Friedrich Gerstäcker
Unter dem Äquator
Friedrich Gerstäcker

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Wagner hatte, schon auf der Schwelle, noch einen Blick zum Haus zurückgeworfen, ob er von dort aus gesehen würde, und allerdings stand dort noch der alte Herr van Romelaer mit seinen beiden militärischen Freunden, und neben ihm stand der Wirt des Hauses, den Romelaer etwas gerufen hatte. Möglich, daß sie ihn immer noch beobachteten; keinesfalls ließ es sich jetzt mehr vermeiden, und nach flüchtigem Anklopfen das Zimmer betretend, in dem er schon angemeldet war, stand er in der nächsten Sekunde vor Hedwig, deren Blick ihm erwartungsvoll und scheu begegnete.

»Mein wertes Fräulein – ich muß um Entschuldigung bitten...«

»Mein Herr –«

Wagner sah sich der mädchenhaft anmutigen Gestalt der jungen Frau – noch immer mit Romelaers Anwesenheit beschäftigt – so plötzlich gegenüber, daß er fast in Verwirrung kam. Er hatte das Gespräch mit einigen alltäglichen Entschuldigungen und Redensarten beginnen wollen; als aber die großen, seelenvollen Augen Hedwigs auf ihm hafteten, fühlte er das Unpassende, das Fade solcher Einführung. Ein eigenartig wehmütiges Gefühl schoß ihm dabei durchs Herz. So schön, so lieb wenigstens und so edel in ihrem ganzen Wesen, wie er die junge Fremde fand, hatte er sie sich doch nicht gedacht, und dieser Frau gegenüber fehlte ihm fast der Mut, seinen schmerzlichen und fatalen Auftrag zu erfüllen.

»Herr van Roeken?« fragte da Hedwig leise und mit niedergeschlagenen Augen. Sie wollte den Namen gar nicht aussprechen – ihre Gedanken nur hatten sich zu dem Wort gebildet, und sie erschrak regelrecht, als sie dessen Klang auf einmal hörte.

»Van Roeken? Nein!« rief Wagner rasch, der fast erschrak, als er sich verwechselt sah. »Das ist ein Mißverständnis, mein Fräulein – mein Name ist Wagner, und ich glaubte, die junge Dame, die mich Ihnen meldete, hätte Ihnen auch gesagt, wer ich bin.«

Hedwig sah ihm fest, ja fast starr in die Augen. Das war nicht van Roeken? Und daß er es nicht war! Soviel Vertrauen hatte ihr schon der erste Anblick dieser Züge eingeflößt – aber sie gehörten einem Fremden. Und wenn nun van Roeken... Eine Menge verworrener Gedanken kreuzte ihr das Hirn, und sie fand keine Worte, selbst nur die erste Begrüßung Wagners zu erwidern. Auch dieser fand sich dadurch in peinlicher Verlegenheit und mußte sich endlich fast gewaltsam zusammennehmen, um ein gleichgültiges Gespräch zu beginnen.

»Ich höre eben«, sagte er, »daß Sie einen für mich mitgebrachten Brief in meine Wohnung gesandt haben.«

»Ich bin gestern schon angekommen«, sagte Hedwig zögernd.

»Zu meinem Bedauern erfuhr ich gestern, daß Sie unwohl hier eingetroffen wären.«

»Dann hatten Sie mich schon gestern aufgesucht?«

»Wir erwarteten Sie mit der Rebecca, und das Schiff wurde uns gestern von der Reede signalisiert – wie das mit allen gerade einlaufenden Schiffen geschieht.«

»Aber darf ich Sie nicht bitten, Platz zu nehmen?«

Beide hatten das Peinliche des ersten Begegnens überwunden, und während Hedwig auf dem kleinen, im Zimmer stehenden Rohrsofa Platz nahm, ließ sich Wagner auf einem Stuhl ihr gegenüber nieder.

»Sie haben hoffentlich eine angenehme Reise gehabt?« sagte er und holte dabei tief Atem, denn es war, als ob ihm jemand die Brust zuschnüren wolle.

