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Draußen schien hell und klar die Sonne, konnte aber nicht in ein gemütliches kleines Zimmer dringen, das durch die dichten Zweige eines Waringhibaumes vollkommen gegen ihre Strahlen geschützt wurde. Der kleine Raum war sehr einfach, aber nicht ohne Geschmack möbliert, mit einem Rohrsofa und einigen Rohrstühlen, freundlichen Gardinen vor dem einen Fenster, an dem der bequemste Sessel stand, einem goldgerahmten Spiegel und einem kleinen Bücherbrett, das holländische, französische und deutsche Bücher trug. In der einen Ecke stand ein mit feiner Wäsche überzogenes Bett, davor ein Stuhl mit reinen und neuen Kleidern, und in dem Bett lag unser alter Bekannter Horbach, der gerade seinen wilden Rausch ausgeschlafen hatte und wieder zur Besinnung und Vernunft kam.
Jetzt öffnete er zum ersten Mal die Augen und warf einen überraschten Blick auf seine Umgebung – dann schloß er sie wieder und lag eine lange, lange Weile still und regungslos da, um den Ort, an dem er sich befand und der ihm vollkommen fremd schien, in seine Erinnerung zurückzurufen – aber es ging nicht. Die Sinne waren ihm außerdem noch halb betäubt, und er schüttelte den Kopf nur noch stärker, als er die Augen wieder aufschlug und aufs neue die ihn umschließenden Wände betrachtete. Befand er sich abermals im Hospital? Aber das war keine eiserne Bettstelle, in der er lag – hatte sich irgendein guter Genius seiner angenommen und seine schützende Hand über ihn gebreitet? War ein Zauber mit ihm vorgegangen, unter dessen Schutz ihn stets jemand, sowie er wieder ausbrechen wollte, hinten beim Kragen erwischte und in irgendein behagliches Bett hineinhexte, vor dem jeden Morgen frische Wäsche und neue Kleider lagen? Zum Henker auch, er mußte wenigstens wissen, was mit ihm vorgegangen war und schrie deshalb, so laut er konnte, sein »sapáda«, irgendeinen Diener damit herbeizurufen und von diesem das Nötige zu erfahren. Ja, er schrie wohl, so laut er konnte, aber – brachte keinen Ton über die Lippen, denn er war so vollständig heiser geworden, daß er sich selber nicht mehr hören konnte.
»Das ist eine saubere Geschichte«, flüsterte er vor sich hin, »wo zum Teufel bin ich nur und was ist aus mir geworden? Ich weiß weder, wo das Haus steht, in dem ich jetzt residiere, noch wie der heißt, dem es gehört. Ich weiß nicht einmal, ob es Morgen oder Abend ist und ob die Kleider, die hier auf dem Stuhl vor meinem Bett liegen, für mich sind oder nicht. Gestern? Hm, wenn ich nicht ganz konfus geworden bin, befand ich mich an einem von diesem sehr verschiedenen Platz, und heute – wenn es überhaupt heute und nicht schon wieder morgen oder übermorgen ist – lieg' ich hier behaglich ausgestreckt zwischen sauberer Leinwand in einer schneeweißen Cabaye und in einer gebadecktenBadeck heißt eine eigentümliche Kunst der Eingeborenen, Baumwolltuch mit verschiedenen Farben und Zeichnungen zu versehen. Die Muster werden durch mit der Hand aufgetragenes Wachs gebildet. Nachthose. Bin ich's denn auch selber?« fuhr er endlich mit einem halb unterdrückten Lachen empor und setzte sich in seinem Bett auf, um in den gegenüberhängenden Spiegel zu sehen. Aber es war kein angenehmes Bild, das ihm von dort entgegenstarrte; die hohl liegenden Augen, die eingefallenen bleichen Wangen, die wirren Haare, der unrasierte Bart. Er fand keine Freude daran, sich länger anzuschauen, und sich wieder herum, mit dem Gesicht zur Wand legend, blieb er wohl eine halbe Stunde in dieser Stellung. Aber niemand kam – keinen Laut konnte er aus dem Haus herauf hören, und nur einmal war es ihm, als ob irgendein leichtes Fuhrwerk heranrollte und hielt – dann herrschte wieder, wie vorher, Totenstille ringsumher, und er mochte diese Ungewißheit nicht länger ertragen.
