Friedrich Gerstäcker
Unter dem Äquator
Friedrich Gerstäcker

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Als er endlich zurückkehrte, wollte van Roeken schon mit einem Sturm von Vorwürfen über ihn herfallen; Tojiang aber legte den Finger auf die Lippen, und indem er den beiden Herren winkte, ihm zu folgen, flüsterte er leise und vorsichtig: »Er ist da.«

»Hab' ich's nicht gesagt?« lachte van Roeken. »Ob ich das Gesindel nicht durch und durch kenne. Aber pfui Teufel, was für ein Gestank und Dunst hier herrscht; die reine batavische Pestluft, wie sie noch in uralten Reisebüchern geschildert wird und auch vollständig wahr wäre, wenn sich nämlich dieser Dunstkreis über die ganze Insel zöge.«

»Und hier, in diesem furchtbaren, widerlichen Loch sollte sich Horbach aufgehalten haben?« sagte kopfschüttelnd Wagner; »das ist gar nicht möglich, der Schuft von Tojiang hat uns nur hierher gelockt, um unsere Geduld zu ermüden und seine eigenen geheimen Verstecke nicht zu kompromittieren.«

»Das werden wir bald herausgefunden haben«, meinte van Roeken; »lange bleibe ich selber aber auch nicht in dieser Nachbarschaft, denn mir wird schon ganz übel und krank zumute – und was für eine Dunkelheit. Wenn wir jetzt in diesem Korbgeflecht auf eine geheime Fallbrücke stoßen, können wir im Nu unten in dem schmutzigen Kanal liegen, um zu ertrinken oder zu ersticken. Ob hier wohl nicht manchmal solche Dinge vorfallen?«

»Mal den Teufel nicht an die Wand«, erwiderte Wagner, dem es hier selber ganz unheimlich wurde. »Wenn ich eine Ahnung hätte, daß mein Tod irgend jemandem in Batavia von Nutzen sein könnte, würde ich mich, weiß es Gott, nicht in diese Höhle wagen. Aber da ist Licht – ah, hier finden wir Gesellschaft!«

Tojiang hatte, um die beiden Weißen durch den dunklen Gang zu bringen, van Roekens Hand gefaßt und, während er voranging, ihn geführt. Er schien vortrefflich hier Bescheid zu wissen. Wagner faßte dann wieder den Rockschoß des Freundes an, und so waren sie etwa zwanzig oder fünfundzwanzig Schritt im Dunkeln vorwärtsgetappt, als sie plötzlich ein helles, sonniges Gemach betraten. Hell und sonnig, allerdings, war das Gemach, denn das dem Untergehen nahe Tagesgestirn warf seine goldenen Strahlen gerade in das geöffnete Fenster herein, aber sonst war es ein so wüster Aufenthalt, wie man sich nur denken konnte, und Wagner bereute schon fast, ihn betreten zu haben.

Das Zimmer lag im unteren Geschoß des Hauses; dessen Boden der hartgestampfte oder auch vielleicht nur hartgetretene Lehm bildete, den die Natur selber hier geschaffen hatte. In der einen Ecke stand ein großes, mit schmutzigen und verräucherten Gardinen verhangenes Bett, auf dem, quer darüber hingestreckt, ein schlafender Chinese lag. Mitten im Zimmer aber saßen und lagen drei chinesische und zwei malaiische Mädchen zwischen ein paar Söhnen des himmlischen Reiches, die aber fast unnatürlich irdisch aussahen und erschrocken aufsprangen, als zwei Weiße zu ihnen in ihr Versteck traten. Kleine tampat siriehs oder Betelkörbchen standen neben ihnen auf der Erde, ein paar leere Flaschen lagen mit Opiumpfeifen in der Ecke, und eine alte Malaiin kauerte daneben und flickte einen zerrissenen Sarong, der jedenfalls monatelang kein Wasser und keine Seife gesehen hatte. Überhaupt war das Ganze ein Bild des verworrensten Elends, das sich menschliche Phantasie nur ausmalen konnte, und während die Dirnen, den Anblick der Weißen fürchtend, ihre halbnackten Glieder so gut es ging verhüllten, suchten Wagners und van Roekens Blicke vergeblich Horbachs Gestalt zwischen dieser Gruppe. Tojiang war dagegen, ohne sich weiter um die übrigen zu kümmern, auf die Alte zugegangen, die bei dem Eintritt der Fremden kaum von ihrer Arbeit aufsah, und flüsterte ein paar Worte mit ihr. Sie nickte nur einfach mit dem Kopf, ohne ihn weiter eines Blickes zu würdigen, dann sprach er noch etwas, und sie deutete nach einer Tür hinüber, die in einen Nebenraum führte.

»Ist er da?« fragte van Roeken.