»Sehr lang, aber doch insofern glücklich, als wir ohne Unfall hier eingetroffen sind«, erwiderte Hedwig, die es ihm dankte, ihr noch mehr Zeit zu lassen, sich zu sammeln. »Der Kapitän war sehr nachsichtig und gut mit uns.«

»Und mein alter Freund Scharner befindet sich wohl? Ich freue mich sehr darauf, ihn wieder einmal begrüßen zu können.«

»Körperlich vortrefflich. Wollen Sie – wieder nach Deutschland hinüber?«

»Unser Geschäft bringt es mit sich, daß einer der Kompagnons von Zeit zu Zeit eine Reise nach Europa macht, um teils hier gefragte Waren einzukaufen, teils Bestellungen aufzugeben, die sich nun einmal nicht gut brieflich abmachen lassen.«

Hedwig schwieg, und auch Wagner fand nicht gleich einen Punkt wieder, an dem er anknüpfen konnte. Und so sanft, so freundlich, so geduldig saß ihm das anmutige Geschöpf gegenüber, so vertrauensvoll erwartete sie die Botschaft des Mannes, dem sie ihr ganzes Leben anvertrauen wollte. Sie hatte ihn selbst erwartet, und jetzt sollte er der Fremden mit dürren, kalten Worten sagen, daß Herr van Roeken inzwischen schon seit längerer Zeit verheiratet sei; sollte ihr eine Summe zur Verfügung stellen, damit sie, wenn sie wolle, nach Europa zurückzukehren oder auch hierbleiben könne, um das Geld an Ort und Stelle zu verbrauchen, ganz wie es ihr gefiele. Nein, das ging nicht, das war zuviel verlangt. Wie kam auch van Roeken dazu, von ihm gerade zu fordern, eine so peinliche Situation aufzudecken und mit durchzustehen? Das konnte und wollte er schriftlich regeln, und dann brauchte er der bedauernswerten jungen Dame auch gar nicht wieder zu begegnen. War ihm doch nichts schrecklicher auf der Welt als Frauentränen.

»Java«, sagte Hedwig endlich, »scheint ein so schönes, herrliches Land zu sein, daß man den kalten Norden wohl darüber vergessen könnte, wenn es eben nicht die Heimat wäre.«

»Sie sind ungern von Deutschland fortgegangen?«

»Wer verläßt das Vaterland gern?« sagte Hedwig. »Schon früher war es mir immer ein recht schmerzliches Gefühl, wenn ich Auswanderer sah, die, durch die Verhältnisse oder Not gezwungen, eine fremde Welt aufsuchen mußten. Ich glaubte damals freilich nicht, daß ich selber einmal mit zu diesen Auswanderern gehören würde.«

»Aber dazu dürfen Sie sich doch wirklich nicht rechnen«, erwiderte Wagner, der nicht recht wußte, was er darauf antworten sollte. »Sie – sind doch nicht gezwungen, in dem fremden Land zu bleiben; die Rückkehr steht Ihnen jeden Augenblick frei, wenn Ihr Gefühl Sie hier nicht halten sollte.«

»Herr Scharner hat Ihnen doch geschrieben«, sagte Hedwig bestürzt, »daß ich...«

»Jawohl, mein bestes Fräulein, alles«, beruhigte sie Wagner, der nicht ohne Bangen sah, wie fest vertraut sich Hedwig schon mit dem Gedanken gemacht hatte, in Batavia ihre neue Heimat zu finden. Und wie anders hätte er es auch erwarten können, da sie ja nur mit dieser Aussicht und in diesem Glauben Deutschland verlassen hatte. »Er hat mir alles geschrieben«, setzte er hinzu, »und – wenn van Roeken sich auch damals ohne mein Wissen in dieser delikaten Angelegenheit nach Deutschland und an meinen alten Freund Scharner gewandt hat, so versteht es sich wohl von selbst, daß ich trotzdem darüber wachen werde, daß jede Pflicht gegen Sie, mein liebes Fräulein, erfüllt wird, wie – wie sich auch alles noch gestalten möge.«

»Herr Scharner hat mir viel von Ihnen erzählt«, sagte Hedwig leise, »viel Liebes und Gutes. Er hängt noch sehr an Ihnen, und – gerade weil er so volles Vertrauen in Ihre Redlichkeit setzte...«

»Er ist mir immer ein lieber, väterlicher Freund gewesen«, versicherte Wagner, der sich bei diesem Lob nicht ganz wohl fühlte, »aber ich fürchte, daß er – daß er manchmal meine Eigenschaften überschätzt hat.«

»Es war jedenfalls sehr freundlich von Ihnen«, sagte Hedwig herzlich, »daß Sie mich zuerst hier in dem fremden Land begrüßt haben, das soll mir eine gute Vorbedeutung sein. Sie mögen mir auch glauben, werter Herr Wagner, daß Ihre Gegenwart mir neue und frische Zuversicht gegeben hat. Ich war recht niedergedrückt, als ich das Land betrat; so richtig uneins mit mir selber, und noch an diesem Morgen fühlte ich mich einsam und verlassen wie kaum je zuvor. Das ist besser jetzt – viel besser, und ich kann nun wohl sagen, daß ich der nächsten Zukunft fest und vertrauensvoll entgegengehen stehe ich ja doch auch hier in Gottes Hand, gerade wie daheim.«

