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Vier Menschen am Abgrund

Narcissa …

Narcissa hatte, als Färg sie verließ, in aufwallender Erregung die Läden der beiden Zimmer zugestoßen, die sie mit ihrer Schwester bewohnte. Luitgarda kam angelaufen und fragte nach dem Grund.

»Ich will nichts von einer solchen Welt sehen!« schrie Narcissa sie an.

Dann warf sie sich in einen Sessel, stützte das Kinn auf ihre beiden Hände und starrte ins Leere auf den Fußboden. Weil alles, was in diesem Erlebnis über sie kam, in der Form des Verhängnisvollen eingebrochen war, sah sie dieses Verhängnisvolle auch in der Einmischung tätig, mit der ihr Vater und Färg hinter ihrem Rücken in Dinge griffen, die für sie selber in die Schicht tausendfach gefalteter Unfaßbarkeit verstreut und eingewurzelt waren. Jetzt war alles unheilbar zerstört, das feine Gewebe des Unwägbaren war zerrissen.

»Wird dir nicht leichter, wenn du mir …?« hörte sie Luitgarda bittend fragen.

Nein, es würde ihr nicht leichter. Jeder weitere Griff in ihr Inneres würde nur noch den Scherbenhaufen, aus dem es bestand, klirrend aufwühlen. Scherben? … Die hätte man anfassen können. Da drinnen aber war alles zu einer wüsten Leere zerschlagen.

Luitgarda …

Luitgarda war stumm und unbeachtet Zeugin aller Vorgänge dieses Tages geworden. Sie hatte Färg weggehen und wiederkommen und in die Räume des Vaters verschwinden sehen. Sie hatte zugeschaut, als ihr Vater das Schloß verließ und heimkam, und gewahrte, daß er erst Färg und dann Bühler empfing und daß dieser bald wieder, wie von Sinnen, aus dem Schloß fortstürzte. Sie hatte gesehen, wie Färg aus Narcissas Zimmer kam, die Treppe hinaufstürmte. Und in aller Gesichtern stand der Krampf ergebnisloser Aussprachen, vergeblicher Versuche, ausbleibender Lösung, verborgener Qualen.

Menschen, die wie Luitgarda verzichtet haben, sind in ihrem Ahnungsvermögen geschärft. Sie halten sich außerhalb des Willens, tätig einzugreifen, und weil sie auf diese Weise von nichts abgeleitet, nicht von Wunsch und Sehnsucht betört und irregeführt werden, stehen sie um so eindringender in den Dingen selber. Luitgarda erkannte aus ihrem Gefühl alles, was vorging. Sie stand bis in die letzte Faser des Herzens mitten in den Geschehnissen und war dennoch abseits gedrängt. Sie kam sich vor, als sei sie in eine Höhle geworfen worden, die selber aber den Insassen in einer dumpfen Fesselung gefangen hielt.

Sie vermochte diese Atmosphäre nicht mehr zu ertragen, nahm ihr Rad und verließ das Schloß. Sie pflegte stets erst draußen auf der Straße aufzusitzen, und als sie sich dazu in Bewegung setzte, stellte sich eine Hemmung ein: der Vater und die tägliche Zeremonie des Nachtessens? Er wäre allein mit Färg! Er würde an ihrer und Narcissas Abwesenheit Anstoß nehmen, sie als einen Verstoß ansehen, der ihn beleidigte. Sie war Sklavin der Zustände im Schloß und begann den Fuß vom Pedal zu heben, um zurückzugehen. Aber die Aussicht, wieder in die mit Entsetzen angestopfte Höhle hinein zu müssen, kam ihr völlig unerträglich vor. Sie saß auf und fuhr davon.

Sie fuhr in die Schweiz, über den Gottlieber Zoll. Sie wird in Dreiviertelstunden in Mannenbach sein, ihr Rad einstellen und hinauf in die Wälder gehen. In den Wäldern und der Einsamkeit wartete es auf sie. Es war ihr oft freundlich gewesen. Wird es ihr auch heute diese Gesinnung erweisen, heute, wo sie es stärker als je vorher nötig hatte? Wo es mehr als eine Hilfe sein mußte? Denn was sie heute suchen ging, war eine Rettung.

