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Am nächsten Morgen fuhr Herr Heffken zur gewöhnlichen Zeit in sein Kontor. Die jungen Leute, die unter ihm arbeiteten, waren schon dort, mußten aber auf ihn warten, da er die Schlüssel mitbrachte, und einer von ihnen, schon ein ziemlich alter Knabe, vertrieb ihnen indes die Zeit so gut, daß sie oft in schallendes Gelächter ausbrachen. Herr Joost war überhaupt ein merkwürdiges Individuum, mit sehr bleichen, durch dunkle fettige Haare scharf konturierten und von Sommersprossen fast entstellten Zügen und zwei Reihen richtig unheimlich weißer Zähne, aber mit etwas sehr Drolligem in seinem Ausdruck sowie einem unverwüstlichen, trockenen Humor.
Herr Heffken kam endlich und schloß sein Kontor auf, und malaiische Diener sprangen, während er selber sein kleines Blechkästchen mit den nötigen Papieren auf sein Schreibpult setzte, hinzu, um den Raum zu lüften und zu reinigen, als ein Ausruf eines der jungen Leute die Aufmerksamkeit aller auf den Geldschrank richtete.
»Die Kasse ist erbrochen!« rief der junge Mann, und nur ein Blick genügte, die schlimme Wahrheit zu bestätigen. Die obere Tür schien allerdings geschlossen, aber die kleinen Klappen und Schieber, die geheimgehaltene Schlüssellöcher verdeckten, waren mit einem scharfen, noch daneben am Boden liegenden Instrument abgebrochen worden, und der Schrank stand offen.
Einer der jungen Kommis wollte gleich darauf zuspringen, um alles näher zu untersuchen, aber Heffken hinderte ihn daran.
»Halt!« rief er ihm zu. »Rühren Sie den Schrank nicht an – Joost, fahren Sie augenblicklich, so rasch Ihr Pferd laufen kann, auf die Polizei hinunter, machen Sie die Anzeige und bringen Sie gleich die nötigen Beamten mit, um den Tatbestand zu konstatieren. Von Ihnen verläßt inzwischen keiner das Zimmer – wir wissen nicht, ob es vielleicht wünschenswert ist, die Sache vorderhand geheimzuhalten. Jedenfalls mögen die Beamten darüber entscheiden.«
Wenige Sekunden später rollte Joost in seinem Bendi rasch dem Polizeigebäude zu, während Heffken indessen selber das Zimmer auf das sorgfältigste untersuchte, um weitere Spuren aufzufinden. Diese zeigten sich vor allen Dingen am Fenster – zwei der eisernen Stäbe, die es nach außen schützten und ohnehin schon arg von der Zeit gelitten hatten, waren durchgesägt, und die Stücke, nachdem sich der Dieb entfernt hatte, wieder zurückgebogen worden, vielleicht um eine vorzeitige Entdeckung von außen zu vermeiden. Im Zimmer lag ein Stück halbgerauchter Zigarre, und einige angebrannte Schwefelhölzer daneben zeigten, daß der Dieb auch mit Feuerzeug versehen war und mit diesem entweder die Zigarre oder vielleicht eine Blendlaterne angezündet hatte. In sehr kurzer Zeit kamen übrigens die Beamten angefahren, und eine Untersuchung des Schranks ergab vor allen Dingen einen nicht unbeträchtlichen Verlust an Banknoten und Gold, was in der obersten Abteilung des Schranks gelegen hatte und sich im ganzen auf eine Summe von zirka zwanzigtausend Gulden belaufen mochte. Sechzehntausend Gulden gehörten der Kompanie, und viertausend waren Heffkens eigenes Kapital, das er vor kurzer Zeit aufgenommen hatte, um es, wie er angab, nach Holland zu senden.
Das untere Fach, das eigentlich die wertvollsten Papiere, wie außerdem eine nicht unbedeutende Summe in spanischen Doublonen enthielt, hatte der Dieb nicht aufbekommen. Auch hier waren die Schieber teils zurückgebogen, teils nur beschädigt.
Unerklärlich blieb, wie der Dieb den oberen Teil aber geöffnet hatte, wenn er keinen Schlüssel dazu besaß, denn obgleich an dem Schlüsselloch viele Zeichen von dem gewaltsamen Einpressen und Scheuern eines harten Instruments erkennbar waren, schien das Schloß doch nicht hinlänglich beschädigt zu sein und diesen Einwirkungen nicht nachgegeben zu haben. Heffkens Schlüssel konnte es noch auf- und zuschließen, und der innere Mechanismus war in keiner Weise gestört; wenn aber der Dieb einen Nachschlüssel hatte, wozu dann diese Anstrengung, das Schloß zu sprengen? Er mußte aber einen Schlüssel gehabt haben, denn ein Dietrich hätte das komplizierte Schloß nie geöffnet, und außerdem wäre er auch nicht imstande gewesen, die untere Klappe zu öffnen, die ein anderes Schloß trug.