Mit beiden Füßen zugleich sprang er aus dem Bett, wusch sich und zog sich an, und nickte befriedigt vor sich hin, als er auf seinem Waschtisch sogar ein Rasiermesser fand, mit dem er sich den übermäßig lang gewordenen Bart abnehmen konnte. So sah er doch einmal wieder menschlich aus und durfte wenigstens ohne Scheu seinen Aufenthalt verlassen, wenn er nicht... Er erschrak plötzlich ordentlich vor einem Gedanken, der ihm wie ein Blitz auftauchte – war er am Ende eingesperrt? Aber an den Fenstern befand sich kein Gitter; die Tür, deren Drücker er versuchte, war nicht verschlossen, und es blieb ihm zuletzt nichts anderes übrig, als eben an einen guten Geist zu glauben, der ihn hierhergeführt, sauber abgewaschen und zu Bett gebracht hatte. Von all dem konnte er sich aber leicht selber überzeugen, wenn er nur eben sein Zimmer verließ und nach unten stieg. Nicht gewohnt, sich lange einen Wunsch zu versagen, wenn er dessen Erfüllung nur ermöglichen konnte, nahm er den auf dem Tisch liegenden Strohhut, der ihm ziemlich gut paßte, und suchte vor allen Dingen erst einmal vom Fenster aus die ungefähre Gegend zu erkennen, in der er sich eigentlich befand. Das aber war nicht gut möglich: denn die Gärten der verschiedenen Vorstädte sehen sich nicht allein ziemlich ähnlich und sind äußerst dicht mit Büschen und Bäumen bewachsen, sondern der vor dem Fenster stehende Waringhibaum versperrte mit seinen in dichten Festons niederhängenden Zweigen auch noch jede Aussicht so vollkommen, daß er nach keiner Richtung hin einen Überblick gewinnen konnte. Nur gegenüber lagen die niedrigen Wohnungen der Dienstleute, vor denen ein paar malaiische Frauen mit verschiedenen Arbeiten beschäftigt im Schatten saßen; dahinter leuchtete das rote Dach eines andern Anwesens durch das Grün. Das war alles, was sich unterscheiden ließ, und Horbach besann sich deshalb nicht lange, unten gleich an Ort und Stelle Gewißheit über seinen jetzigen Aufenthalt zu erlangen.
So wenig Scham er sonst aber auch kannte und sein nichtswürdiges Leben hier, der Kolonie zum Trotz, jahrelang fortgeführt hatte, so überkam ihn heute doch ein eigentümliches Gefühl, von dem er sich eigentlich selber keine Rechenschaft zu geben wußte. Es dämmerte ihm nämlich eine Art von Erinnerung, wo er sich am letzten Abend aufhielt – wer nur immer ihn hierher geschafft hatte, mußte ihn auch dort gefunden haben und also mehr von ihm wissen, als ihm eigentlich lieb war; aber was half's? Jedenfalls hatten sie einen Grund, daß sie ihn hier bei sich aufnahmen, denn Horbach glaubte nun einmal nicht an irgendeine aus gutem Herzen geschehene Handlung, und wenn sie irgendeinen Nutzen aus seiner Gegenwart zu ziehen gedachten, so war er nicht mehr der Empfänger, sondern der Geber – folglich konnte er sich wie zu Haus fühlen und brauchte vor keinem Menschen die Augen niederzuschlagen. Mit solchen Gedanken öffnete er die Tür und schritt auf den Gang hinaus, um zu sehen, wo er sich eigentlich befinde. Kaum war er aber die kleine Treppe hinuntergestiegen und in die eigentliche Halle des Hauses eingebogen, als er sich in einem so elegant und reich ausgestatteten Raum befand, wie er seit Jahren nicht betreten hatte.