Sie umstieg das Schloß von Salenstein. Die drei hohen alten Giebel reckten sich aneinander aufgerichtet auf den Felsen hoch. Sie drangen in einem unbestechlichen Trotz in die Luft. Sie, Luitgarda, kannte den Trotz nicht. Sie kannte nur den Verzicht. Aber der Verzicht, wollte ihr heute scheinen, verlangt höhere Kräfte als der Trotz. Sie fühlte jetzt, daß sie wohl im Besitz dieses Verzichtes über die Kräfte verfügte, Narcissa aus ihrem Trotz heraus zu erlösen. Jedoch die Kraft, sich selber zu helfen? Nach der suchte sie vergeblich in ihrem Gemüt.

Da änderte sie den Weg. Es geschah unbewußt. Sie hatte dem Schloß Eugensberg zugehen und hinter ihm durch die einsamen hohen Wälder nach Berlingen oder durch die Rebäcker wieder auf die Landstraße herabsteigen wollen. Nun kletterte sie tiefer ins Land hinauf. Sie war bald in dem Pfad, der die Schlucht hinan führte, oben über einen Steg den Bach überquerte und weiter stieg.

Zum erstenmal, obgleich sie den Weg öfter gegangen, sah sie, als sie den Steg schon betreten wollte, daß dieser nur aus einem breiten Brett bestand. Es ging in den Abend, und hier unter den Bäumen stand schon eine starke Dunkelheit. Sie bückte sich zu dem Steg nieder, um sich zu überzeugen, ob es wirklich nur ein lose hingelegtes Brett war. Eine Spanne unter dem Brett rauschte der Bach über die Kante als Wasserfall in die Tiefe.

Es kamen ihr wieder die Gedanken zurück, unter denen sie unbewußt die Änderung ihres Weges vorgenommen hatte, und während sie niederhockend das Brett zu heben versuchte, dachte sie:

Wenn man verzichtet, hat man nichts, ganz und gar nichts. Ganz dicht neben dem einen steht die Leere. Ein Schritt nur, und man tritt in sie ein!

Ihre Seele war müde, und die Ermattung ihres Innern griff auf ihren Körper über. Aus der hockenden Stellung kniete sie in den Pfad. Sie hatte das Brett ein wenig verrutscht. Es war wohl in die Erde eingetreten, doch nicht befestigt. Auch bedeckte die Bodenschicht an dieser Stelle kaum handhoch den Felsen, in dessen weichen Sandstein der Bach sich unter ihm eine tiefe Rinne geschliffen hatte. Durch sie schoß er, in einen Wirbel gepreßt, über die Tiefe.

Einen Holzhacker hatte sie einmal gefragt. Dreißig Meter werden es alleweil sein bis da unten! hatte er gemeint. Der Turm am Schloß war vierzehn oder fünfzehn Meter hoch. Wenn sie jetzt das Brett ein wenig beiseite stoßen würde, nur einen halben Schritt breit, würde es auf ihrer Seite übers Ufer kippen, in den Strudel geraten, auch jenseits losgerissen werden, und man käme nicht mehr hinüber. Das Drüben bestände dann nicht mehr. Aber was war das Drüben? Was hatte man dort zu suchen, zu finden?

Sie gab sich keine Antwort darauf, sondern beschäftigte ihre Vorstellungen wieder mit dem unheimlichen Brettspiel. Wenn es in den Strudel geriete, würde es im nächsten Augenblick in die Tiefe segeln, die doppelt so hoch war wie der Turm.

Ja: segeln … das Wort sagte sie. Sie wiederholte es laut, und damit stellten sich zwei Vorstellungen ein, die zuerst übereinander lagen, dann sich ineinander fügten: Das Segelboot, das in der Nacht am Schloß vorbeiglitt, mit dem im Dunkeln unerkenntlichen Menschen am Steuer, den sie aber kannte … das war die eine, und die andere: Wenn es nicht das Brett wäre, das in die Tiefe segelte, sondern sie selber! Einen Augenblick schwebte etwas unnennbar Schönes, ein Duft geheimnisvoller Frühlingsblüten um sie auf, und sie fühlte sich ganz eingehüllt und verloren in dem Zauber dieses Duftes.

In demselben Augenblick kippte das Brett aus ihrer Hand über die Kante, der Strudel knirschte dagegen, drehte es um, riß es hoch und dann jenseits ab, und schaukelnd warf er es im nächsten Augenblick mit sich selber in den Abgrund.

Luitgarda schrie auf, warf den Körper rückwärts.

Sie grub die Hände in das Erdreich hinter sich und zerrte sich von der Kante des Abgrundes weg, an der der Bach in einer dämonhaften Dunkelheit glitzerte.

