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Wagner war am Anfang, als ihn Horbach so plötzlich verließ, unschlüssig, was er tun solle: der Sache augenblicklich nachforschen oder gelegentlich eine nähere Untersuchung machen. Ein paar Querfragen an Tojiang aber, worin sich dieser mehr und mehr verwickelte, überzeugten ihn bald, daß es besser sei, jenem Klapa unmittelbar nachzuspüren, wenn er sich auch dazu eine Zeit gewünscht hätte, in der er weniger beschäftigt gewesen wäre.
»Klapa – Klapa«, sagte er, dabei im Saal auf und ab gehend, »wenn ich nur wüßte, wo ich den Namen schon gehört habe und was mit dem Menschen damals geschehen ist.«
»Klapa«, sagte Tojiang leise, »hat einmal für Tuwan Wagner die kleinen Hirsche aus den Bergen gebracht, die mit dem Schiff fortgeschickt wurden nach Wolanda.«
»Wetter! Bursche, du hast recht!« rief Wagner, vor ihm stehen bleibend, »und jetzt weiß ich auch, wer der Javaner war, den ich neulich im chinesischen Viertel traf und der so scheu vor mir zurücksprang – derselbe Klapa!«
»Im chinesischen Viertel?« fragte Tojiang bestürzt.
»An derselben Stelle, wohin du uns nicht führen wolltest, mein Bursche, und wo er mir nachher, als ich zu Fuß hindurchging, in den Weg lief. Der Bent hatte allerdings kein gutes Gewissen, dafür wollte ich mich selber verbürgen, ebenso daß du tiefer mit ihm drin steckst, als dir dienlich wäre zu gestehen. Hast du ihn aber heute abend erst noch bei van Straaten gesehen, so ist die Möglichkeit doch vorhanden, daß er noch irgendwo dort versteckt liegt. Jedenfalls muß Mynheer van Straaten vor der etwas gefährlichen Nachbarschaft gewarnt werden.«
»Aber, Tuwan.«
»Du bleibst hier – Herr Nitschke, Sie werden die Güte haben, darauf zu achten, daß Tojiang heute abend mit keinem Fuß das Haus verläßt. Du magst mit der Lunte neben dem Tisch sitzen bleiben, bis ich zurückkomme. Verläßt du das Haus mit einem Schritt, so mache ich morgen die Anzeige bei der Polizei. Hast du mich verstanden?«
»Saya, Tuwan«, nickte der Malaie, aber mit dem betrübtesten Gesicht von der Welt. Es fing ihm nämlich an zu dämmern, daß ihm seine eigene Dummheit einen sehr bösen Streich gespielt und ihn nicht allein um ein wertvolles Stück Geld, sondern auch noch in alle möglichen Fatalitäten hineingebracht habe. Wäre das große gelbe Stück nämlich, wie sein früherer Herr sagte, nicht mehr wert gewesen als zehn oder zwölf Deute, die weißen Tuwans hätten wahrhaftig nicht solch ein Aufheben davon gemacht. Tuwan Horbach hatte ihn also belogen und außerdem seine Bekanntschaft mit Klapa zutage gebracht, mit der er – wenigstens gegenüber den Europäern – nicht gern geprahlt hätte. Was geschehen war, ließ sich aber jetzt nicht mehr ändern, und wenn er selber nur nichts mit der Polizei zu tun bekam, wollte er noch recht zufrieden mit dem allen sein. Klapa mochte dann selber sehen, wie er durchkam, und hatte auch wahrlich nicht verdient, daß er große Rücksicht auf ihn nahm. War er doch eben wieder im Begriff gewesen, in die Berge hinaufzuziehen, ohne ihm den geringsten Anteil an seinem Verdienst zu gönnen, und daß er ihn eben noch dabei ertappt hatte, war reiner Zufall gewesen. Wie im Flug schossen dem Malaien diese Gedanken durch den Kopf, und Wagner stand noch immer oben auf den in den Garten führenden Stufen, unschlüssig, ob er zu van Straatens hinüberfahren solle oder nicht. Die Damen waren jetzt zu Haus – er störte vielleicht Aber der Kutscher draußen knallte mit der Peitsche.
»Mein lieber Herr Nitschke, seien Sie so gut und sehen Sie die mitgebrachten Briefe inzwischen einmal durch; ich bin spätestens in einer Stunde wieder da, und – passen Sie mir auf Tojiang auf.«
»Wohin, Tuwan?« fragte der Kutscher, als er in den Wagen sprang und einer der anderen Diener hinten die lodernde Fackel hielt.
»Zu Mynheer van Straaten.« Und wie der Blitz hieb der Malaie auf die Pferde ein.
