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Heffken hatte indessen seinen Bendi erreicht und sich hineingeworfen, ohne Herrn Horbach zu bemerken, und wenige Minuten später war er in der am Garten vorbeiführenden Straße verschwunden. Horbach schritt langsam und immer mit dem Kopf schüttelnd zu seinem vorher ausgesuchten Platz hinüber, warf sich dort in den äußerst bequemen Drahtstuhl und blies den Dampf seiner Manila in dichten blauen Kräuselwolken gegen die zu ihm niederhängenden Zweige des Waringhis hinauf. Eine Stunde mochte er etwa so gesessen haben; im Hause selber rührte sich noch gar nichts, und die Malaien begannen in der Vorhalle den Tisch zu decken, damit der Herr, wenn er nach Haus käme, nicht mehr zu warten brauche. Die Sonne war ihrem Untergang nahe, in der Tat vergoldete sie nur noch die höchsten Gipfel der Palmen, während sich schon unter den dichten Gebüschen im Garten die Nacht lagerte, als ein Bendi in das Anwesen rollte, und gleich darauf dessen Besitzer aus dem Wagen und auf die Veranda zusprang.
»Ob ich's mir nicht gedacht habe«, flüsterte Horbach leise vor sich hin, »tatsächlich van Roeken – bin aber verteufelt neugierig, zu erfahren, weshalb der auf einmal eine solche Zuneigung zu mir gefaßt hat; hab' sie doch wahrhaftig nicht um ihn verdient.«
»Ah, Herr Horbach!« rief der Holländer, als er vor dem Haus von seinem Sitz sprang und den Deutschen dort in seiner Bequemlichkeit entdeckte, »nun, sind Sie endlich aufgewacht?«
»Ja, Mynheer van Roeken«, erwiderte Horbach, trotz seiner gewöhnlichen Unverschämtheit doch etwas verlegen von seinem Platz aufstehend und die Zigarre aus dem Mund nehmend, »ich – wußte nicht gleich, wo ich mich befand, denn neulich, als ich Ihrer freundlichen Einladung folgen wollte, war ein Versehen vorgefallen, das – das mich...«
»Ein Versehen? In der Tat?« sagte van Roeken trocken, indem er zu ihm auf die Veranda trat, »doch lassen wir das. Die Sache ist vorbei und erledigt und nicht so angenehm für uns beide, um noch weiter davon zu reden. Haben Sie meine Frau schon gesprochen?«
»Nein, Mynheer – ich – glaube gar nicht, daß sie zu Haus ist – möglicherweise ist sie ausgefahren.«
»Waarachtig niet«, lachte van Roeken, »nicht um diese Zeit. Wo ist meine Frau?« wandte er sich dann in malaiischer Sprache an einen der Diener.
»Zu Haus, Tuwan«, lautete die Antwort.
»Wo? Das weiß ich, daß sie zu Haus ist, Holzkopf.«
»In ihrem Schlafzimmer – sie hat es den ganzen Abend noch nicht verlassen.«
»S-o«, sagte Horbach, »da hab' ich mich doch geirrt.«
»Ist Mevrouw angezogen?« fragte van Roeken den Diener wieder.
»Tau, tuwan«, sagte der Bursche mit den Schultern zuckend, »darf niemand zu ihr hinein.«
»Gut – schick eins der Mädchen hinein und laß ihr sagen, daß das Essen bereit ist. Sie werden auch Hunger haben, Horbach?«
»Allerdings«, erwiderte der junge Mann, der sich ganz in Gedanken wieder in dem Stuhl niedergelassen hatte und dort stärker als je qualmte, »allerdings; aber – sagen Sie mir doch einmal aufrichtig, verehrter Herr van Roeken, was eigentlich für ein Geheimnis hinter der ganzen Geschichte steckt, denn aus reinem Interesse für meine Person hätten Sie mich doch wahrhaftig nicht aus dem chinesischen Viertel herausfischen lassen, ein Kunststück, das Ihnen in der Tat nur mit Tojiangs Spürnase gelingen konnte.«
»Mein lieber Herr Horbach«, sagte van Roeken sehr ruhig, indem er seinen Hut ablegte und den kleinen Blechkasten mit seinen Briefschaften daneben stellte, »es liegt nicht mehr der geringste Grund vor, Ihnen etwas, das Sie wirklich selber betrifft, zu verheimlichen. Allerdings habe ich Ihnen eine Nachricht mitzuteilen, wollte das aber nicht im Hospital tun, wo ich Sie zu schwach glaubte, und konnte es nicht in jener Schandbude, aus der wir Sie gestern herausholten.«
»Dann waren Sie selbst dort?« fragte Horbach etwas verlegen.