Noch eine Zeitlang blieb sie auf dem Pfad hocken. Dann raffte sie sich auf und lief den Wald hinab und durch die Wiesen.

In später Abendstunde öffnete ihr Frau Bloos das Schloßportal. Besorgt wollte sie fragen, aber sie verstummte sofort. Nur zwei Worte stammelte Luitgarda:

»Der Abgrund!«

Und in diesen beiden Worten tauchte das grauenhafte Erlebnis des Gedankenspiels mit dem Tode aus ihr hervor, die Sünde aus dem Zusammenbruch ihres Innern, die Pein des nachfolgenden Entsetzens vor sich selbst.

Frau Bloos wußte nicht viel damit anzufangen, aber sie merkte, daß es hier nichts weiter zu fragen gab. Beklommen und zutiefst erschrocken beim Anblick der sonst so gemessenen Luitgarda sagte sie nur:

»Königliche Hoheit, fassen Sie sich doch! Kommen Sie doch, ich bringe Königliche Hoheit nach oben.«

Luitgarda wäre kraftlos in die Knie gesunken, wenn Frau Bloos sie nicht gestützt hätte.

Graf Färg …

Färg saß um diese Zeit auf der Kaimauer des Schlosses und verbarg sich in die Finsternis unter der Trauerweide. Wie häßliche Drohvögel in einem finsteren Turm, so gespensterten die Gedanken in ihm. Er saß an einer Stelle, die den Blick nach den Fenstern freigab, hinter denen Narcissa bei den geschlossenen Läden an der Welt verzweifelte.

Was habe ich getan! klagte er sich an. Er kam sich vor wie ein weggeworfenes Blatt in der Unbill der Witterung und dem Schmutz des Straßenkotes. Dieses Blatt trug seine Entwertung so sichtbar vor sich her, daß es kein Auge der Mühe wert gehalten hätte, sich auch nur für eine Sekunde zu ihm hinabzubegeben.

Die Sportler nennen es »unfair«, bei den Engländern heißt es »nicht gentlemanlike«, bei uns sagt man »eines Edelmannes unwürdig«, und auf der ganzen Welt bezeichnet man es als »unanständig«, schlicht und einfach unanständig, nicht mehr und nicht weniger. Daß er zu den Worten des Herzogs, die eine Verbindung zwischen ihm und Narcissa andeuteten, geschwiegen hatte, war zugleich unehrenhaft und wahnwitzig. Er wußte jetzt, daß ihn dies auch den letzten Zusammenhang mit Narcissa kosten müsse, den er durch eine ruhige Aussprache und durch das Angebot seiner Hilfe hätte bewahren können.

Wußte sie es schon? War der Herzog bereits bei ihr gewesen? Blieben darum die Läden da oben zu? »Indiskutabel« war seine Haltung, er hatte sich entwürdigt und Narcissa geschmäht durch sein Schweigen.

Was er jetzt über sich ergehen lassen mußte, war schlimmer, als es der Tod seiner Frau damals gewesen war. Denn vor dem Tod gab es nur die Fügung ins Unvermeidliche, der Gegenstand der Verzweiflung war durch den Tod zerstört. Aber hier blieb eine lebendige, immer weiter wirkende Kraft …

Wie Klagelaute hörte es sich an, wenn die Wellen an die Kaimauer schlugen. Was wehklagte hier? Als Färg seine Blicke vom Fenster wandte, an das er sich wie gekreuzigt vorkam, gewahrte er nahe, jenseits der in dichten Behängen aufs Wasser niederrieselnden Trauerweide, ein blasses Segel. Färg barg sich betroffen und erschrocken tiefer unter das Gezweig. Am liebsten hätte er sich vor sich selber versteckt.

Bühler …

Bühler saß im Segelboot jenseits der Trauerweide.

Das Ergebnis der Grübeleien, die dem Anfall der Verzweiflung folgten, war immer wieder: ich muß ihre Nähe haben. Ich hole sie zu mir zurück. Was sie getan haben soll, ist so unglaubwürdig, daß sie es nur gezwungen hat tun können. Ich zerbreche den Zwang. Ich klettere an den Fugen der Ziegelsteine hinauf in das offene Fenster, in dem sie in jener ersten Nacht gestanden hat. Ich mache aus dem Tauwerk des Bootes ein Lasso und werfe es ihr im Fenster um den Leib und reiße sie zu mir nieder.

Aber dann sah er, daß die Fenster geschlossen waren. Die Läden lagen davor. Alles zu und finster. Es war ein Sinnbild, daß sie ihm verloren gegangen.


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