja besser als ich«, sagte Doktor Baumann. »Mich plagt immer etwas …«

Narcissa hatte ein Gefühl von Peinlichkeit und Scham, das gegen ihre heitere Sorglosigkeit ankämpfte. Sie bemühte sich wegzuhorchen, aber es gelang ihr nicht.

Lantz warf unter dem Fernrohr, das er nicht von den Augen hob, etwas ungeduldig ein:

»Nun?«

Jetzt sollte ich weggehn, sagte sich Narcissa. Hier gibt es nichts Gutes zu hören. Warum verfolgt mich denn dieser Mann, warum werde ich immer durch andere an ihn erinnert? Ich will nichts hören, ich gehe nach drüben, da kann ich ebensoviel sehen. Aber sie blieb wie angewurzelt stehen.

»Mir kommt«, erklärte Baumann, »immer ein Bild vor Augen, wenn ich Doktor Bühler sehe. Ich sehe einen Mann vor mir, der Schiffsleinen auffängt und sich ein Trinkgeld in die Hand drücken läßt. Nichts gegen Trinkgeld, Herr Geheimrat! Aber die Vorstellung sitzt nun einmal in mir. Nehmen Sie mir's nicht übel … Nicht wahr, Königliche Hoheit, wir sprachen gestern auch davon.«

»Wir nicht, nur Sie!« antwortete Narcissa und blickte auf das Wasser. Ihr war, als müsse Lantz jetzt seinen Feldstecher umdrehen. Dann würde alles, was nahe gewesen, in eine winzige Ferne weichen, und dann würde sie mit allem, was da war, in dem umgekehrten Fernglas davonfliegen.

Lantz nahm das Glas nun weg. Aber er drehte es nicht um, sondern ließ es auf seiner Brust hängen. Er fuhr fort, geradeaus zu schauen.

»Ihnen nehme ich's bestimmt nicht übel!« sagte er dann ruhig. Baumann schaute unsicher zu seinem Gesicht hinauf. Lantz war ein Meter neunundachtzig.

»Wie meinen Herr Geheimrat?« fragte er etwas bedrückt.

»Herr Geheimrat meinen«, echote Lantz, »daß er ihnen nicht übel nimmt, wenn Sie an Trinkgeld denken. Der junge Mann, von dem Sie sprechen, denkt wahrscheinlich an etwas anderes … da Sie sich an meine besseren Kenntnisse über ihn wenden, Herr Doktor …«

Er schaute Baumann plötzlich mit einem bekräftigenden Blick an. Seine Augen waren hell und klar wie der Himmel vor Sonnenaufgang. Zugleich machte er mit einer Hand steigende Bewegungen auf der Luft, als kletterten sie auf eingebildeten Treppenstufen hoch. Er setzte diese Bewegung fort, bis seine Hand einen Fuß hoch über Baumanns Kopf stand und eine Weile stehen blieb. Fast freundlich ließ er dabei die Augen hinter den spiegelnden Gläsern der großen Hornbrille in denen seines Gesprächspartners ruhen.

»Tjawoll!« sagte er dann wie mit einem Paukenschlag.

Es entstand ein Schweigen. Nach diesem Tjawoll war auch nichts mehr zu sagen. Narcissa war es beklommen bang. Hier war plötzlich eine unheilvoll enge Verbindung geschaffen zwischen Baumann, Lantz, Luitgarda und ihr – und vor allem eine Verbindung dieser vier Personen mit Doktor Bühler, der doch dort unten segelte, viel zu nahe am Schiff, wie der Geheimrat meinte. Plötzlich löste sich die Starre in ihr, und mit einem Male machte sie aus der so streng gehaltenen Stellung ihres Körpers heraus unversehens einen weiten Schritt von der Gruppe weg und ging davon. Sie war blaß. Sie fühlte es. Sie ging rascher, denn diese Blässe erschreckte sie. Sie wollte weg aus dieser Atmosphäre, die wie eine Drohung war, sie wollte fliehen.

Das aber sollte ihr nicht gelingen, denn sie hörte gleich Schritte hinter sich und wußte, daß sie ihr galten.

Als Lantz sie eingeholt hatte und neben ihr blieb, sagte er:

»Ich habe längere Beine als Sie, wenn auch keine so beneidenswert jungen. Prinzessin, kümmern Sie sich doch nicht um diesen mißgünstigen Tropf!«

Er lächelte auf sie nieder.

Soll ich mich vielleicht um den andern kümmern? fragte sich Narcissa, die neben Lantz weiterging. Hier ist eine verwirrende Gefahr. Hundert Arme wollen mich umschlingen und mit sich ziehn.

Und sie ward sich bewußt, daß sie zur Rettung nur einen einzigen, den nächsten Augenblick hatte. Nützte sie ihn nicht, dann unterlag sie. Sie ging aufrecht in ihrer maßvollen Haltung weiter und raffte sich nun auch innerlich zusammen. Sie fühlte, diesem Mann, der sie mehr durchschaut hatte als sie sich selbst, müsse sie etwas Kühnes sagen, um ihn durch etwas Unerwartetes aus diesem Zirkel herauszureißen und dabei selbst die Sicherheit wiederzufinden.

»Geheimrat«, begann sie plaudernd, »Sie kennen den Haufen der sonderbaren versteinerten Fossilien, der im Park bei uns liegt.«

Sie blieb stehen und schaute ihn mit ihren runden fremden Augen mutig an.

»Meine Tante Josephine hat sie aus Feuerland mitgebracht. Als ich gestern davorstand, kam mir eine Vorstellung, ich gehöre nicht zu den Menschen, sondern zu ihnen. Gottseidank wollte ich mir zugleich eine Rose pflücken, wobei ich mich stach. Und es waren zwei schöne Blutstropfen auf meinen Fingern. Die waren dick und rot und lebendig. Also ist es nicht wahr …«

Lantz sah, wie dabei das junge Gesicht mit den fremden Augen einen Ausdruck äußerster Spannung annahm. So klettert man auf dem Dach eines Kirchturms, wenn einem Schwindel droht, erkannte er.

Er küßte ihr rasch die Hand und ging davon. Er war gerührt.

Hartgesottener Mann, das kommt dir nicht oft vor, sagte er zu sich.


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