Auch vor dem Haus wurde jetzt nachgesucht, doch ließen sich natürlich auf dem mit Steinplatten belegten Boden keine weiteren Spuren entdecken. Aber im Kontor hatte inzwischen einer der Kommis ein kleines Zahnstocher-Etui aus Schildpatt gefunden, das niemandem von ihnen gehörte. Auf der einen Seite war mit einem Messer oder einer Nadel ein R. eingekratzt, und es wurde den Polizeibeamten mit dem Stemmeisen, dem Zigarrenstummel und den Schwefelhölzern übergeben und ihnen überlassen, aus diesen toten Zeugen die möglichen Schlußfolgerungen zu ziehen, um den Täter zu entdecken.
Vorderhand baten die Beamten aber Herrn Heffken – außer der Maatchappey gegenüber, der er natürlich gleich Bericht erstatten mußte –, über den Diebstahl zu schweigen, bis sie nähere Nachforschungen angestellt hätten. Törichte Vorsicht! Der Dieb wußte doch, daß seine Tat jetzt entdeckt war, und hatte den Raub wohl schon lange in Sicherheit gebracht.
Hedwig hatte indessen einen trüben Tag verbracht und Wagners Besuch an jenem Morgen, anstatt sie zu beruhigen, ihr Herz nur noch mehr mit Sorgen und Zweifeln erfüllt. Weshalb kam van Roeken nicht selber? War er wirklich verreist? Sie wollte daran zweifeln, und doch – weshalb hätte er sie dann nicht schon aufgesucht; sie war ja sein – Eigentum, das er sich bestellt und gekauft hatte – und von diesem Gedanken aufs äußerste zerknirscht, verbarg sie ihr Antlitz in den Händen, um in schmerzlichem und doch so nutzlosem Grübeln den Tag zu verträumen. Die alte Kathrine ging in dem Zimmer aus und ein – sie hätte ihre junge Herrin gern getröstet, aber der ganze Empfang hier kam ihr selber unheimlich und jedenfalls ganz anders vor, als sie ihn wohl erwartet haben mochte. Dabei fühlte sie sich zwischen den vielen rothäutigen und gelben Malaien und Chinesen, von deren Sprache sie kein Wort verstand, ebenfalls nicht wohl: es kam ihr immer so vor, als ob sie von ihnen ausgelacht würde und als ob jemand hinter ihr drein Gesichter schnitte. Sie hätte wer weiß was darum gegeben, wieder daheim, wieder in ihrem alten freundlichen Frankfurt zu sein und das fremde, seltsame Land nie gesehen zu haben.
Der ganze Sonntag verging, ebenso der ganze Montag. Das war ein Leben und Treiben in dem Haus, ein Hinundherfahren und Laufen und Rufen, und auf dem breiten Hof brannte die Sonne dazu nieder, und über die Dächer schauten die Palmenkronen so fremd herüber – da war auch nichts, das die armen Frauen an die Heimat erinnert hätte – nicht einmal die Sterne nachts, die in anderen Bildern über ihnen standen. Jetzt schlug wieder die Mittagsstunde; die farbigen Diener schleppten Schüsseln nach Schüsseln in den großen Saal hinüber, die Kutscher brachten ihre Pferde in die Ställe, und die jungen Burschen, die erst nach der Tafel mit ihren brennenden Lunten gebraucht wurden, lagen auf dem steinernen Boden der Vorhallen und hielten ihren Mittagsschlaf vor Tisch.