»Halten Sie den Glauben fest, liebes Fräulein«, rief Wagner bewegt, von seinem Stuhl aufspringend und ihr die Hand reichend, »halten Sie ihn fest und vertrauen Sie auf Gott. Manches erscheint uns armen Sterblichen hier oft als ein Unglück, als ein neuer Schlag des Schicksals, während es uns geradewegs doch nur einem späteren Glück, späterer Zufriedenheit entgegenführt. Aber Vertrauen müssen wir haben, Vertrauen und Zuversicht, und alles kann und wird dann gutgehen. Wie sich aber auch alles hier für Sie gestalten möge, betrachten Sie mich als Ihren wahren und treuen Freund, der Ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen wird. Tun Sie keinen Schritt, ohne ihn vorher mit mir besprochen zu haben, ich kenne die Verhältnisse hier genau und meine es gut mit Ihnen.«

»Ich danke Ihnen für diese Teilnahme, Herr Wagner«, sagte Hedwig gerührt, durch die Worte aber auch – sie wußte eigentlich selber nicht recht, warum –, etwas beunruhigt, »und – wann glauben Sie, daß ich Herrn van Roeken sehen werde?«

»Van Roeken?« sagte Wagner, der nicht imstande gewesen wäre, ihr gerade jetzt und in diesem Augenblick die kritische Situation aufzudecken, in die sie seines Freundes taktloses und leichtfertiges Benehmen gebracht hatte. »Morgen vielleicht oder – in den nächsten Tagen. Er hat einen kleinen Ausflug gemacht, von dem er aber in allernächster Zeit zurückkehren muß. Gedulden Sie sich nur noch ein ganz klein wenig, und wenn .Sie inzwischen irgendeinen Wunsch haben, den ich zu erfüllen imstande bin, so bitte ich Sie recht freundlich, ihn mich unverzüglich wissen zu lassen. Sie sind doch hier gut aufgehoben?«

»Vortrefflich und über meine Erwartung«, sagte Hedwig schüchtern. »Es ist nur fast alles zu großartig, zu reich. Doch sind die Wirtsleute freundlich und gefällig, wo ich mit ihnen in Berührung komme, und für die – und ich gefinde mich wohl hier«, brach sie plötzlich ab.

»Dann erlauben Sie mir, daß ich Sie jetzt verlasse«, sagte Wagner, seinen Hut ergreifend, denn das Gespräch fing an, ihm drückend zu werden. Er konnte diesem Mädchen gegenüber nicht länger lügen und hatte auch nicht den Mut, ihr frei und unverhohlen die Wahrheit zu sagen. Die Nachricht, daß der Mann, der um ihre Hand geworben hatte, inzwischen schon verheiratet sei, mußte sie ohne Zeugen erhalten, damit ihr jede Beschämung in Gegenwart anderer Menschen erspart blieb. Das war die geringste Rücksicht, die sie erwarten konnte. Wußte sie das erst, hatte sie den ersten Schmerz über diese Zurücksetzung, das erste Gefühl gekränkten Stolzes überwunden, dann erst galt es, mit ihr zusammen den nächsten Schritt zu beraten – ob sie nach Deutschland zurückkehren oder hier im Lande bleiben wolle, vielleicht bei irgendeiner Familie als Gouvernante. Jedenfalls mußte ihr die Wahl darin vollkommen frei gelassen, ihr Wille durfte in keiner Weise beschränkt und eingeengt werden.

»Aber der Brief, den ich für Sie absandte?« fragte Hedwig.

»Jedenfalls begegne ich dem Boten, den Sie abschickten«, sagte Wagner, »und nach der Beschreibung ist es eine Deutsche, die Sie mitbrachten und die ich leicht erkennen werde. Bringt sie den Brief zurück, nehm' ich ihn an mich, wenn nicht, finde ich ihn bei mir zu Haus. Vielleicht hat mir auch Freund Scharner darin noch weiteres aufgetragen, das wir dann später besprechen können.«

»Also auf Wiedersehen!« sagte Hedwig, ihm freundlich die Hand reichend.

»Auf Wiedersehen!« sagte Wagner, und wie eine Zentnerlast fiel es ihm von der Brust, als er das Zimmer hinter sich hatte und wieder seinem Wagen zueilte.


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