Friedrich Gerstäcker
Unter dem Äquator
Friedrich Gerstäcker

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9. Wagner erhält Post aus Deutschland. – Eine Abendgesellschaft

Die Mail – oder das Postdampfboot – hatte nachmittags auf der Reede von Batavia Anker geworfen, und wie ein Lauffeuer schoß die Nachricht durch alle Geschäftslokale der regen Stadt.

Die Ankunft dieses damals noch monatlich eintreffenden Bootes war auch immer ein Ereignis für die ganze Handelswelt, die nur dadurch mit den übrigen Erdteilen in Verbindung stand; bildeten doch die ankommenden Briefe, Bestellungen und Kurse die Pulsschläge ihres Lebens. Diesmal hatte man aber mehr als je der Ankunft des erwarteten Schiffes mit peinlicher Ungeduld entgegengesehen, da die Mail vom vorigen Monat bei Aden im Roten Meer verunglückt war und man schon fürchtete, daß die ganze Korrespondenz vernichtet sein könne. Wie aber kein Menschenleben dabei verlorengegangen war, so hatte man auch, mit vieler Mühe und Gefahr freilich, die Post gerettet, dadurch aber den ganzen Monat versäumt, und Briefe und Pakete wie auch Passagiere konnten nun nicht eher als mit der nächsten, vier Wochen später dort anlegenden Mail befördert werden. Die war jetzt eingetroffen, und überall in den Geschäftslokalen der Altstadt herrschte reges Leben, um die Korrespondenz vor allen Dingen zu sortieren und erst einmal die Privatbriefe zu lesen – das, was das Geschäft betraf, mußte schon bis zum nächsten Morgen warten.

Ach, es ist schon ein erfreuliches Gefühl, Briefe – Kunde aus der Heimat – zu bekommen. Das Herz klopft rascher und freudiger, wenn wir nun schon die Couverts erbrechen, die eine liebe Hand für uns verschlossen hat, und dann die teuren Züge schauen dürfen, die uns verkünden, daß noch alles wohl und froh daheim ist und sie noch alle herzlich an uns denken. Und plaudern sie denn nicht von diesem und jenem? Stadtklatsch, wie wir's zu Hause nennen, und in der Fremde doch so gerne lesen. All die Namen, all die Orte, die darin genannt werden, ob sie uns viel, ob wenig interessieren mögen, sind lauter Punkte, an denen unsere Erinnerung wieder frisch anknüpfen kann, und die erwähnten Gestalten, während sie vor unserer Seele lebendig werden, zaubern mit einem Schlag das ganze liebe Bild der Heimat aufs neue und mit lebendigen Farben um uns auf.

Die Herren des Geschäfts haben in dem Augenblick auch alles andere vergessen und sitzen mit umhergestreuten Couverts an ihrem Schreibtisch, um die eigenen Briefe zu überfliegen. Die armen Kommis aber, mit keiner eigenen Zeit in diesem Augenblick, stecken sie in die Tasche und begnügen sich damit, von Zeit zu Zeit danach zu tasten und die Adressen wenigstens zu betrachten. Bald schlägt ja auch für sie die Stunde, wo das Geschäft geschlossen wird, und schon im Bendi, den ein rüstiges Pony rasch den Kali besaar entlang führt, studieren sie dann die eigenen Briefe. Was kümmert sie die wundervolle Landschaft, die sich rechts und links von ihnen ausdehnt; nicht einen Blick werfen sie auf die wehenden, raschelnden Kokospalmen, auf das dunkle hängende Laub der Waringhis, auf den Trupp wunderlicher chinesischer Menschenkinder, die mit ihren tragbaren Waren die Straßen beleben. Das alles sahen sie gestern, sehen sie morgen, gerade so wie heute, und ihr Auge hängt nur an dem Blatt Papier, das ihnen Kunde von der Heimat bringt.

