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Herr Nitschke hatte alle seine Geschäfte in der Stadt besorgt und war dann mit den notwendigsten und heute noch zu beendenden Schriftstücken nach Hause gefahren, um seinen Prinzipal Wagner dort zu erwarten. Das Mittagessen harrte ebenfalls auf diesen, und Nitschke schaute sehnsüchtig nach dem Bendi aus. Wußte er doch nicht allein, wie viel sie noch zu tun hatten, sondern war er auch sehr hungrig geworden; dennoch scheute er sich, schon vorher zu essen. Mit Nitschke war übrigens in der kurzen Zeit schon eine große Veränderung, und sehr zu seinem Vorteil, vorgegangen. Die sonst so eingefallenen bleichen Wangen hatten sich gehoben und auch etwas gerötet. Sein Auge schien freier und lebendiger, und der äußere Mensch, was Kleidung und Frisur betraf, zeigte eine entschiedene Besserung. Seine Wäsche war, was früher nicht immer zutraf, untadelhaft sauber, sein ganzer Anzug eben so reinlich und unzerknittert, und der ganze Mensch hatte etwas Festes und Bestimmtes in seinem Auftreten bekommen. So stand er vor dem Portico, ungeduldig die Straße hinaufsehend, ob nicht einer der zahlreichen vorbeifahrenden Bendis endlich hier hereinlenken wolle. Nitschke begriff auch gar nicht, was in aller Welt gerade heute den pünktlichsten aller Geschäftsleute abgehalten haben könne, zur rechten Zeit nach Hause zurückzukehren. Jetzt endlich bog ein Bendi ein – aber es standen zwei Fackelträger hinten auf dem Tritt, und Wagner hatte doch nur Tojiang mitgenommen. Nichtsdestoweniger lenkte das Fuhrwerk tatsächlich in den breiten Gartenweg ein; als Nitschke ihm aber entgegenging, um an dem üblichen Halteplatz den Prinzipal zu empfangen, rief ihn eine fröhliche, nur zu gut bekannte Stimme laut und lachend an:
»Hallo, Nitschke! Hol's der Teufel, wie ehrbar der durchtriebenste aller Halunken und das liederlichste Menschenkind Javas – einen ausgenommen – heut abend aussieht. Schneidet er nicht ein Gesicht, als ob er eben zur Beichte gewesen wäre und keine Absolution erhalten hätte, wie ein zweiter Tannhäuser! Nitschke, alter Junge, wie geht's?« Und mit diesen Worten sprang Horbach mit einem Satz aus dem Wagen und auf den nicht gerade angenehm überraschten Nitschke zu. Sosehr dieser nämlich auch früher Horbachs Gesellschaft gesucht hatte, sosehr schämte er sich jetzt ihrer und fürchtete sogar, daß Wagner glauben könne, er wolle wieder in das alte Laster des Trinkens zurückfallen, wenn er ihn hier mit dem verrufensten Trinker der Insel antraf. Das half aber alles nichts, denn aus Erfahrung wußte er nur zu gut, daß Horbach immer seinen eigenen Weg ging und sich nun einmal nicht abschütteln ließ. Ja, im Gegenteil, wenn er merkte, daß man ihn los sein wollte, machte er sich nur erst recht ein Vergnügen daraus, die Leute zu ärgern. Das Beste war deshalb, ihn seinen Weg ruhig gehen zu lassen; er blieb doch, solange er Lust hatte.
»Guten Abend, Horbach«, sagte Nitschke, während ihm diese Gedanken durch den Sinn zuckten, »wir haben uns lange nicht gesehen. Ich weiß aber nicht, trägt das Licht der Fackeln die Schuld oder ist es wirklich so, du siehst recht bleich und elend aus. Bist du krank gewesen?«
»Ein bißchen Fieber! Bah, nicht so viel hat es mich heruntergedrückt, wenn mir auch das Fleisch ein wenig von den Knochen gefallen ist«, lachte Horbach. »Wir beide haben eine zähe Natur, nicht wahr, mein Freund? Und was wir zwei schon zusammen ausgehalten haben, machen uns keine anderen zwei Menschen auf Java nach, darauf kannst du dich verlassen.«
»Aber was führt dich heut abend her?«
»Möchtest mich wohl schon wieder forthaben?« lachte Horbach.
