Friedrich Gerstäcker
Unter dem Äquator
Friedrich Gerstäcker

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39. In den Bergen von Java. – Lockhaart und Wagner schmieden Pläne

Die Postpferde standen, auf die bestimmte Minute, eingeschirrt vor dem Hotel; die Passagiere ließen ebenfalls nicht auf sich warten, und noch in dem ungewissen kühlen Dämmerlicht des erwachenden Tages rollten die leichten Wagen durch die herrliche Allee hinaus, dem freien Land und den fernen Bergen zu. Noch hatten sie Buitenzorg nicht verlassen, als ein Trommelwirbel zu ihnen herüberschallte. Es war das Signal, das die Soldaten auf ihren Sammelplatz rief.

Hedwig schrak zusammen und ein tiefer Seufzer hob ihre Brust – aber es war nur ein Moment. Mit den verhallenden Tönen, mit dem erwachenden Tag schwand jedes ängstliche Gefühl, das bis dahin vielleicht noch ihre Brust beklemmt hatte. – Und wie das um sie her lebte und schwirrte und der Sonne seinen Jubel entgegentrug. Zahllose Schwärme von Reisvögeln und anderen kleinen, zierlichen Waldbewohnern flatterten um sie her aus Hecken und Bäumen; an den Bändern der sumpfigen Reisfelder gingen langbeinige storchenartige Vögel gravitätisch spazieren – eingeschirrte Büffel, auf denen kleine, halbnackte malaiische Jungen als Treiber ausgestreckt lagen, kamen langsam herbei, um ihre Arbeit des Pflügens oder Eggens noch in der Morgenkühle zu beenden. Dicht neben der herrlich angelegten Chaussee knarrten und quietschten die zweirädrigen Bambuskarren der Eingeborenen, schwer mit Produkten des inneren Landes beladen, in einem schmutzigen, bis auf den Grund zerfahrenen Beiweg dahin und quälten sich und ihre armen Tiere bis aufs Blut – aber die harte, glatte Chaussee der Holländer durften sie nicht betreten – es wäre sonst freilich auch keine solche Chaussee mehr geblieben.

Wie eigentümlich dabei die Reisfelder an den Hügeln aussahen, die, in Terrassen angelegt, aus jedem Fußbreit Boden zu kleinen, von Rändern eingeschlossenen Flächen hergerichtet waren, und wie die Quellen, von den Hügeln herabkommend, die oberen Abteilungen füllten und dann herabliefen – durch alle hindurch, um die Saat darin zu kräftigen und zu reifen. – Und dort drüben die Berge! – Vor ihnen in dunkler Majestät stieg der Berg Megamendong, der »Wolkenumhüllte«, empor, und während diesen dichter Wald bedeckte, bildeten hier zwischen den Reisfeldern die Dessas kleine Baumoasen, an denen das Auge mit Entzücken hing. Hügel nach Hügel passierten sie jetzt, bis sie endlich am Fuß des Megamendong selber zuerst den eigentlichen Urwald erreichten. Und wie groß, wie herrlich zeigte sich hier Gottes schöne Welt in ihrer neuen wilden Pracht!

Verschwunden war plötzlich der ganz besondere Charakter des Landes, der dem urbar gemachten Boden eigen ist; denn wenn dort unten die Gebäude auch durch üppige Fruchthaine versteckt wurden, verrieten doch überall schon die regelmäßigen Umrisse der Felder sowie hier und da ein den Pflug hinter sich drein schleppender schläfriger Karbau den tätigen, ordnenden, aber auch beschränkenden Fleiß des Menschen. Hier dagegen war noch alles Wildnis – Wildnis, wie Gottes Hand den Waldsamen selber über das Land ausgestreut und ihn mit seiner Sonne gereift, mit seinen Bächen begossen hatte. Hier allerdings hörten die Kokospalmen auf, denn noch mächtigere Bäume als sie, mit riesigem stahlgrauen Stamm und prachtvollen Laubkronen, die Yamudju-Eichen und Rijadjis, standen hier als die Könige des Waldes und zeigten durch keinen Zweig gestörte glatte Stämme von weit über hundert und hundertundzwanzig Fuß Höhe. Mit ihren dunklen Laubkronen, die an unsere Buchen- und Eichenwälder erinnerten, hätten sie auch dem Wald fast den tropischen Charakter genommen, wäre nicht der wilde Pisang mit seinen breiten fastgrünen Blättern überall dazwischen aufgeschossen, und hätten sich die Farnkräuter, die tief im Land ihre saftgefiederten Blätter auf dem Boden hinreckten, hier nicht höher und höher zu zierlichen glattstämmigen Palmen selbst erhoben.

