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Bühler setzte Concordia am Rheinsteig ab.
Als sie sich aus dem Wagen hinausschob, reichte er ihr hastig und flüchtig die Hand. Was soll das alles?, fragte er sich. Mit Widerstand, ja mit Haß in den Augen schaute er ihr nach, wie sie auf den Eingang in die Schreibegasse zuschritt.
Bald wird sie in der Gasse verschwunden sein, sagte er sich. Ich habe ihr heute zum letztenmal die Hand gegeben. Ich sehe sie zum letztenmal so verschwinden.
Sie stieß ihn ab, aber zugleich befiel ihn die Erinnerung an die Kastanienwälder, in denen Concordia und er so eng beieinander waren – eben noch, vor einer Stunde. Aber nun wußte er auch, daß dieser Rausch nichts anderes war als ein vergeblicher Versuch, Narcissa zu vergessen. Es blieb immer nur eins: Narcissa.
Er sah, wie Concordia zögerte und sich nochmals zu ihm umwandte. Er sprach ihr nach:
»Geh doch! Es ist das letzte Mal gewesen!«
Aber wie oft ist es schon das letzte Mal gewesen! War nicht jedesmal das letzte Mal gewesen, und dann war er nachher doch immer wieder hingegangen, war unterlegen und hatte sich wieder an sie verloren. Sie war zu der Gelegenheit geworden, die stets in der Tür stand, wenn er suchend vorbeiging.
Schulkinder, die von der nahen Schule auf der unteren Laube heimkehrten, schlenderten jetzt zwischen ihm und Concordia durch, die wie ein Bild an der Ecke stand, reglos herschaute und zu warten schien.
Die Schule, dachte Bühler. Ich habe zu Concordia nun auch noch die Schule! Es muß etwas geschehen. Es muß alles geschehen. Dann stieß er den Pfiff aus, der zwischen ihm und Concordia üblich war, und winkte sie mit der Hand zurück. Jetzt wird er es beendigen. Keine Pause darf sich zwischen seine Entschließung und Ausführung schieben. Die Pausen waren es, die immer die Gelegenheit zu neuem Zusammenkommen schufen.
Er gab sich keine Rechenschaft darüber ab, ob das, was er vorhatte, roh oder feig oder beides sei. Es war ein Gesetz in ihm gültig geworden, das seine Auswirkung verlangte. Er gehorchte.
Als Concordia wieder am Wagen stand, sagte sie »Ja?« halb sich hinbietend, aber auch zögernd, als ahne sie, daß dieses Zurückgerufenwerden etwas entscheide, was sie schon oft hatte auf sich zukommen und staunend hatte wieder weichen sehen.
Er öffnete den Schlag und ließ sie wieder hereinsitzen, ohne daß er ein Wort sprach. Das sei ihr zugestanden, daß ich ihretwegen die Menschen nicht fürchte!, sagte er sich und fuhr mit ihr die Schillerstraße hinab und mitten durch die Stadt. Das Verdeck des Wagens war heute offen. Jemand ging grüßend vorbei. Er schaute nicht hin und antwortete auch nicht.
»Ich muß es Dir endlich sagen!« begann er dann. »Es ist vielleicht nicht der richtige Ort, in dem Wagen, mitten in der Stadt …«
»Sag's gleich! Keine langen Geschichten!« befahl Concordia.
»Jeder Ort ist gut, zu sagen und es zu hören, was gesagt und gehört sein muß.«
Sie saß steif da, nicht wie sonst, wo sie sich in das Polster schmiegte wie ein Tier. Bühler bemerkte es auch. Sie weiß, daß es das letzte Mal ist. Sie fühlt sich nicht mehr hergehörig, dachte er. Er steuerte den Wagen jetzt an der Marktstätte vorbei auf den Bahnhof zu. Aus diesem Bahnhof war Narcissa eines Tages von ihm fortgefahren. Weshalb? Da überfiel es ihn wie ein Stoß und er sagte hastig und ohne sie anzublicken, es sei notwendig, daß er sich von ihr trenne.
Plötzlich fragte er sich betroffen: Weshalb sage ich das unbeherrscht? Ist sie denn schuld oder bin ich es? Weshalb bin ich so hart gegen sie? Und er wollte es wieder gutmachen und begann von Dankbarkeit zu sprechen. Doch Concordia schlug mit der Hand auf die Kante der Tür und sagte:
»Basta! Ich verstehe! Wie Du willst! Nur soll der Herr Doktor nicht meinen, daß ich mir nicht ebenso gut bin, wie er sich selber gut ist. Ich bin stolz, und es ist aus! Wie es aus ist, weiß ich noch nicht. Nimm Dich in acht vor mir. Jetzt halten!«
Der Wagen bog in die Kreuzlinger Straße ein.
»Halten!« schrie Concordia und stampfte mit dem Fuß auf.
Er bremste mitten in der Straße. Sie verließ den Wagen, nachdem sie Bühler kurz und wegblickend zunickte, und eilte auf die Straße zu, die zum Emmishofer Zoll abbog.