Wie das so seltsame Schatten zog, die Straße entlang! Wie die hohen glatten Stämme der Kokospalmen, von dem roten Licht der Bambussplitter beschienen, so geisterhaft emporstarrten, und wie freundlich die Sterne durch die gefiederten Wipfel herabfunkelten. Hell erleuchtete die hochgeschwungene Fackel die Straße, jetzt an hohen laubigen Hecken und an weißgemalten Gittern und Türpfosten vorüber, die geisterhaft aus dem dunklen Grün hervorschauten. Die Straße herab rollte ein anderer Wagen – die beiden Boedjangs schüttelten gegeneinander die Fackeln und riefen sich lachend ein paar Worte zu, und im Nu waren sie getrennt und jeder verfolgte wieder einzeln seine Bahn. Weiter und weiter zog sich der Weg hinauf, über den Kali besaar hinweg, über den eine schmale Brücke führte. Hier und da glitt ein Eingeborener über den Weg, ein glimmendes Scheit in der Hand, das ihm in der Dunkelheit als Legitimation oder Paß diente, und durch die Luft über der Flamme schoß der »fliegende Hund« auf seiner unheimlichen Bahn. Und überall aus den würzigen Büschen heraus schimmerten die Lichter geselligen Verkehrs und zeigten die hellerleuchteten Hallen, in denen sich geputzte, fröhliche Gestalten hin und her bewegten. Aber Wagner hielt an keinem von diesen Häusern an, ein so gerngesehener Besuch er in vielen gewesen wäre. Rasch flog sein Fuhrwerk an den Gärten vorüber, bis er das kaum erst verlassene Anwesen van Straatens wieder erreichte.
Der Platz lag aber nicht mehr so still wie vorhin, denn die Damen waren inzwischen zurückgekehrt und der Tee wurde vorn auf dem Austritt des Salons, der durch ein übergebautes Dach vor dem Nachttau geschützt wurde, halb im Freien serviert. Der kleine Familienzirkel saß um den großen runden Tisch, Hedwig zwischen Mevrouw van Straaten und ihrem alten Reisegefährten, dem greisen Lockhaart; doch eine große Veränderung war mit dem jungen Mädchen vorgegangen, seit sie Java an jenem Morgen fremd und freundlos betrat. Auf ihre bleichen Wangen war die Farbe zurückgekehrt, und ihre Augen lächelten wieder, denn zwischen den guten, freundlichen Menschen hier hatte sie eine Heimat gefunden, zwischen den guten, freundlichen Menschenherzen, die teilnehmend für sie schlugen, und zum ersten Mal seit langen, langen Monaten wieder fühlte sie sich nicht mehr so elend, nicht mehr so verlassen wie die ganze lange Zeit vorher. Der einzige, der sich bis jetzt noch, wenn auch nicht unfreundlich, doch kälter als die übrigen von ihr zurückhielt, war Lockhaart gewesen, und heute abend hatte er sie zum erstenmal mit einem Händedruck begrüßt und sie in einem ganz ungewohnt herzlichen Ton seine Reisegefährtin genannt. Seine Schwester Mevrouw van Straaten hatte ihm dafür einen Kuß gegeben, und der kleine Kreis froher Menschen saß, wie gesagt, fröhlich um den Tisch, als Wagners Carreta vorfuhr.
»Nur keinen Besuch heut abend mehr!« brummte der alte Lockhaart vor sich hin, denn nichts hätte ungelegener kommen können. Im nächsten Augenblick aber sprang schon Wagner die Treppe herauf, und Lockhaart rief erstaunt: »Mynheer Wagenaar – ich dachte, Sie hätten so viel zu tun zu Haus!«
»Ich muß um Entschuldigung bitten, daß ich...«
»Entschuldigung, Mann!« unterbrach ihn aber der freundliche van Straaten; »das fehlte auch noch – wir sind froh, daß wir Sie einmal wieder hier haben. Für unsern lieben Gast hier konnten wir Ihnen ohnehin nicht einmal danken.«
Wagner war um den Tisch herumgegangen, um Hedwig zu begrüßen, und diese sagte, herzlich seine Hand ergreifend: »Wenn jemand Dank zu sagen hat, dann bin doch gewiß ich es, die Ihnen, lieber Herr Wagner, so viel schuldet. Sie glauben gar nicht, wie glücklich ich mich hier bei den guten Menschen fühle.«
»Herrgott, nun laßt einmal die langweiligen Phrasen und Redensarten!« unterbrach sie der alte Lockhaart, indem er ungeduldig den Kopf schüttelte. »Was sich die Leute das Leben doch selber schwer machen mit solchen gesellschaftlichen Höflichkeiten. Was ist denn vorgefallen, Wagenaar, daß Sie noch einmal herüberkommen?«
»Bist du aber ein grober Mensch!« rief lachend seine Schwester. »Kehren Sie sich nicht an ihn, Mynheer Wagenaar, wir haben ihn noch nicht lange genug wieder in der Zucht gehabt, daß er schon hätte ordentliche Lebensart lernen können. Seien Sie uns aber herzlich willkommen und trinken Sie eine Tasse Tee mit uns.«