»Den Vorwurf hast du mir sonst nicht gemacht.«
»Nein, denn früher holtest du mich ab, und ich brachte dich dafür nach Haus. Hahahaha; weißt du noch, wie uns vor van Roekens Garten das Rad brach und wir dort der Gesellschaft in die Bowle fielen? Ja so, du warst damals unzurechnungsfähig und wirst dich nicht mehr auf viel aus jener Zeit besinnen. Aber ich schwatze und schwatze und vergesse ganz, weshalb ich hergekommen bin. Komm mit, Nitschke, wir wollen heut einen fidelen Abend feiern. Denke dir, mein Alter ist gestorben, und ich gehe mit dem ersten Schiff heim, um die Erbschaft anzutreten. Auf diese Nachricht haben wir noch nicht einmal zusammen getrunken.«
»Auf deines Vaters Tod?« sagte Nitschke ruhig. »Da ließe sich doch wohl auch ein anderer Grund finden, einen vergnügten Abend zu feiern.«
»Der ist auch gefunden!« rief Horbach, »heute ist ein frischer Militärtransport von Amsterdam angelangt – unglückselige Menschenkinder, die sich zu diesem Dienst verkauft haben und sich die Sache wunder wie phantastisch und bunt ausmalen. Schön enttäuscht werden sie sich finden, wenn sie das Leben nur erst einmal acht Tage gekostet haben; aber es kann jetzt nichts helfen. Mit dem angenommenen Handgeld sind sie dem bösen Feind verfallen, und wenn sie auch nicht gerade ausdienen, müssen sie doch wenigstens so lange in Reih und Glied stehen, bis sie irgendwo an der Küste von Sumatra oder Borneo in den weichen Uferschlamm eingegraben und zur Ruhe gebracht werden.«
»Und wer ist damit angekommen?«
»Ein Schulkamerad von mir und Jugendfreund, den der Teufel geplagt hat, holländische Militärdienste zu nehmen«, sagte Horbach. »Seine Ankunft müssen wir aber jedenfalls feiern, denn wer weiß, ob er nur morgen noch in Batavia bleibt. Wir wollen deshalb heut abend zur Kaserne hinausfahren und ihn wenigstens für die paar Stunden vergessen machen, daß er javanischer Soldat ist.«
»Es tut mir leid, lieber Horbach«, sagte Nitschke ruhig, »aber ich kann nicht mit. Du weißt, daß die Mail in den nächsten Tagen abgeht, und drinnen liegt ein solches Paket zu beantwortender Briefe, daß wir schwerlich heut abend vor elf oder zwölf Uhr damit fertig werden.«
»Mit euren langweiligen Briefen!« rief Horbach ungeduldig. »Als ob ihr nicht Zeit genug dazu am hellen Tage hättet, um auch die kühlen Abende noch damit zu verderben.«
»Wohnst du denn jetzt nicht bei van Roekens?«
»Gewiß.«
»Und kannst da die Nächte ausbleiben?«
»Ich wohne im Hintergebäude, an dem sich eine besondere Treppe befindet«, lachte Horbach; »das Haus hat überhaupt verschiedene Aus- und Eingänge, und ich habe dort schon köstliche Entdeckungen gemacht. Aber davon ein andermal, jetzt mach keine Umstände und komm mit in den Bendi, oder mußt du deinen Prinzipal erst um Urlaub bitten? Junge, Junge, daß du das frische, freie Leben gegen die alte Tretmühle eintauschen konntest!«
»Ich befinde mich besser so, Horbach – aber Herr Wagner ist noch nicht zu Haus, ich erwarte ihn jedoch jeden Augenblick, ja wir haben noch nicht einmal diniert – du kennst doch ein Junggesellenleben?«
»Noch nicht einmal gegessen? Das hol der Teufel! Aber wir werden da draußen wohl schon etwas bekommen. Spring herauf und laß Wagner seine langweiligen Briefe allein schreiben.«
»Es geht nicht«, sagte Nitschke ernst, »ich habe mir fest vorgenommen, ein anderer Mensch zu werden, und ich will es halten.«
»Du bist ein Narr«, lachte Horbach, »und quälst dich nur ganz umsonst wieder einmal drei oder vier Wochen mit solchen verunglückenden Versuchen ab. Daß du's nicht mehr durchhalten kannst, hast du schon oft genug gezeigt.«
»Und doch will ich's noch einmal versuchen«, sagte Nitschke bestimmt. »Außerdem befinde ich mich noch immer unter der Anklage dieses nichtswürdigen Heffken, der gern den Verdacht des Kasseneinbruchs auf mich gelenkt hätte. Herr Wagner hat in der Zeit für mich gebürgt, damit ich nicht zu sitzen brauchte, und ich müßte mehr als schlecht sein, wenn ich jetzt sein Vertrauen täuschen könnte.«