Eine Menge bunter duftender Blumen flochten sich dazu in dieses Chaos von Baum und Strauch, und mitten zwischen dem wild- und dichtverwachsenen Urwald gerade hindurch, der an beiden Seiten den Weg wie eine Mauer eindämmte und jedes Abweichen davon streng untersagte, schlug sich die Straße schräg den Berg hinauf. Mit Axt und Messer hatte sich der kecke Mensch in diese Wildnis seine Bahn gebrochen, mit Axt und Messer niedergehauen, was ihm entgegenstand, und eine Bahn erst geschaffen, auf der Stämme und Gebüsch beiseite geschafft werden konnten. – Und Tausende von Händen waren dann geschäftig gewesen, mit Hacke und Schaufel den Grund zu ebnen und ihn mit Steinen hart und fest zu stampfen, um selbst dieser Vegetation, die sich aus Felsspalte und Lavakluft sogar die Bahn bricht, Trotz zu bieten. Und dort hindurch rollten die Wagen, freilich langsamer jetzt als durch das flache Land, denn höher und höher stiegen sie. Immer kühler, immer schattiger wurde es auf der luftigen Höhe, bis sich endlich oben, an der Grenze der Preanger Regentschaften, eine Fernsicht vor ihnen öffnete, wie sie Hedwig bis dahin kaum für möglich gehalten hatte.

Rechts, in wilder, düsterer Majestät, lag der dampfende, Unheil kochende gunung Gedé mit seinen breiten, zackigen Lavamassen und den sonderbar geformten Nebelschichten, die seinen Gipfel fast immer umziehen. Voraus bauten den Hintergrund des vor ihnen ausgebreiteten Bildes die hohen, schroff eingerissenen Konturen jener langen Gebirgskette, die den Rücken Javas bildet und in fast ununterbrochener Reihe aus tätigen Vulkanen besteht. Und dazwischen lag ein breites, lachendes Tal, gemischt aus fruchtbaren Feldern und bewaldeten Hügeln und von silberhellen Bächen durchzogen. – Ach wie schön, wie wunderbar schön war dieses Land, und Hedwig hätte manchmal, wo ihr wie jetzt ein solcher Blick begegnete, aus voller Brust aufjauchzen mögen, wäre sie nicht durch die Menschen selber darin gestört worden.

Auch jetzt wieder, gerade als sie an jenem Berghang standen und still und staunend, wie mit einem Zauberschlag, eine neue, so unglaublich herrliche Welt vor sich ausgebreitet sahen, kam ein kleiner Trupp von Eingeborenen, Männer und Frauen, aus dem inneren Land herauf. Singend und lachend verfolgten sie, solange sie sich unbemerkt und allein glaubten, ihre Bahn, obgleich sie alle nicht leichte Lasten trugen. Kaum traf ihr Blick aber die gefürchteten »orang Wolandas«, als sie scheu und ängstlich schwiegen, die Frauen, wo das noch anging, vom Weg ab in den Busch hinein flüchteten, die Männer finster, aber demütig ihre breiten, backschüsselartigen Hüte abnahmen, zuerst niederkauerten, um die Fremden vorbeizulassen, und dann, als sie sahen, daß diese den Platz behaupten wollten, mit gesenktem Haupt vorbeigingen. Es mochte vielleicht, wie ihr Mevrouw van Straaten schon erzählt hatte, nötig sein, die Eingeborenen in Furcht und Demut zu halten, weil sie den Holländern an Zahl so sehr überlegen waren; hätten sie doch sonst leicht einmal über sie herfallen und sie erschlagen können. Aber die schönen, guten Menschen taten ihr doch leid, die hier in ihrer eigenen Heimat, in ihrem eigenen Vaterland, von Fremden besiegt und unterworfen, geknechtet und gedemütigt, für ihre Unterdrücker auch noch arbeiten und sie dabei fast wie eine Gottheit verehren mußten, und mit recht mitleidigen Blicken sah sie ihnen nach und hätte sie am liebsten zurückgerufen, um zu sagen, daß sie sich vor ihnen doch nicht fürchten sollten.