»Zum Teufel auch«, murmelte er leise vor sich hin, indem er den Blick scheu umherwarf, ob er nicht irgendwo einen Menschen entdecken könne, »wohin bin ich denn hier eigentlich geraten? Hat etwa der General-Gouverneur von meinen Fähigkeiten gehört und beabsichtigt, mich als Statthalter nach Celebes oder Macassar zu versetzen? Oder – Donnerwetter, das wird das Richtige sein – hat sich vielleicht irgendeine Liplap Schöne in mich sterblich verliebt und mich nun heimlich aufheben lassen, damit ich von ihrer Eifersucht hier sicher hinter Schloß und Riegel gehalten werde? Nun, irgendwo muß ich die Donna doch jedenfalls finden, und dann wird sich auch dieses süße Rätsel lösen.«
Damit schritt er auf das nächste und anstoßende Zimmer zu, das nur durch einen von dem Luftzug leise bewegten Vorhang abgetrennt war. So zuversichtlich er aber auch vor sich selber zu erscheinen versuchte, so unbehaglich war ihm zumute, und daß sein Fuß, anstatt mit der alten Keckheit, jetzt leise und fast scheu auftrat, bewies am besten, daß er sich hier nicht ganz sicher und zu Hause fühle. Aber auch in diesem Raum, in dem ein Schreibtisch und einige Bücherbretter standen, fand er niemanden; das ganze Haus schien wie ausgestorben, und er wußte nicht, ob er zurück oder weiter gehen sollte. – Rechts war noch ein anderes, ebenfalls durch einen Vorhang abgeteiltes Kabinett – es war ihm fast, als wenn er von dort her eine Stimme gehört hätte. Jetzt freilich – er horchte einen Augenblick – schien alles wieder ruhig. Aber irgend jemand mußte er treffen; übelnehmen konnte man es ihm auch nicht, daß er, ungewiß, wo er sich befände, die Hausbesitzer aufgesucht habe. Geräuschlos trat er deshalb auch zu diesem Vorhang und schaute, ihn ein klein wenig zurückziehend, hinein in das kleine, schattig kühle und etwas düstere Gemach – aber er trat nicht näher. Eine halbe Minute lang blieb er vielleicht in dieser Stellung, dann zog er den Finger, der nur eine Falte des Vorhangs ein wenig beiseite geschoben hatte, langsam und vorsichtig zurück und verließ gleich darauf, so still und unhörbar wie er gekommen war, das Haus. – Aber er ging nicht weit; hinten auf dem Portico, im Schutz des wundervollen Waringhibaumes, der auch sein Zimmer beschattete, stand ein Lehnstuhl aus dünnem Draht geflochten, und gar nicht weit davon entfernt, im inneren Fenster, ein Zigarrenkistchen, das er ohne weiteres untersuchte; er fand noch ein paar Dutzend echte Manila darin.
Eine von diesen nahm er heraus, und sich bequem in den Lehnstuhl werfend, sollte sein Ruf »api!« ihm einen der Hausdiener herbeibeschwören; aber, guter Gott, nicht einen Laut brachte er über die Lippen, und es blieb ihm zuletzt nichts anderes übrig, als selber zur Küche hinüberzugehen und sich dort Feuer zu holen. Dort brauchte er allerdings nichts weiter zu sagen, denn wie er nur mit der Zigarre im Mund den Raum betrat, in dem ein halbes Dutzend Malaien müßig umherlungerten, sprangen ein paar von ihnen gleich geschäftig empor, um ihm Feuer zu geben, und Horbach stand eine Weile unschlüssig zwischen ihnen, ob er fragen solle, wem dieses Anwesen gehöre, oder nicht. Die braunen Halunken hätten ihn aber doch nur ausgelacht, sobald sie merkten, daß er selber nicht wisse, wo er sich befand; bei denen durfte er sich deshalb den Respekt nicht gleich von vornherein verscherzen. Was kam auch darauf an, ob er das eine Stunde früher oder später erfuhr; wie er jetzt sah, sank die Sonne, und neigte sich der Abend, dann kehrte der Besitzer doch jedenfalls aus seinem Geschäft oder vom Büro zurück. Er war in der Küchentür, diesen Betrachtungen nachhängend, stehengeblieben und blies wohlgefällig dazu den Rauch der vortrefflichen Zigarre ins Freie hinaus, als eine Gestalt das gegenüberliegende Haus verließ, die er nur zu gut kannte und heute nicht zum ersten Mal sah.
»Herr Heffken«, murmelte er leise vor sich hin, »es ist doch kaum zu glauben, was man nicht alles in der Welt erlebt. Daß Heffken aber... Zum Henker – ich bin doch nicht etwa hier in seiner eigenen Behausung, daß – er nähme ebensogern den bösen Feind selber in sein Logis wie mich, davon bin ich ziemlich fest überzeugt. Aber wo, im Namen aller gesunden Vernunft, bin ich hier? Wessen Familie hat er mit seiner angenehmen Gegenwart beglückt?«