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»Herr Horbach«, sagte der Buchhalter, der ohne ein Wort zu erwidern an ihm vorbeigegangen wäre, hätte ihm Horbach nicht boshafterweise den Weg verstellt, »ich weiß wahrhaftig nicht, wie ich zu dieser Vertraulichkeit komme, und muß Sie bitten...«
»Keine Umstände zwischen Freunden, mein Herz«, lachte aber Horbach, der gerade genug Unverschämtheit besaß, alle derartigen Kleinigkeiten als kein Hindernis im gesellschaftlichen Verkehr zu betrachten, »um Gottes willen keine Umstände, noch dazu mit mir! Meine Herren, ich habe hier das Vergnügen, Ihnen Tuwan Heffken, Hauptbuchhalter der hochverehrlichen holländischen Maatchappey – eigentlich könnte ich sagen, eine Hauptstütze derselben – vorzustellen. Lieber Heffken, Kapitän Hersing von der Euphrosine, Kapitän Meier von der Gesina Hollwig – beide prächtige Menschen, die ich hier in javanisches Leben einführe. Sagte ich es Ihnen nicht gleich, daß wir hier die nobelste Gesellschaft finden würden? Heffken ist ein Mordskerl, wo es gilt einen tüchtigen Spaß auszuführen. Wie wär's, wenn wir jetzt ein bißchen zusammen herumstromerten?«
»Meine Herren, ich muß bitten, mich zu entschuldigen«, erwiderte Heffken zu den beiden Kapitänen gewandt und ohne Horbach weiter eines Blickes zu würdigen, »dringende Geschäfte rufen mich wieder...«
»Hahahahaha«, unterbrach ihn das Gelächter Horbachs. »Eure dringenden Geschäfte hier in Meester Cornelis kennen wir auch – famose Geschäfte sind das, hahaha – prächtiger Kerl der Heffken, nie um eine Ausrede verlegen – aber wir begleiten Sie ein Stückchen.«
»Dem Herrn scheint aber gar nicht viel an unserer Gesellschaft gelegen zu sein«, flüsterte einer der Kapitäne Horbach zu; ehe dieser aber etwas darauf erwidern konnte, bestätigte Heffken diesen Verdacht auf das vollständigste, indem er, wütend über den zudringlichen Menschen und mit einem plötzlichen »guten Abend, meine Herren!« gegen die Kapitäne gewandt, Horbachs Griff entging und die Straße hinabeilte.
»Heffken – oh! Tuwan Heffken!« schrie ihm Horbach nach, der recht gut wußte, daß den Buchhalter nichts mehr ärgern würde, als in dieser Gesellschaft, noch dazu mit dem malaiischen Tuwan davor, seinen Namen so laut ausgeschrien zu wissen. Er würde sich auch noch mehr gefreut haben, hätte er die bitteren Verwünschungen hören können, die der Davoneilende vor sich hin murmelte – und doch sollte dieser seinem Verfolger noch nicht entzogen sein. Horbach nämlich, der ihn die gerade Richtung zu den Kabrioletts einschlagen sah und mit den batavischen Sitten nur zu gut bekannt war, ahnte etwas, was den kleinen, sich sonst nur in der besten Gesellschaft bewegenden Mann hierher geführt haben könnte, und beiden Kapitänen zuflüsternd, daß er ihnen jetzt wieder ein Stück javanische »Sitte« vorführen wolle, faßte er sie unter dem Arm und führte sie mit sich dem Buchhalter nach.
Heffken erreichte indessen gerade die Reihe der dort haltenden Wagen, als Schong-ho von der anderen Seite mit Melattie herankam. Der Chinese hatte noch immer das Handgelenk seines Opfers gefaßt, daß sie ihm nicht in dem Gewirr von Menschen entgleiten konnte, und demütig, den Kopf gesenkt, die schönen dunklen Augen von stillen Tränen überfließend, folgte ihm die Unglückliche – wußte sie doch, daß ihr Schicksal entschieden sei und kein Schritt von ihrer Seite das über sie verhängte Los mehr abwenden konnte. Es war aber das Schicksal von Hunderten ihres Geschlechts und Stammes, und durch den Befehl des Vaters dem ausgeliefert, hatte sie keine Wahl mehr, als zu gehorchen.