Die Kathrine dagegen war vollkommen damit einverstanden, daß ihnen besonders die Frauen scheu auswichen, wußten sie doch auch wahrhaftig weshalb. Die unverschämten Dinger liefen nämlich nur mit einem dünnen Kattununterrock bekleidet, sogar ohne Hemd und zum Skandal in der Welt herum, und daß sie es ihre »Nationaltracht« nannten, war gar keine Entschuldigung. Hier begegneten sie natürlich schon den Bewohnern der Preanger Regentschaften, auf deren Grenze sie standen. Frauen schlagen dort nur den Sarong um ihre Hüften und tragen den Oberkörper nackt, und es läßt sich denken, daß sich das nicht mit Kathrines Begriffen von Sitte und Anstand vertrug. Sie wunderte sich auch bis aufs Blut, daß bei solchem Unfug nicht – der Schutz jedes guten Deutschen – die Polizei einschritt und die Dirnen Manieren lehrte. Sie hätte es gern gegenüber den jetzt ausgestiegenen Herren erwähnt, aber sie schämte sich der Frauen wegen, das zu tun, und lange wurde hier sowieso auch nicht gerastet.

So langsam es bergauf gegangen war, so rasch liefen die munteren Pferde jetzt mit dem leichten Geschirr den Hang hinab, und bald umschloß die Reisenden die wunderbar schöne Tjanjor-Ebene, in deren Hauptstadt, am Fuß des mächtigen Gedé, sie die heißen Nachmittagsstunden verträumten. Nun war es eigentlich der Plan der kleinen Gesellschaft gewesen, hier gemeinschaftlich zu übernachten und am nächsten Morgen nach ihrem vorläufigen Ziel, nach Bandong, aufzubrechen. Lockhaart aber hatte, in Tjanjor angekommen, keine Ruhe und überredete auch wirklich seinen Schwager, bei den Damen zu bleiben und ihnen am nächsten Tag zu folgen, während er und Wagner die Reise ohne Unterbrechung fortsetzten. Der Resident von Tjanjor teilte ihm nämlich mit, daß jener Klapa, der hier im Ort eigentlich seine Heimat habe, vor ganz kurzer Zeit durchgekommen sei, ohne sich jedoch am hellen Tage sehen zu lassen. Man wußte aber genau, daß er in die Bandong-Berge hinübergezogen sei, und ein rasches Verfolgen entdeckte vielleicht am schnellsten seinen Schlupfwinkel. An den wenigen Stunden hing deshalb möglicherweise der ganze Erfolg des Unternehmens, und er mochte sie hier nicht nutzlos versäumen. Vergebens hielt ihm van Straaten vor, daß es am Anfang ja sogar ihre Absicht gewesen wäre, zwei oder drei Tage in Buitenzorg zuzubringen und sie die Zeit deshalb immer noch zugute hätten. Lockhaart hatte es sich einmal in den Kopf gesetzt, mit Wagner vorauszufahren, und sein Schwager war so daran gewöhnt, ihm zu Willen zu leben, daß er sich auch dieser »Grille«, wie er meinte, fügte. Dafür mußte ihm Lockhaart aber versprechen, sie auf dem Rückweg nicht zu drängen, und dann gerade so langsam zu reisen, wie es ihnen zusagen würde.

Das meiste Gepäck wurde jetzt noch in den ersten Wagen genommen, weil der zweite ja eine Person mehr bekam, und ehe die Frauen eigentlich recht begriffen, um was es sich handelte, kamen schon vier frische Pferde, und Lockhaart und Wagner rasselten davon.