»Dort drin soll er sein«, sagte Tojiang und schritt auf die bezeichnete Tür zu, die er öffnete. Die beiden Freunde folgten ihm rasch, ohne von den übrigen Insassen des Zimmers weitere Notiz zu nehmen, und dort allerdings fanden sie den Gesuchten – aber in welchem Zustand? Der ganze Nebenraum war nur ein in den Hof hinausgebauter Schuppen, von Bambus geflochten und mit Schindeln gedeckt, ohne Fenster, einen kleinen Einschnitt in der einen geflochtenen Wand ausgenommen, ohne Möbel, ohne Bett, ohne irgendein Zeichen, daß hier ein Mensch sich wohnlich fühlen oder überhaupt existieren könne, mit dem gleichen kahlen Boden wie die »Wohnstube« nebenan. Auf dem Boden aber lag ausgestreckt, die Arme von sich geworfen, das eine Bein über das andere gezogen, mit dem Gesicht auf der Erde und nackt, wie ihn Gott erschuf, ohne einen Lappen Zeug über oder unter sich, Horbach, anscheinend in festem Schlaf – ja, man hätte ihn für tot halten können, wenn nicht ein gelegentliches Zucken des Körpers, auf den ein Sonnenstrahl durch die defekte Wand fiel, das in dem Menschen noch wohnende Leben verraten hätte.

»Großer Gott!« rief Wagner unwillkürlich aus, »der Unglückliche! Eben aus dem Spital entlassen, mit dem kaum fieberfreien Körper, mit der Warnung des Arztes, sich jetzt ernstlich zu schonen und vor einem Rückfall zu bewahren, hier in dem feuchten Loch, in dieser Atmosphäre nackt und betrunken auf dem bloßen Boden!«

»Da liegt nun der Herr einer halben Million«, sagte van Roeken, der die Sache viel kaltblütiger nahm, »ein Mensch, der, wenn er seine gesunden Sinne gebrauchen wollte, zu den Glücklichsten und Beneidetsten unserer ganzen Gesellschaft gehören könnte, schlimmer als ein Vieh an einem Ort, an dem sich ein Pferd nicht einmal wohlfühlen könnte. Ein vortreffliches Bild als abschreckendes Beispiel fürs ganze Leben, wenn man es ihm nur eben selber vorhalten könnte.«

»Und was fangen wir jetzt mit ihm an?« sagte Wagner, der den Elenden noch immer kopfschüttelnd betrachtete.

»Vor allen Dingen müssen wir sehen, daß wir seine Kleider wiederbekommen oder Tojiang abschicken, neue zu holen, wenn das nicht möglich wäre, denn in diesem Zustand können wir ihn nicht transportieren.«

»Armer Tuwan«, sagte Tojiang, der indessen zu seinem früheren Herrn getreten war, »wie ihn das nichtsnutzige Volk hierhergeworfen hat. Das wäre auch nicht geschehen, wenn er Tojiang mitgenommen hätte.«

»Die Redensarten helfen jetzt nichts, mein Bursche«, sagte van Roeken trocken. »Rufe einmal die Alte herein, damit wir mit ihr verhandeln können; sie muß die Kleider herbeischaffen, denn sie kann noch keine Zeit gehabt haben, sie aus dem Haus zu bringen.«

Tojiang ging hinüber zur Alten und blieb eine ganze Weile fort. Sie schien leugnen zu wollen. Der Bursche aber, mit all ihren Schlichen und Winkelzügen genau vertraut, ließ ihr keine Hoffnung, mit einem trockenen Nein hier durchzukommen. Mürrisch warf sie endlich den Lumpen, an dem sie gearbeitet hatte, neben sich auf die Erde, und in den Schuppen hinkend, wo der Betrunkene noch in seiner alten Stellung lag, sagte sie: »Und was wollt ihr von mir? Kann ich was dafür, daß der liederliche Weiße hier zu mir hereinbricht und das Oberste zuunterst kehrt – ist das überhaupt ein Platz für einen Tuwan? Er soll zu seinesgleichen gehen, wo er hingehört, und eine arme, ordentliche Frau nicht ins Gerede bringen. Ich will weiter nichts mit ihm zu tun haben – mag ihn im Leben nicht wiedersehen – nehmt ihn fort.«

»Wo sind seine Kleider?« sagte van Roeken ernst.

»Weiß ich's?« brummte die Alte verdrossen. »Ohne Geld ist er zu uns hereingebrochen, ohne einen einzigen Deut in der Tasche, aber trinken muß er doch – trinken und mit den Dirnen jubeln und toben, und wenn ihm der Arrak dann in den Kopf steigt, weiß er nicht mehr, was er tut, und reißt alles vom Leib, was er auf sich trägt.«

»Gut«, sagte van Roeken, der recht wohl wußte, auf was das alles hinauswollte, dem aber daran lag, hier sobald wie irgend möglich wieder fortzukommen; »ich kann mir wohl denken, daß du deine – Waren nicht umsonst hergibst, Alte, und da der Tuwan kein Geld hatte, mußte er natürlich seine Kleider verkaufen, wozu er leichtsinnig genug war. Alles das ging dich freilich nichts an; wir beiden sind jedoch hergekommen, um ihn mit uns fortzunehmen. Er war bis jetzt im Spital und ist noch krank, du weißt aber recht gut, was dir geschehen könnte, wenn er hier im Haus stirbt; also schaff so rasch du kannst seine Kleider herbei, und ich zahle dir alles, was er dir schuldig ist. Verstanden?«