»Das wird er außerdem auch tun«, sagte Lockhaart trocken; »viel vernünftiger aber ist es, der Sache gleich auf den Grund zu gehen, denn daß ihn irgend etwas heute abend noch hierhergeführt hat, kann man ihm an der Nase ansehen – wozu also tun, als ob man's nicht merkte.«
»Sie haben recht, Mynheer«, sagte Wagner; »da es aber eine Geschäftssache betrifft, mit der ich die Damen nicht gern langweilen möchte, so bitte ich Sie, mir einen Augenblick in ein benachbartes Zimmer zu folgen. Ich – wünsche auch nicht, was ich Ihnen zu sagen habe, vor den Malaien auszusprechen, denn der eine oder andere versteht manchmal genug Holländisch, um wenigstens herauszufühlen, über was man verhandelt. Mynheer van Straaten, ich bitte Sie ebenfalls mitzukommen – die Damen entschuldigen uns wohl einen Augenblick.«
»Und wenn sie's nicht tun, bleibt es eben dasselbe«, sagte Lockhaart; »verdammte Höflichkeitsformeln.«
Van Straaten hatte indessen schon ein paar von den Malaien beauftragt, Licht in das benachbarte Zimmer zu schaffen, und Wagner erzählte, nachdem er Lockhaart die für ihn mitgebrachten Briefe gegeben hatte, den beiden Herren in kurzen und gedrängten Worten, welchen Verdacht er geschöpft und was ihn hierhergeführt habe: nämlich jenes Klapa habhaft zu werden, den Tojiang vor kaum einer Stunde hier traf. Durch ihn konnten sie dann vielleicht einen Zeugen gegen Heffken bekommen. Van Straaten schüttelte freilich dazu den Kopf, der alte Lockhaart war aber gleich Feuer und Flamme und zweifelte keinen Augenblick, daß sie auf der richtigen Spur wären. So klug und umsichtig aber auch seine Vorbereitungen getroffen wurden, den Javaner, falls er sich noch auf dem Anwesen befände, zu überlisten und festzuhalten, so erfolglos blieb der Versuch. Die drei Männer untersuchten selber die Dienstwohnungen und ließen sich jeden Winkel aufschließen und beleuchten, Klapa aber blieb verschwunden, obgleich die Malaien keineswegs leugneten, daß er dagewesen sei. Ihrer Aussage nach war er aber wieder in die Berge, und zwar nach Bandong zurückgekehrt, und sie wußten nicht, ob er im nächsten Kampong übernachten oder die Nachtkühle benutzen würde, um gleich durchzumarschieren. Das letzte hielten sie für das wahrscheinlichste. Hatte sich Klapa aber wieder in die Berge geschlagen, wer hätte ihn dort auffinden wollen, wo schon früher einmal die ganze Polizei nach ihm umsonst gefahndet hatte? Dort kannte er jedenfalls seine sicheren Schlupfwinkel, und es war ihm da nicht beizukommen.
Wagner erzählte jetzt, daß er diesem selben Burschen, und bei welcher Gelegenheit, vor kurzer Zeit im chinesischen Viertel begegnet sei und keinen Augenblick mehr zweifle, er sei ein Werkzeug des kleinen verschmitzten Buchhalters, der ihn zu wer weiß welchen Schlechtigkeiten benutzte. In den gewundenen und versteckten Spelunken und Höhlen jenes Stadtteils war er aber fast so sicher wie in den unwegsamen Dickichten der Gebirge, und es blieb jetzt keine weitere Hoffnung, als vielleicht aus Tojiang noch mehr herauszubekommen, was die einmal gefundene Spur deutlicher machte. Wagner wollte nun freilich, nachdem die Durchsuchung vorüber war, augenblicklich nach Haus zurückkehren, aber van Straaten litt das nicht. Tee mußte er vorher mit ihnen trinken, und als er jetzt neben Hedwig saß und die offenen Züge des liebenswerten Mädchens, die er bis jetzt nur von Schmerz und Sorge entstellt gesehen hatte, von Freude und Glück belebt sah, fühlte auch er sich nicht mehr so bedrückt und verlegen ihr gegenüber. Was van Roeken gegen sie gesündigt hatte, ließ sich ja doch vielleicht ausgleichen, und er brauchte dann nicht länger das schmerzliche Gefühl mit sich herumzutragen, wenn auch selber unschuldig, doch daran teilgehabt zu haben, ein so sanftes und liebenswertes Wesen unglücklich und elend zu machen.
Was er selber ihretwegen ausstehen mußte, und daß sie eigentlich die Ursache dafür war, daß Marie van Romelaer sich so kalt und schroff von ihm abgewandt und dadurch alle seine schönen Hoffnungen auf ein stilles und freundliches Familienglück zerstört hatte, daran dachte er fast gar nicht. Von Maries Bild war seit jenem Morgen die heftige, häßliche Szene mit ihrer Dienerin untrennbar geworden und verhinderte, daß er Marie anders als in dieser Szene sah; unmöglich aber konnte ihm das eine liebe Erinnerung sein. Er blieb heute abend länger beim Tee, als er beabsichtigt und Herrn Nitschke versprochen hatte, und als er heimkam, fand er beide, Nitschke wie Tojiang, den einen in dem Lehnstuhl, den andern daneben, fest und sanft eingeschlafen.