Hedwig hatte sich von den Wirtsleuten ausgebeten, in ihrem Zimmer essen zu dürfen, denn sie wagte sich nicht zwischen die vielen fremden geputzten Menschen hinaus, und Schüssel nach Schüssel wurde ihr jetzt gebracht, obwohl sie von der ersten kaum gekostet hatte, während sie sich den Leuten nicht verständlich machen konnte, daß sie nichts weiter bedürfe. Sie hätte weinen mögen, so traurig – so von Herzen traurig war ihr zumute. Die Unruhe der alten Kathrine erstreckte sich indessen nicht auf den Magen, und die Essenszeit war die einzige, die ihr noch gewissermaßen Ersatz für alle übrigen »Entbehrungen« brachte. Sie tat ihr möglichstes, und nach dem Essen, als die Diener das Geschirr wieder hinausgeräumt hatten, wollte sie ihrem lieben Fräulein eben das Lager ein wenig zurechtrücken, damit sie unter dem Moskitonetz, vor den zahllosen Mücken geschützt, ein Stündchen ruhen könne, als einer der malaiischen Burschen an die Tür pochte und, den Kopf hereinsteckend, meldete: Ein Tuwan wünsche sie zu sprechen. Daß Tuwan Herr bedeute, hatte Hedwig schon gelernt, wenn sie auch weiter nichts von der Mitteilung verstand. Zitternd fuhr sie aber von ihrem Stuhl auf, denn sie fühlte, daß der Augenblick sich näherte, in dem sich ihr künftiges Geschick entscheiden solle. Der Malaie wartete übrigens gar nicht auf weitere Antwort, denn schon im nächsten Moment war er wieder verschwunden, und gleich darauf pochte es ziemlich herzhaft an die Tür.
»Herein«, hauchte Hedwig, denn die Stimme versagte ihr fast den Dienst, und krampfhaft preßte sie die Hand auf das Herz, als mit dem Wort sich auch schon die Tür öffnete und eine kleine, verwachsene Gestalt auf der Schwelle stand und ein Paar kleine graue, unstete Augen ihrem Blick begegneten.
»Mein Fräulein, ich hoffe, daß ich Sie nicht störe«, sagte die Gestalt, während sie ohne die geringste Schüchternheit ins Zimmer trat und der jungen Dame eine etwas förmliche Verbeugung machte, »Fräulein Bernold, nicht wahr?«
Hedwig schnürte es fast die Kehle zu – sie konnte nicht Atem holen – sie konnte nicht antworten. Jeder Blutstropfen hatte ihr Antlitz verlassen, und nur ein leises Neigen des Kopfes bestätigte die Frage.
»Schön«, sagte der Besuch, indem er seinen Hut auf den Tisch legte, einen Stuhl heranrückte und dann ruhig fortfuhr: »Ich habe mich ohne weitere Umstände bei Ihnen eingeführt, aber als ein alter Freund van Roekens, der kein Geheimnis vor mir hat...«
»Sie sind...«, stotterte Hedwig, und die Aufregung, in der sie sich in diesem Augenblick befand, konnte Heffken unmöglich entgehen.
»Ich glaube nicht, daß ich das Vergnügen habe, von Ihnen gekannt zu werden«, sagte der Mann mit einem süßlichen Lächeln, »mein Name ist Heffken – ich hin Buchhalter in der holländischen Maatchappey und nur hierhergekommen...«
»Gott sei Dank!« stieß da die alte Kathrine heraus, die mit gefalteten Händen in der Ecke gestanden und den Besuch mit stieren Augen betrachtet hatte. Herr Heffken sah sich etwas erstaunt nach ihr um; die Kathrine erschrak aber schon selber genug über die Worte, die ihr unwillkürlich entschlüpft waren, und fuhr ohne weiteres aus der Tür, um draußen erst wieder einmal ordentlich Atem zu holen.
»Was hat denn die Frau?« fragte Heffken, ihr erstaunt nachsehend.
»Es ist eine alte, treue Dienerin«, sagte Hedwig, die durch diese Unterbrechung Zeit gewann, sich zu sammeln. »Ich fürchtete mich, die lange Seereise allein zu machen.«
»Hm«, sagte Herr Heffken und sah ein paar Sekunden still vor sich nieder, »aber das läßt sich alles einrichten – die Hauptsache ist, mein Fräulein, daß ich Anteil an Ihrem Schicksal nehme und gern alles dazu beitragen möchte, Sie nicht bereuen zu lassen, nach Java gekommen zu sein.«
Hedwig konnte den Ideengang des Mannes nicht verfolgen. Sie verstand wohl die Worte, denn Heffken sprach, wenn auch mit etwas ausländischem Akzent, doch das Deutsche vollkommen korrekt, aber sie verstand den Sinn dieser Worte nicht. Auch sah der Mann vor ihr gerade nicht aus, als ob er an irgend etwas großen oder innigen Anteil nehmen könne – wenigstens an nichts, was das Herz betraf. Sein nicht gerade besonders einnehmendes Gesicht war von einer fliegenden Röte – vielleicht den Folgen des eben beendeten Diners – überzogen; seine engstehenden grauen Augen schossen fortwährend blitzartig im Zimmer umher und begegneten ihrem Blick nicht zwei Sekunden ruhig hintereinander, und der ganze Ausdruck seiner Züge hatte etwas Höhnisches und Abstoßendes, das nicht für ihn einnehmen konnte.