»Alles?« fragte die Alte lauernd. »Vom vorigen Monat stehen noch fünfundzwanzig Gulden für ihn angeschrieben.«

»Alles«, sagte van Roeken, sie von sich drängend. »Je schneller du die Kleider bringst, desto rascher bekommst du dein Geld und wirst dazu den Weißen los, solange er noch lebt.«

»Desto besser, desto besser«, murmelte die Alte vor sich hin, die diese günstige Wendung wohl kaum erwartet hatte, und viel rascher, als sie gekommen war, verschwand sie wieder aus der Tür, um das Verlangte herbeizuholen. Es dauerte auch gar nicht lange, da brachte sie die Kleider, die aber schon aussahen, als ob sie Horbach ebensoviele Tage wie Stunden getragen hätte; besser diese jedoch als gar keine, und Tojiang wollte jetzt, während van Roeken inzwischen der Alten das verlangte Geld zahlte, ein paar von den Chinesen aus dem anderen Zimmer holen, die ihm beim Anziehen des Betrunkenen helfen sollten. Horbach war nämlich, trotz aller Versuche, ihn munter zu bekommen, nicht aufzuwecken, und starrte außerdem so von Schmutz und Unrat, daß ihn weder Wagner noch van Roeken anrühren mochten. Tojiang allein konnte aber den schweren Mann, dem Kopf und Arme willenlos herunterhingen, nicht ankleiden. Die Chinesen hatten sich aus dem Staub gemacht, und so mußten die Alte und einige von den Mädchen zu Hilfe kommen, um ihn nur wenigstens wieder in seine Kleider hineinzubringen. Während des Anziehens kam er einmal halb zu sich und starrte mit gläsernen Augen im Kreise umher. Er mußte dabei van Roeken erkannt haben, denn er stammelte mit schwerer Zunge und einem krampfhaft verzogenen lächelnden Gesicht: »Bitte – mich – Ihrer Frau – Frau Gemahlin – bestens – bestens zu empfehlen«, dann fiel er wieder wie tot zurück und mußte von Tojiang und den Mädchen in den Wagen getragen werden. Von hier aus gingen sie aber nicht durch den dunklen Gang zurück, sondern eine kleine Tür führte über den Hof gleich ins Freie auf die Straße hinaus.

»Warum, zum Teufel, hast du uns denn nicht vorher diesen Weg geführt«, sagte van Roeken zu Tojiang, »so daß wir durch die schauerliche Höhle kriechen mußten – he, mein Bursche?«

»War nicht offen, Tuwan«, entschuldigte sich der Malaie, »und Tojiang wußte eben nicht besser Bescheid. Das nächstemal gehen wir hier herein.«

»Verdamm mich, wenn du mich in der Bude jemals wieder siehst«, fluchte aber der Holländer. »Und nun setz dich zu deinem früheren Herrn und fahr ihn direkt in meine... Halt, wenn du mit dem betrunkenen Burschen allein dort ankämst und meiner Frau in den Weg liefst, ist es fraglich, was sie gerade tun würde. Fahr lieber hinter uns her, ich nehme dich dann gleich mit nach Hause, Wagner.«

»Das geht nicht«, sagte Wagner, »ich muß jedenfalls erst noch einmal ins Geschäft, denn ich habe Nitschke aufgetragen, dort auf mich zu warten. Aber benutze nur meinen Wagen; ich gehe die kurze Strecke von hier hinüber und fahre dann mit Nitschke nach Haus.«

»Zu Fuß?« rief van Roeken erstaunt, denn es wäre ihm selber nie eingefallen, auch nur die Länge einer Straße zu Fuß zurückzulegen.

»Es sind höchstens tausend Schritt«, sagte aber Wagner. »Ich komme schon hinüber, wenn ich aus diesen Winkelgassen nur den Weg finde. Außerdem geht die Sonne gerade unter, und es ist kühl und angenehm zu gehen. Kannst du mir sagen, Tojiang, wie ich von hier aus am schnellsten zum Kali besaar oder zu unserem Geschäft komme?«

»Gleich dort hinüber, Tuwan«, erklärte der Bursche, der hier jeden Fußbreit Boden kannte. »Rechts hinter der Brücke drüben ist die Hauptstraße, und von dort aus...«

»Find' ich mich schon zurecht«, unterbrach ihn Wagner und wandte sich der bezeichneten Richtung zu. Van Roeken aber stieg kopfschüttelnd in seinen Bendi und fuhr, von Tojiang mit dem besinnungslosen Horbach gefolgt, rasch der eigenen Wohnung zu.


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