Der Kutscher des Bendis schlief natürlich auf seinem Bock, denn die armen Teufel sind schon daran gewöhnt, stundenlang in Sonnenhitze oder Regen die Befehle ihrer Herren zu erwartenDas Bendi- und Droschkenwesen ist in Batavia höchst eigentümlicher Art. Man kann jederzeit einen Bendi zur Miete bekommen, aber auf nicht weniger Zeit als sieben Stunden, was drei Gulden kostet. Für die kleinste Fahrt hätte man also drei Gulden zu bezahlen, kann aber das Fuhrwerk dafür die einmal berechneten sieben Stunden benutzen, und der Kutscher bittet sich in dieser Zeit höchstens einige Deut für Essen aus. , und Heffken brachte ihn am schnellsten damit zum Erwachen, daß er das Pferd am Zügel ergriff und von der Stelle rückte. Sein Kutscher wäre dadurch freilich beinahe vom Bock gefallen, aber das schadete nichts, er erwachte doch wenigstens, und mechanisch die Zügel aufgreifend, fuhr er aus der Reihe der übrigen heraus und hielt. Er wußte, daß es jetzt nach Hause ging.
Schong-ho war mit Melattie an den Wagen getreten und flüsterte ihr noch etwas zu, was das arme Mädchen gar nicht verstand. Ihr Blick schweifte angstvoll durch die Dunkelheit umher, als ob sie Hilfe suchen wollte – Hilfe von der freien Welt, von der sie jetzt für immer Abschied nahm. Aber wer von allen denen, die sich hier gleichgültig und nur ihrem Vergnügen nachgehend umhertrieben, hätte ihr hier helfen können oder mögen! Ihr Vater hatte sie von sich gestoßen, selbst die Mutter ihn nicht daran hindern können, und er – er, an dessen Seite sie gern Kummer und Not ertragen hätte, ein ganzes Leben lang –, er war weit von hier, weit, und auch er hatte sie ihrem Schicksal überlassen.
Hätte sie die scheue dunkle Gestalt sehen können, die mit der Hand am Kris zähneknirschend im Schatten der nächsten Wagen stand, sie würde vielleicht neue Hoffnung gefaßt haben – oder eine neue Sorge hätte ihr das Herz zerrissen. Was konnte der arme Eingeborene gegen die Macht des Weißen ausrichten, gegen die Sitte ihres eigenen Volks. Sie war verkauft, und der Weiße hatte nichts weiter zu tun, als seine Beute nach Haus zu führen. Heffken wußte das auch außerordentlich gut. Der Handel war abgeschlossen, der Vater wie der Chinese hatten das ausbedungene Geld, und allen Anforderungen war Genüge getan – das Mädchen wurde ja nicht um seine Einwilligung gefragt, und wenn es auch die ersten Tage den Kopf hängenließ, vergaß es das doch bald in dem neuen Leben, das es erwartete.
»Komm, Melattie – wir haben nicht viel Zeit.«
»Saya, Tuwan«, stöhnte das arme Mädchen und stieg langsam in den Wagen ein. Heffken hielt sich an der Seite, um ihm zu folgen.
»Nicht so schnell, Heffken!« schrie der unverwüstliche Horbach, der mit seinen Freunden gerade noch zur rechten Zeit kam. »Donnerwetter, er hat sich tatsächlich eine Nona eingepackt. Hallo, Mann, wir müssen doch wenigstens der Dame guten Abend sagen.«
Heffken war mit einem Sprung im Kabriolett.
