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Frau Bühler bekommt Besuch

Die Schulen in Konstanz begannen. Bühler ging nicht hin. Er dachte nicht daran. Er hatte vergessen, daß sie beginnen sollten. Das war jetzt nebensächlich. Wenn er zu Hause war, lief er durch die beiden Zimmer wie durch eine Leere.

Der Schuldiener kam. Der Direktor schicke ihn. Der Herr Studienreferendar habe wohl vergessen, daß heute die Schule beginne.

»Ach was!« sagte Bühler wegwerfend.

Der Schuldiener schaute ihn unsicher an.

»Nun!« rief Bühler, »ich komme nicht! Können Sie ausrichten.«

»Herr Studienreferendar«, entgegnete der alte Pedell, »das geht doch nicht!«

»Wer sagt Ihnen das?« antwortete Bühler gereizt.

»Das ist doch unmöglich. Sie müssen doch …«

Bühler unterbrach ihn heftig:

»Nichts ist unmöglich! Eine Erfahrung, die ich habe! Im Gegenteil, es sieht so aus, als ob gerade das Unmögliche das einzige Mögliche ist.«

Er ist betrunken, sagte sich der Pedell. Er kannte sich nicht aus. Zögernd blieb er noch, ungewiß, ob es einen Sinn habe, es weiter zu versuchen. Da sagte Bühler:

»Ich habe leider keine Zeit!«

Und der Pedell ging.

Eine Viertelstunde später traf sich Bühler mit Concordia und fuhr mit ihr in die Wälder.

In derselben Stunde läutete der Direktor der Realschule an der Tür des Hauses im Grüngang, und die alte Frau Bühler öffnete ihm.

»Ist der Herr Doktor daheim?« fragte er.

»Ebe nein, Herr Direktor«, antwortete Frau Bühler. »Es tut mir sehr leid. Kann ich etwas ausrichten vom Herrn Direktor? Kommen Herr Direktor nicht herein?«

»Sind wir allein?« fragte der Direktor. »Ich möchte mit Ihnen sprechen, Frau Bühler. Ich weiß nicht, ob Sie auf dem Laufenden sind. Die Schule hat heute begonnen. Ihr Sohn ist nicht gekommen, und da ich dachte, er sei vielleicht unpäßlich, habe ich Straub hergeschickt, unseren Pedell. Und dem hat er gesagt, er käme nicht. Jetzt wollte ich selber nachschauen. Das Verhalten Ihres Sohnes ist mir nicht verständlich. Er hat nie Anlaß zu der geringsten Klage gegeben. Im Gegenteil gehört er zu den gewissenhaftesten Kräften unserer Schule. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was los sein mag. Können Sie mir nicht auf den Weg helfen?«

Aber Frau Bühler wußte nichts. Verschüchtert und geängstigt saß sie da und kämpfte in ihrer Fassungslosigkeit um die Worte.

»Es ist natürlich vertraulich, wenn Sie mir etwas mitteilen können, was mich auf den Weg zur Erkenntnis seiner Handlungsweise bringen könnte«, sagte der Direktor. »Der Vorgang ist außergewöhnlich und kann natürlich Folgen nach sich ziehen, die niemand stärker bedauern würde als ich. Eben, weil Ihr Sohn eine so bedeutende Lehrkraft ist.«

»Er ist nimmer wie sonscht«, stammelte Frau Bühler.

»Und haben Sie eine Vermutung, was die Ursache dieser Änderung ist? Vielleicht kommen wir dann an die Wurzel des Übels?«

»Er ist nimmer wie sonscht!« sagte Frau Bühler noch einmal und schaute bang und bekümmert an ihrem Besuch vorbei auf die Türe zu dem Zimmer ihres Sohnes.

»Seien Sie versichert, daß die Ursache meines Besuches nur das Wohl Ihres Sohnes ist. Ich frage nicht etwa aus persönlicher Neugier, Frau Bühler. Der Vorgang ist, wie gesagt, so ungewöhnlich, daß er auch ungewöhnliche Ursachen haben muß, und ich halte es für meine Pflicht, als Vorgesetzter und als Kollege alles zu tun, was eine Klärung und in der Folge hoffentlich eine Regelung des Falles herbeiführen kann, bevor sich Folgen einstellen, die ich nicht mehr abzuwenden vermag.«

Frau Bühler zuckte nur mit den Schultern. Ihr altes Herz schlug beklommen. Ja, sie wußte wohl etwas und hatte das geänderte, erregte Leben, das ihr Doktor in der letzten Zeit geführt hatte, ahnungsvoll damit in Zusammenhang gebracht. Aber sie konnte dem Direktor doch nicht sagen, daß sie von Frau Bloos aus dem Schloß wußte, die junge Prinzessin von Mont'Alto sei geflohen, und Frau Bloos meine, das hinge mit ihrem Sohn zusammen … und sie, die Mutter selber, habe sich Gedanken darüber gemacht, daß die Änderung bei ihrem Sohn mit dem Entfliehen der Prinzessin etwas zu tun haben könnte …

»Es ist nämlich berichtet worden«, hörte sie den Direktor nun fortfahren, »Ihr Sohn treffe sich öfter mit einer Italienerin, die in einer Wirtschaft in Kreuzlingen ist.«

»Du mei!« rief Frau Bühler erschrocken und begann zu weinen.

»Frau Bühler, regen Sie sich doch nicht auf. Ich hielt es für meine Pflicht, Ihnen auch das zu sagen, weil es vielleicht einen Fingerzeig bietet. An sich ist das ja nicht schlimm und nicht außergewöhnlich. Junge Leute halt! Wer von uns war anders? Wissen Sie was, Frau Bühler, sprechen Sie einmal mit ihm. Vielleicht ist es vorsichtig, wenn Sie von meinem Besuch nichts sagen. Das könnte den Geist der Widersetzlichkeit, der in ihn gefahren ist und zweifellos die Schuld an seinem Benehmen trägt, nur noch stärker reizen. Sie wissen, daß die Schulen begonnen haben, Sie sehen, daß er nicht zum Unterricht geht. Das ist ja ein glaubhafter Anlaß.«

Frau Bühler weinte still in sich hinein und nickte. Der Direktor legte sein Hand auf ihren Arm:

»Mut und Zuversicht, Frau Bühler. Wir werden die Sache mit Ihrer Hilfe schon wieder ins Gleichgewicht kriegen.«


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