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»Jean-fait-tout braucht Hafergeld für die Pferde«, sagte der Herzog. Mit dem Namen Jean-fait-tout nannte man den Diener Johann Vadut, der im Laufe der Zeit der einzige männliche Angestellte im Schloß geworden war. Seitdem König Ferdinando vor den Republikanern aus seinem Land hatte fliehen müssen und die Apanage, die der Herzog als Grande bezogen, weggefallen war, vereinigte er in sich die Ämter eines Majordomus, Pferdeknechts, Kutschers, Butlers, Gärtners, Verwalters und Dieners.
Der Herzog sagte es zu Luitgarda, die er im Park bei den Versteinerungen getroffen hatte. Sie trug ein Bündel Porreestengel in der Hand, die sie aus dem Gemüsegarten geholt hatte und in der Küche brauchte.
Der Herzog setzte einen Fuß auf das Fragment eines versteinerten Baumstammes und stellte seinen Spazierstock einem kleinen Fossil auf den Rücken, das aus andern ähnlichen Gebilden in dem Haufen heraus ragte. Die Versteinerungen stammten von der Prinzessin Josephine, einer Schwester des Königs und der verstorbenen Herzogin. Sie hatte sich mehrmals an Forschungsreisen nach dem südlichen Süd-Amerika beteiligt, die Fossilien von dort mitgebracht und im Park aufstellen lassen.
Der Herzog folgte mit dem Blick dem Lauf seines Stockes und schaute so gebannt auf den Kopf der versteinerten Eidechse neben der Spitze des Stockes, als ob es in diesem Augenblick nichts Spannenderes geben könnte als versteinerte Reptilienhäupter.
»Hast Du noch etwas Geld?« murmelte er.
»Ich will Narcissa fragen«, antwortete Luitgarda. »Ich habe heute Johann und Frau Bloos etwas gegeben.«
»O laß nur!« wehrte der Herzog ab. Er zog erschrocken seinen Stock an sich, als habe er dem Steintier ein Unrecht angetan.
»Siehst du, nicht zu Narcissa! Sie soll nicht auch …! Wir wollen sie, du und ich, meine Gute, lieber hinter dem Paravent halten, im Schutz vor dem Leben. Sie hat Phantasie, und wir haben eine rauhe Wirklichkeit, die ihr schaden würde. Ich bitte dich, trag es allein mit mir, meine Gute!«
»Braucht er viel?« fragte Luitgarda.
»Zweihundertvierzig Mark.«
»Sie werden sich schaffen lassen, Vater.«
»Tapferes Mädchen«, sagte der Herzog. »Die Zeit ist nicht mit uns und läßt uns nichts übrig als einen Weg zu finden, den wir in der Stille und ohne Aufsehen zu erregen zu Ende leben können. Wir sind in eine Flaute geraten, um im Stil dieser Festtage des Segelclubs zu sprechen, und Menschen werden aus andern Zonen durch Böen …«
Er schwieg unvermittelt. Narcissa bog um ein Boskett.
»Was für Böen?« fragte sie.
»Ich sprach mit Luitgarda gerade von der Geistesgegenwart, mit der gestern das kleine Boot die Bö ausnutzte, die unerwartet gekommen war. Nun ja, meine guten Kinder, alsdann empfehle ich mich. Ich will die Pferde etwas ausfahren.«
Er ging auf das Schloß zu. Es war ein gradwandiger Kasten, aus roten Ziegelsteinen in einem maurisch anmutenden Stil gebaut. Sein Vater hatte es in der Mitte des vorigen Jahrhunderts in dem Park am Seeufer beim Waldhaus Jakob erstellen lassen. Links davon, durch Bäume halb verborgen, stand die Kapelle. Früher hatte man einen Hausgeistlichen gehabt. Jetzt wurde sie nur noch einmal im Jahr benutzt, wenn der Monsignore die Jahresmesse für die verstorbene Herzogin drin las. Rechts abgerückt lagen die Stallgebäude.
Während der Herzog dorthin abschwenkte, hielt er den dünnen Stock eng an seine langen und schlenkernden Beine, deren Gang von seiner Tätigkeit an Ferdinandos Hof soviel Wohlgefälligkeit beibehalten hatte.
Als er außer Hörweite war, sagte Narcissa:
»Ihr habt natürlich von ganz anderem gesprochen. Na schön! Ich habe dich aufgesucht, um dich zu fragen, was du heute Mittag anziehst. Das Blaue oder das Weiße? Wenn wir auf dem Dampfer mitfahren, der die Regatta der Segler der großen Klasse bis Lindau begleitet.«
»Man hat uns auch dazu eingeladen, ja!« antwortete Luitgarda. »Der Geheimrat Lantz ist immer liebenswürdig zu uns. Ich glaube, das Blaue. Bei der langen Fahrt ist es weniger empfindlich. Weißt du, ob der Doktor Bühler auch heute mitsegelt?«
Narcissa fragte fast feindselig:
»Wer ist das?«
»Aber Du weißt doch: eben der, der gestern gesiegt hat … der mit der Erfindung!«
»So.« Narcissa wandte sich ab.