»Allerdings«, fuhr van Roeken ruhig fort, »nehmen Sie es mir aber nicht übel, mein guter Herr Horbach; allen Respekt vor Ihrer Leibeskonstitution, durch deren Hilfe Sie selbst jenem Aufenthalt nur mit einer leichten Erkältung entgangen sind – tausend andere an Ihrer Stelle hätten sich einfach den Tod geholt –, aber einen besseren Geschmack habe ich Ihnen doch zugetraut.«
»Reden wir von etwas anderem«, sagte Horbach, seine Zigarrenasche abstreifend, »das Thema kann, wie Sie vorher ganz richtig bemerkten, für uns beide nicht angenehm sein.«
»Es tut mir überhaupt leid«, erwiderte van Roeken, »gar keine angenehme Nachricht für Sie zu haben. Sie müßten denn eine Todesbotschaft dazu rechnen.«
»Eine Todesbotschaft?« rief Horbach und sprang, wirklich erschrocken, von seinem Stuhl auf. Er war sehr blaß geworden und sagte endlich, mit durch die Heiserkeit kaum hörbarer Stimme: »Mein Vater?«
Van Roeken sah ihn ein paar Sekunden forschend an, dann nickte er langsam mit dem Kopf und erwiderte: »Ja – wissen müssen Sie es doch einmal, und je eher das also geschieht, desto besser. Es ist für Sie ein Wechsel von fünftausend Gulden eingelaufen, über den Sie jeden Augenblick verfügen können; wir haben weder das Recht noch die Lust dazu, Ihnen Ihr Eigentum auch nur eine Stunde vorzuenthalten; Sie sind selber alt genug, um zu wissen, wie Sie es zu verwalten haben. Tun Sie nun der Kolonie und sich den Gefallen, mit dem Geld nicht wieder so umzuspringen wie bisher. Wollen Sie meinem Rat folgen, so bezahlen Sie vor allen Dingen Ihre Schulden, erholen sich die nächsten Tage von Ihrem bisherigen Leben und gehen dann mit der Mail nach Deutschland zurück, wo Ihre Verwandten wohl größeren Einfluß auf Sie haben werden als wir hier. Solange Sie sich übrigens ordentlich und anständig betragen, steht Ihnen mein Haus als Wohnort zur Verfügung.«
Horbach stand, die Hand auf den Tisch gestützt, den Kopf gesenkt, dem Kaufmann gegenüber und flüsterte mit leiser, fast bewegter Stimme: »Mein Vater tot? – Armer Vater, hast auch nicht viel Freude an deinem Schlingel von einem Jungen gehabt! Nun – jetzt ist's überstanden – Frieden deiner Asche!« Und einen Moment beugte er das Haupt und blieb still und stumm in sein wehmütiges Nachdenken versunken. Aber es war auch wirklich nur ein Moment, denn schon im nächsten Augenblick hatte er die Zigarre wieder zwischen den Lippen, und mit einem Blick nach dem inneren Raum, sagte er: »Mynheer, wir alle müssen sterben – tut mir leid, daß ich ›den Alten‹ nicht noch einmal gesehen habe; jetzt aber ist's nicht mehr zu ändern, – ich glaube, die Suppe ist aufgetragen, und dort kommt auch Ihre Frau Gemahlin – dürfen ihr doch das Mittagessen nicht durch traurige Gespräche verderben.«
»Sie scheinen sich ziemlich gefaßt zu haben, Herr Horbach?«
»Vollkommen«, erwiderte der Erbe, seine Zigarre hinaus in den Garten werfend. »Was hilft auch das Kopfhängen – ah, Mevrouw!«
Mevrouw van Roeken kam in voller Toilette herausgeschwebt, rauschte an Horbach, der ihr eine ehrfurchtsvolle Verbeugung machte, den sie aber kaum eines Blickes würdigte, stolz vorüber, und sagte zu ihrem Gatten: »Tabé, mein Herz – kommst du endlich? Ich habe eine solche Sehnsucht nach dir gehabt!«
»Wirklich, mein süßes Leben?« erwiderte van Roeken zärtlich, »aber warum bist du nicht ein wenig ausgefahren?«
»Ich hatte Kopfschmerzen – betoel – schreckliche Kopfschmerzen.«
»Kassiang«, sagte ihr Gatte bedauernd.