»Vorwärts!« rief er dem Kutscher zu, »vorwärts, hau auf dein Pferd, du faule Kanaille, hörst du nicht, oder soll ich dir Arme machen?«
Der Malaie hieb aus Leibeskräften auf sein überraschtes Pferd ein, das den leichten Wagen in voller Flucht die Straße hinabzog. Horbachs lautes, schallendes Gelächter tönte hinter ihnen drein, aber es war nicht das einzige, was sie begleitete. Hinter dem Wagen her flog, sich aber immer in dem Schatten der Häuser haltend, eine dunkle Gestalt. Ein Trupp Chinesen kam dem Läufer entgegen und prallte erschreckt auseinander, als er mitten zwischen sie hineinsprang. Aber im Nu war er, wie eine Erscheinung, in dem Schatten der hohen Hecken verschwunden, und flüchtig wie das Reh seiner Wälder hielt er mit Leichtigkeit neben dem Wagen aus. Doch der Weg war zu lang. Meester Cornelis lag eine weite Strecke von den Vorstädten entfernt, und der junge Javaner durfte seine Kräfte nicht ganz erschöpfen. Deshalb, eine günstige Gelegenheit wahrnehmend, wo hohe Bäume den Weg verdunkelten, sprang er quer über den Weg auf das dahinrollende Fuhrwerk zu – seine Hand lag hinten darauf, und leicht und behende schwang er sich hinauf, lauernd hinter dem, der ihm das Liebste auf der Welt entriß, um mit fortgenommen zu werden.
Jetzt hatten sie die belebteren Teile der Vorstädte erreicht; rechts und links verrieten lichtdurchflossene Räume, die aus dem dichten Gebüsch hervorschimmerten, die Nähe holländischer Wohnungen. Deutlich konnte man diese von der Straße aus erkennen, und wie hell und glänzend erleuchtete reizende Bilder, mit durch die Entfernung winzigen, aber zierlich geputzten Figuren, lagen sie einen Moment von dem grünen Rahmen der sie umschließenden Bäume eingefaßt und verschwanden im nächsten Augenblick wieder zu zuckenden Lichtern, die aus dem Dickicht blitzten.
Aber was kümmerten die den Javaner. So fremd und neu ihm das alles sein mochte, hing sein Auge doch nur teils an den Sternen, teils an vorragenden und leicht erkennbaren Baumgruppen, um sich genau der Richtung zu versichern, die sie nahmen. Der kleine Strom, an dem sie jetzt entlangfuhren, Kali besaar (der große Fluß) genannt, diente ihm dabei als beste Markierung, bis sie links abbogen, um in eine andere, enger von Gärten zusammengedrängte Gasse hineinzufahren. Wie weit, wie entsetzlich weit schien ihm dabei der Weg, den er mit fortgeführt wurde, und scheu warf er den Blick zurück, ob er die Bahn aus diesem Labyrinth von Häusern und Gärten wiederfinden würde. Aber fest aufeinander biß er auch die Zähne, denn er kannte nur ein Ziel – Melattie, und wohin ihn das führte, mußte er folgen.
Da bog der Wagen plötzlich rechts in einen Garten ein. Zu beiden Seiten konnte Patani die weiß angestrichenen Pfähle des jetzt weitgeöffneten Gartentors erkennen. Er beugte sich zur Seite, und vor ihnen lag ein nicht großes, aber freundliches Gebäude mit weißen Säulen, zwischen denen zwei helle Astrallampen brannten. Aber der Platz war auch belebt – das Rollen des Wagens mußte jedenfalls gehört worden sein, denn mehrere Gestalten sah er sich in dem hellen Raum zwischen den Säulen bewegen. Was wurde jetzt aus ihm? Aus Melattie?