»Zum Henker, ja, ich habe davon gehört!« rief Horbach, Nitschkes Arm ergreifend; »aber weißt du wohl, daß ich dem Schuft noch auf eine ganz andere Spur gekommen bin? Die tolle Nacht im chinesischen Viertel hat mir nur alles wieder aus dem Gedächtnis gewaschen, und ich muß wirklich zusehen, ob ich mich von neuem darauf besinnen kann.«
»Und könnte dir Tojiang dabei nicht helfen?«
»Der Schuft«, sagte Horbach, »steckt mit dem andern unter einer Decke, und einer verrät den andern nicht gern. Ich habe aber volle Ursache, zu glauben, daß er mich nur immer als Opfer seinem eigenen Gesindel in die Hände geführt und den Raub, um was sie mich also betrogen, nachher mit ihnen geteilt hat. Darum jagte ich ihn zum Teufel. Wenn Tojiang wollte, könnte er allerdings genug erzählen, denn ich bin fest überzeugt, er ist in all jene Schurkereien eingeweiht, aber auch eben so vorsichtig wie klug, und er verplaudert sich nicht so leicht. Das einzige bliebe, wenn er sich einmal mit seinen Freunden entzweit; das wäre dann der richtige Moment, alles aus ihm herauszubekommen, was er weiß.«
»Er soll Herrn Wagner und van Roeken damals sehr vorsichtig durch das chinesische Viertel geführt haben, als sie dich suchten. Wie es schien, vermied er dabei die Stellen, wo seine intimen Freunde wohnen.«
»Wahrscheinlich, weil sich dieser durchtriebenste aller Halunken, der Klapa, dort aufhielt. Aber Pest und Tod, Nitschke – jetzt, wie ein dunkler Traum, fällt mir wieder ein, daß ich mitten in meinem wildesten Rausch den Lumpen, den Heffken, in jener Mörderhöhle gesehen habe.«
»Heffken?« wiederholte Nitschke, ungläubig den Kopf schüttelnd, »was sollte der dort suchen. Dorthin geht er nicht auf die Mädchenjagd.«
»Nein, und das einzig Mögliche ist, daß er gerade diesen Klapa dort getroffen hat. Die beiden haben auch irgend etwas zusammen, was das Licht scheut, darauf wollte ich meinen Hals verwerten, und ich erinnere mich auch, den Javaner später wieder gesehen zu haben.«
»Und wo mag der Bursche jetzt stecken?« sagte Nitschke, dessen ganzes Sinnen und Trachten darauf ging, irgendeinen Hinweis auf Heffken zu bekommen. Zweifelte er doch selber nicht daran, daß der Buchhalter keine reine Weste hatte.
»Wo mag er stecken«, sagte achselzuckend Horbach, »in jenen Höhlen wäre er nicht aufzufinden, und wenn man einen Monat nach ihm suchen wollte. Die meisten dieser Spelunken haben Verbindungstüren, und wenn man selbst in der einen nachsuchen ließe, könnte der Schuft schon durch zwei oder drei andere hindurch seinen sicheren Weg zur Flucht genommen haben. Heffken weiß auch recht gut, wie sicher sich diese Burschen aus dem Weg zu halten wissen; er hätte sich sonst nicht mit ihnen eingelassen. Nur an einem Zipfel hab' ich ihn fest, und ehe ich gehe, will ich deswegen noch meinen Spaß mit ihm treiben. Er soll wenigstens an seinen Freund Horbach denken.«
»Und was ist das?«
»Warte nur noch, ich sag' es dir später. Aber jetzt zum Teufel mit dem Burschen, hol deinen Hut und komm mit, denn die Zeit...«
Ein Bendi fuhr dicht an ihnen vorbei in den Hof hinein – es war Wagners Fuhrwerk, und der hintendrauf stehende Tojiang hob die Fackel, um die beiden nebeneinanderstehenden Männer zu beleuchten. Im nächsten Moment war er vorüber und hielt vor dem Haus.
»Ich kann wirklich nicht mitgehen«, sagte Nitschke, indem er Horbachs Hand ergriff und drückte, »laß mich jetzt fort. Ehe du Java verläßt, sehen wir uns doch jedenfalls noch einmal?«
»Das gewiß!« rief der junge Wüstling; »aber du bist ein nichtswürdiger eingefleischter Philister geworden, Nitschke, soviel kann ich dir sagen, ein trockener, erbärmlicher Geschäftsmensch, mit dem kein vernünftiges Wort mehr zu sprechen ist. Und was für einen fidelen Abend hätten wir feiern können! Junge, ich habe die ganze Tasche voll Silber und bezahle einen ganzen Rongging nur für unser eigenes Pläsier.«
»Und wenn du für jeden einzelnen einen Rongging hättest, ich komme nicht. Laß mich; ich habe mir einmal fest vorgenommen, mein liederliches Leben aufzugeben, und diesmal halt' ich's. Gute Nacht!«
»Gute Nacht dann, du langweiliger Patron«, lachte Horbach, »und jetzt vorwärts zur Kaserne, so rasch die Pferde laufen können.«