»Was hast du, Narcissa?«
»Weißt du, daß der Vater des Doktor Bühler die Dampfer an den Anlegekais angebunden hat?«
Luitgarda warf einen Blick auf die Porreestengel in ihrer Hand. Sie drückte sie näher an sich und antwortete freundlich:
»Schiffe müssen angebunden werden!«
»Ja, nicht wahr?« rief Narcissa mit einem Gesicht, als trete sie aus einem finsteren Dickicht auf einen Felsen über freiem Land. Aber ihre Miene änderte sich gleich wieder. »Weshalb hat Vater vorhin nicht die Wahrheit über euer Gespräch gesagt? Ich weiß nicht, worüber ihr verhandelt habt. Aber als ich kam, hatte er seinen Stock auf die Versteinerungen gestützt, und es sah aus, als deute er mit einem überlangen Finger auf sie. Ich weiß, er hat dir das nicht gesagt. Aber er hätte es dir sagen können: Das sind wir! Wir sind diese Fossilien. Tante Josephine hat sie als eine Mahnung hier aufstellen lassen. Auch wir sind mit unsern Seelen eingekapselt … schon lange tot und versteint … Oder hat er dir so was gesagt?«
Luitgarda ängstlich und wehmütig mahnend:
»Narcissa!«
»Fossilien! Ja!« rief Narcissa. »Natürlich Fossilien! Der Doktor Baumann ist ein unvornehmer und indiskreter Mann. Ich hab mich mit ihm geniert gestern …«
In diesem Augenblick fuhr der Herzog mit den beiden Rappen durch den Hof auf die Ausfahrt zu. Die Zügel fielen von dem übermäßig hohen Bock des Jagdwagens aus seiner Hand steil zu den Pferdeköpfen nieder. Die Tiere stampften lebenslustig im Kies und durchs Tor ins Freie. Der lange Mann saß starr aufgerichtet, regungslos hoch über ihnen. War es nicht, als kutschiere er seine eigene Leiche aufrecht davon, ins Freie?
Luitgarda, die Porreestengel eng an das Mieder gedrückt, erhielt keine Aufklärung darüber, weshalb Narcissa sich mit Doktor Baumann geniert hatte, denn Narcissa war verstummt, als sie die Erscheinung ihres Vaters sah. Sie tupfte mit den Fingerspitzen auf ihre Schläfen, und die Fingerspitzen waren leblos und kalt. Da faßte sie mit einem wilden, zornigen und aufbegehrenden Griff in den Rosenbusch, der neben ihr blühte. Die Dornen drangen in ihre Hand. Sie blutete an zwei Fingern mit dicken, von rotem Leben geschwollenen Tropfen. Es ist doch rot! jubelte es in ihr. Es ist doch rot! Und in demselben Augenblick dachte sie an Doktor Bühler.
Luitgarda trug ihre Porreestengel in die Küche, und Narcissa lief beschwingt zu den abgelegenen Teilen der Anlagen, wo ein kleiner, dicht zusammenschließender Tannenwald das Grundstück beendete. Es war still, dunkel und einsam. Hier endlich konnte sie das Gefühl haben, ganz mit sich allein zu sein. Narcissa hielt die Finger vor sich hin, aus denen der Rosendorn die wunderbaren roten Tropfen herausgezaubert hatte. Sie ging auf die Hecke zu, die an den öffentlichen Jakobswald grenzte. Die Hecke, im Schatten wachsend, hatte große Lücken. Oft lagen, von Vorübergehenden achtlos weggeworfen, leere Zigarettenschachteln, alte Zeitungen, ein zerfetzter Kragen, ein zerstampfter Hut, eine zerschellte Flasche dort. Eben deshalb war diese Hecke der Teil des Besitzes, der durch dieses wertlose Gerümpel das Schloß am stärksten mit der Außenwelt in Berührung brachte. So bedeutete sie für Narcissa von jeher dieses rätselhafte unbekannte »Draußen« selber, dieses mit Gut und Böse in untrennbarer Bindung verquickte Draußen, von dem sie nichts wußte, und oft war Narcissa nur zu ihr gegangen, weil sie sehen wollte, was für neue Zeichen es der Hecke wieder übergeben hatte.
Als Narcissa bis zur Hecke vorgedrungen war, gewahrte sie, wie ein paar Buben sich an den Sträuchern zu schaffen machten. Sie ging neugierig auf sie zu. Da liefen sie weg, und einer rief:
»Die Prinzessin kommt!«
Ja, die Prinzessin Habenichts, dachte Narcissa.