»Und mochte auch nicht ohne dich fahren.«
»Du gute Frau – aber unser Essen wird kalt. Liebes Herz, ich habe dir erst hier noch einen jungen Deutschen, Mynheer Horbach, vorzustellen, der es sich einige Tage in unserem Hause will gefallen lassen; Mynheer Horbach, Mevrouw van Roeken.«
Mevrouw van Roeken, ohne auch nur den Blick dorthin zu werfen, wo Horbach stand, machte einem der großen steinernen Pfeiler eine halbe Verbeugung, und sich dann an den Arm ihres Gatten hängend, führte sie ihn hinüber zum Tisch, hinter dessen Stühlen die dienstbaren Malaien schon ihre Plätze eingenommen hatten.
Horbach entging die Verachtung nicht, mit der ihn Mevrouw behandelte, und es geschah das auch nicht ohne guten Grund, denn von ihren Mägden hatte sie schon gestern gehört, in welchem Zustand der Fremde in ihr Haus geschafft worden sei. Daß sie mit einem solchen Vagabunden nichts zu tun haben wollte, konnte ihr eigentlich niemand verdenken, und sie hatte gestern abend sogar schon einen harten Kampf mit ihrem Gatten gekämpft, indem sie den »verdorbenen Menschen« gar nicht an ihren Tisch nehmen, sondern zu den Malaien verweisen wollte. Das ging aber, wie van Roeken meinte, doch nicht an; er blieb immer ein Weißer, und außerdem wurden sie ihn ja auch mit der nächsten Mail für immer aus der Kolonie los. Es war die letzte Unbequemlichkeit, die er ihnen bereitete, und ihren Geschäftsfreunden in Deutschland konnten sie nicht gut diese Gefälligkeit versagen. Mevrouw van Roeken duldete ihn deshalb, suchte den »Verworfenen« aber nun mit der größten Anstrengung fühlen zu lassen, wie sehr sie ihn verachte, und war nicht allein erstaunt, nein, erschrak ordentlich darüber, als sie bemerken mußte, welch geringen Eindruck das auf ihn machte. Statt nämlich vollständig zerknirscht und zusammengebrochen zu sein, als sie an ihm vorüberrauschte, machte ihr Horbach nur eine lächelnde Verbeugung, und jedesmal, wenn sie den verächtlichen Menschen einmal von der Seite und verstohlen ansehen wollte, fand sie seinen spöttischen Blick voll auf sie geheftet.
Van Roeken merkte indessen von diesem Zwischenspiel nicht das mindeste. Er hatte eben ein paar Briefe bekommen, die mit einem Schoner von Sumatra eingetroffen waren, und überflog sie, während er die Suppe aß; dann knüpfte er mit seiner Frau ein Gespräch über einen neu zu bauenden Wagen und ein paar andere Wirtschaftssachen an. Mevrouw ging angelegentlich darauf ein und drehte dabei dem aufgedrungenen Gast soviel wie möglich den Rücken zu. Sie fühlte aber auch zugleich, daß sein Blick sie fortwährend fixierte. Was wollte der unausstehliche Mensch von ihr? Sie haßte ihn jetzt mehr als je.