Einen Plan hatte er sich gar nicht gemacht; nur das Bewußtsein lebte in ihm, sein armes Mädchen nicht hilflos den Händen ihres Henkers zu überlassen. Auf dem Basar konnte er freilich nichts gegen den Weißen wagen, denn ein einziger Hilferuf hätte dort im Nu Hunderte von Chinesen und malaiischen Gerichtsdienern zusammengerufen. Entführte aber der verhaßte Fremde seine Braut, so blieb die Möglichkeit, daß er sie im Dunkeln in seine Wohnung brachte. Dort wollte er ihn überraschen, dort dem Verhaßten die schon sicher geglaubte Beute wieder aus den Zähnen reißen, und nur mit diesem Gedanken war er ihm gefolgt. Jetzt flog der Wagen plötzlich einem hell erleuchteten Gebäude zu, in dem wahrscheinlich die Diener des Weißen ihn erwarteten, und durfte er da noch hoffen, seinen kühn unternommenen Plan auch glücklich auszuführen? Aber nicht einmal Zeit zum Überlegen blieb ihm, denn der kleine Macassar-Hengst flog nur so, den Stall witternd, mit dem leichten Fuhrwerk über den Boden dahin. Wenige Sekunden später hielten sie schon auf dem hell erleuchteten Vorplatz, dicht vor dem Treppenaufgang, und Patani behielt kaum Zeit, von seinem Sitz herunter und in den Schatten des Wagens zu gleiten, als auch schon ein paar Diener aus dem Haus heraus- und auf den Schlag zusprangen, um ihrem gestrengen Herrn das Aussteigen zu erleichtern. Heffken ersparte ihnen aber heute die Mühe, denn mit einem Satz war er aus dem Bendi.
»Melattie! Komm!« flüsterte da eine leise Stimme an der dunklen Seite des Wagens, »ich bin hier!«
»Patani!« stöhnte das Mädchen in Todesangst, »gütiger Himmel, wenn...«
»Habe ich es mir nicht gedacht!« schrie da Heffken, dessen scharfes Ohr den flüsternden Laut gehört hatte, wobei er um den Wagen herumsprang. »Hierher, meine Burschen – faßt mir einmal den Schuft hier!«
Er selber war durch die Gegenwart seiner Leute ermutigt, und sich der Sicherheit bewußt, die ihm sein eigenes Haus bieten mußte, flog er auf den Javaner zu, um ihn zu halten. Er war ja nur ein Eingeborener, der sich seinem Willen fügen mußte. Schon hatte auch seine Hand die leichte, dünne Jacke des fremden Burschen gefaßt, und von beiden Seiten sprangen seine eigenen Leute hinzu, um den Befehl ihres Herrn auszuführen und den frechen Eindringling zu fassen, während nur der Kutscher ruhig auf dem Bock sitzenblieb. Heffken aber hatte sich hier ganz ungeahnt in eine Gefahr begeben, der er nicht rasch genug wieder entweichen konnte. Denn Patani, zum Äußersten getrieben, sah seine letzte Hoffnung zerstört, seine Freiheit, sein Leben vielleicht bedroht, und außerdem Haß und Grimm gegen den Weißen im Herzen, riß er seinen Kris aus der Scheide und warf sich in wilder und stummer Wut gegen ihn.
»Hilfe!« schrie Heffken, als er im Lampenlicht die scharfe Waffe blinken sah. »Hilfe!« Aber es war zu spät. Der blitzschnell gegen ihn geführte Stoß, den zu parieren er nur den Arm emporwerfen konnte, saß, und während der Weiße mit einem Aufschrei zusammenbrach, warf sich Patani gegen den nächsten Malaien. Dieser sprang ihm indessen behende aus dem Wege, und der Javaner war, ehe ihn jemand daran hindern konnte, wie ein Schatten in den dichten Kakaobüschen verschwunden.
Eine Verfolgung bei Nacht zwischen all den Gärten wäre, wenn überhaupt einer der Malaien daran gedacht hätte, vollkommen hoffnungslos gewesen. Die Burschen hüteten sich aber auch wohl, dem bewaffneten Javaner zu folgen, und sprangen auf ihren Herrn zu, um ihm womöglich noch Hilfe zu leisten.
»Nehmt das Mädchen in das Haus!« stöhnte dieser, »ich bin...« Er sank ohnmächtig zurück, und die malaiischen Diener standen ratlos, was sie mit dem verwundeten Tuwan beginnen sollten. Nur der Kutscher, der die ganze Szene mit dem größten Gleichmut betrachtet hatte, tat das einzige, was unter diesen Umständen zu tun war. Kaum hatten die Leute Melattie aus dem Wagen gerufen, in dem sie noch zitternd saß, lenkte er wieder um und hieb auf sein Pferd ein, um so rasch er konnte, einen Arzt herbeizuholen. Die übrigen mochten inzwischen den Verwundeten in das Haus schaffen.