»Ich glaube wahrhaftig nicht, daß wir so hätten zu eilen brauchen«, sagte Wagner, als sie wieder allein in der Carreta saßen und an den regelmäßig beschnittenen und mit Blüten der Rosa sinensis bedeckten Hecken Tjanjors vorbeiflogen. »Den Damen wird es keinenfalls angenehm sein, so allein zu fahren.«

»Papperlapapp«, sagte Lockhaart, »uns wäre es auch nicht angenehm gewesen, heute abend irgendwo in dem Nest eine Einladung zu bekommen und im schwarzen Frack und mit steifer Halsbinde vier Stunden hinter einem Whisttisch zu sitzen. Lodewijk – mein Schwager, mein' ich – ist in Tjanjor bekannt wie ein bunter Hund und kann heute einer Einladung gar nicht entgehen.«

»Aber das gleiche wird in Bandong der Fall sein.«

»Nicht halb so schlimm, und dort kenn' ich selber die Leute – hier hätt' ich lauter fremde Menschen getroffen. Außerdem möcht' ich mit Euch einmal ein Wort im Vertrauen und allein sprechen, Wagenaar, und das ging nicht, solange uns mein guter Schwager auf dem Hals saß. Es ist ein guter, braver Mensch, ja, aber – da sind wir auch fertig. Ohne die geringste Energie, ist ihm alles auf den Tod zuwider, was ihn nur irgendwie aus seiner altgewohnten Bequemlichkeit bringt, ja ich wundere mich, daß wir ihn selbst zu dieser kleinen Vergnügungstour überredet haben. Das wär' aber noch das wenigste – das schlimmste ist, er kann das Maul nicht halten, und was er weiß, muß auch in der nächsten Viertelstunde meine Schwester erfahren. Möglich, daß sie ihn so erzogen hat, oder es ist nun einmal seine Natur; aber der Tatsache gegenüber müssen wir vorsichtig sein, denn ich fühle mich sogar nicht ganz sicher, ob er sein Vertrauen ebenso auf Fräulein Bernold und die alte Kathrine ausdehnen könnte.«

»Sie tun ihm da gewiß unrecht.«

»Möglich; aber ich mag es nicht riskieren, ihn auf die Probe zu stellen, wenigstens nicht in diesem besonderen Fall.«

»Und über was wollten Sie mit mir reden?«

»Über Hedwig – über Fräulein Bernold, mein' ich, für deren Zukunft ich mich interessiere.«

Wagner schwieg und sah still vor sich nieder, und der alte Herr blickte ihn von der Seite an. Es war, als ob er erwartet hätte, daß Wagner etwas sprechen würde.

Endlich räusperte er sich wieder und fuhr fort: »So verworfen hat sich der Junge – so total verworfen, daß er sogar javanischer Soldat geworden ist, und er fühlt es noch nicht einmal, denn er kennt noch gar nicht den Stand, in den er Hals über Kopf hineingesprungen ist, wie etwa jemand von einer Brücke hinunterspringt, der seines Lebens überdrüssig geworden ist. Es hat auch verdammt viel Ähnlichkeit damit und ist ein richtiger, ordentlicher moralischer Selbstmord.«

»Aber in welcher Beziehung steht das alles zu Fräulein Bernold?«

»Sie wissen, in welcher er früher zu ihr gestanden hat?«

»Ja – aber fürchten Sie, daß die frühere Neigung noch nicht erloschen sei?«

»Fürchten?« sagte der alte Mann wehmütig. »Du lieber Gott, er ist der einzige Sohn meiner armen Marianne und der Himmel weiß, was ich darum gegeben hätte, ihn mir zu retten – aber er hat es selber nicht gewollt. Das liederliche nichtsnutzige Blut seines Vaters läuft ihm in den Adern, der alberne Dünkel, als Baron zu vornehm zum Arbeiten zu sein, hat ihn vollends ruiniert, und was ich fürchte, ist, daß er seinem Verderben mit furchtbarer Schnelligkeit entgegengeht. Eins könnte ihn da vielleicht noch retten, wenn er selber sich wirklich noch nicht ganz aufgegeben hätte – eins könnte ihn zu einem steten und moralischen Leben zurückführen – eine wackere Frau.«

Wagner erwiderte noch immer nichts. Er blickte ernst und gedankenvoll auf die reizende Gegend hinaus, die unbeachtet an den beiden Männern vorüberglitt. Endlich wandte er langsam den Kopf dem alten Herrn zu, schaute ihn forschend eine Weile an und sagte dann mit leiser, aber fester Stimme: »Und Sie glauben also, daß Hedwig eine passende Frau für Ihren – Neffen – für den Soldaten werden könnte, oder sind Sie vielleicht der Meinung, daß sie besser als – Tante auf ihn einwirken würde?«


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