Heffken wußte allerdings liebenswürdig zu sein – wenn er eben wollte –, aber er hielt das hier entweder nicht für nötig, da er nur hergekommen war, um eine Geschäftssache zu erledigen, oder er war möglicherweise heute nicht in der Stimmung, einmal so ganz aus sich herauszugehen.
»Ich verstehe Sie nicht«, sagte sie leise.
»Ich will deutlicher sprechen«, erwiderte Heffken und bemerkte gar nicht, daß Kathrine in diesem Augenblick wieder ins Zimmer trat, oder achtete nicht darauf. Die alte treue Magd hatte sich nämlich überlegt, daß sie ihr junges liebes Fräulein doch nicht mit dem »alten, häßlichen Menschen« allein lassen könne, und war deshalb zurückgekehrt, so unheimlich sie sich in seiner Nähe fühlte.
»Ich will deutlicher sprechen«, wiederholte Heffken langsamer, »möchte aber vorher die Frage an Sie richten, ob Sie sich schon entschlossen haben, hier auf Java – was ich Ihnen anraten möchte – zu bleiben, oder – ob Sie wieder nach Deutschland zurückkehren wollen?«
»Mein Herr«, sagte Hedwig, der diese unzarte Berührung ihres ohnehin peinlichen Zustands weh tat, »Sie haben mir eben versichert, daß Sie ein Freund des Herrn van Roeken sind und« – dunkle Röte überzog dabei ihr Gesicht – »den Grund kennen, weshalb ich Batavia besucht habe. Sie müssen dann aber auch wissen, daß ich, nachdem ich diesen Schritt getan habe, nicht mehr unabhängig bin.«
»Vollständig, mein liebes, bestes Fräulein, vollständig!« rief aber Heffken. »Von dem Augenblick, als van Roeken seine jetzige Frau nahm, konnte er nicht mehr darüber bestimmen, wo Sie künftig Ihren Aufenthalt wählen würden.«
»Herr van Roeken?« sagte Hedwig, indem sie den Arm langsam gegen Heffken ausstreckte und ihn starr und staunend ansah – »Herr van Roeken, sagen Sie? – seine – seine jetzige – Frau nahm?«
»Ja«, nickte Heffken, sprang aber auch im nächsten Augenblick schon von seinem Stuhl auf und rief: »Alle Teufel, davon haben Ihnen die beiden wohl noch gar nichts gesagt, daß van Roeken inzwischen geheiratet hat? Ah, das nehme mir aber kein Mensch übel, das ist ein bißchen stark!«
»Der Herr van Roeken hat schon geheiratet?« schrie in diesem Augenblick Kathrine, die sich nicht länger zurückhalten konnte. »Ei, so ein nichtsnutziges, erbärmliches Dos – daß er die Kränk kriegt!«
»Die alte Person spricht ein sehr verständliches Deutsch«, sagte Heffken mit einem boshaften Lächeln, »und van Roeken hat eben nichts versäumt, daß er die Äußerung nicht hörte.«
Hedwig hatte keine Silbe von dem, was die Kathrine sagte, verstanden; nur das eine hörte – begriff – fühlte sie, daß sie schändlich und erbarmungslos verraten und betrogen sei, herausgelockt aus ihrer Heimat in ein fremdes Land, um jetzt den Leuten als Spott zu dienen, daß sie mit Fingern auf sie zeigen konnten. »Barmherziger Gott«, flüsterte sie leise vor sich hin und verbarg dabei ihr Antlitz in den Händen, »hab' ich denn das verdient? Hab' ich denn das verdient?«
Die Kathrine war eigentlich erschrocken, als ihr die heftigen Worte so in Gegenwart ihres Fräuleins und des Fremden entschlüpften. Als sie aber jetzt das arme junge Mädchen zusammenbrechen sah, als sie an die Qual dachte, die sie schon ertragen mußte, und alles, alles unverschuldet, alles mit einer Geduld und Sanftmut, die einen Engel hätte beschämen können, da brach ihr fast das Herz. Zu Hedwig springend, sagte sie, ihren Arm um ihren Nacken, leise und liebkosend: »Komme Sie, mei liebs, guts Fräule, komme Sie. Nicht weine vor dem – vor dem Aff' do«, flüsterte sie ihr so leise zu, daß Heffken die Worte nicht verstehen konnte. »Wir beide gehn widder heim, gehn widder nach Frankfort, und wann wir auch die lange eklige Reis' noch als emol mache misse. Nicht weine über die schlechte Mensche, die sin kei Träne wert, und dorch komme mer aach schon. Nur kei Furcht, mei Herzenskind, nur kei Furcht, der alte Gott lebt noch und – die alte Kathrine aach.«