Van Roeken war heute etwas länger als gewöhnlich im Geschäft geblieben, Wagner dagegen, einer lieben Einladung folgend, hatte sich in seinen Bendi geworfen und fuhr nach Haus, um erst noch Toilette zu machen. So ungeniert sich nämlich der Batavier auch den ganzen Morgen daheim oder im Geschäft gehenläßt, so streng wird darauf gehalten, beim Diner abends in voller Toilette zu erscheinen, bei der – mag das Thermometer eine Temperatur zeigen, wie es will – der schwarze Frack unerläßlich scheint. Jeder schimpft wohl darüber und wünscht, daß auch bei diesen Gelegenheiten – denn gerade beim Essen sollte der Mensch eine bequeme Kleidung tragen – die leichte und lichte Tracht eingeführt würde, die eigentlich zu den Tropen gehört, aber – die Mode schwingt ihr eisernes Zepter, die Etikette ihre Geißel, und der schwarze, enge, heiße Frack triumphiert auch unter dem Äquator; der hohe steife Zylinderhut schaut höhnisch und stolz auf seinen in die Ecke geschobenen schüchternen – und doch so viel nützlicheren und gesünderen – Verwandten, den Strohhut, nieder. Bessere einmal jemand die Welt.

Bei Romelaers war Empfangsabend, und eine Menge geputzter Menschen wogte durch die lichtstrahlenden Räume oder lehnte plaudernd in behaglichen Fauteuils des luftigen Gebäudes. Gewöhnlich bestehen die Wohnungen der Europäer auf Java, wie die der Eingeborenen, nur aus einem unteren Stock, dessen mittlere Front hoch und geräumig, vorn mit einer von Säulen getragenen Veranda versehen, dem Luftzug freien Durchgang läßt. An den Seiten liegen die Wohn- und Schlafzimmer, wenn nicht das Haus eine erste Etage hat, und in getrennten Seitengebäuden die Küche, die Wohnungen der Dienerschaft und die Ställe. Wie schon erwähnt, sucht der Batavier einen Stolz darin, seine Räume abends zu Tageshelle zu erleuchten, und Astrallampen hängen deshalb überall von der Decke, stehen auf den Tischen, sind an den Wänden befestigt und strahlen ihr Licht in zahlreichen goldberahmten Spiegeln wider.

Romelaers Wohnung war eine der prächtigsten in ganz Batavia und im Innern mit überall aufgestellten kostbaren Vasen und Büsten, mit seltenen japanischen und chinesischen Schnitzereien fast überladen. Romelaer war aber auch einer der reichsten und glücklichsten Spekulanten in ganz Holländisch-Indien. Seine Schiffe befuhren alle Meere, seine Verbindungen erstreckten sich über die ganze Welt, und während er Häuser in New York und Kalkutta, in Rio de Janeiro und Kapstadt sein eigen nannte, konzentrierte er hier auf dem einen kleinen Punkt sein ganzes ungeheures Vermögen, ohne eigentlich größeren Aufwand zu treiben als irgendein anderer der reichen Handelsherren Batavias, ja vielleicht weniger als mancher in seiner Nachbarschaft, der weit geringere Mittel hatte, den »Rabob« zu spielen, und sich doch so wohl und glücklich in solcher Rolle fühlte.

Romelaer hatte zwei Töchter und einen Sohn; der Sohn war gegenwärtig in Amsterdam, die älteste Tochter vor etwa drei Monaten verheiratet worden und die Jüngste noch bei den Eltern. Diese schlenderte jetzt plaudernd, bald Arm in Arm mit einer ihrer Freundinnen, bald die Huldigungen eines der jungen, bei ihnen eingeführten Herren als einen schuldigen Tribut entgegennehmend, durch die verschiedenen Säle, nur manchmal nach dem Geräusch eines außen fahrenden Wagens horchend. Draußen vor dem Gartentor hielt wieder ein Bendi, und Marie begrüßte lächelnd und ihm die Hand entgegenstreckend den jungen Wagner, der eben durch den Garten herankam und die breiten Marmorstufen hinaufsprang, die zu der erleuchteten Terrasse führten.

»Eigentlich sollte ich böse auf Sie sein«, sagte sie, dabei mit dem Finger drohend, »denn Sie wissen, daß Sie versprochen hatten, früh zu kommen. So lange haben wir jetzt mit der Musik auf Sie warten müssen.«

»Entschuldigen Sie, mein liebes Fräulein«, sagte Wagner bittend, »aber ich habe einen so unangenehmen Brief heute aus Deutschland bekommen, daß ich beinahe mein Versprechen gar nicht gehalten hätte. Fürchtete ich doch, daß meine trübe Laune Ihnen die Lust verderben könnte.«

»He? Schlechte Nachrichten?« sagte der alte Herr Romelaer, der hinter ihm herangekommen war und ihm die Hand auf die Schulter legte. »Ist der kleinen Wasserhexe, der neuen Brigg, ein Unglück zugestoßen?«

»Es betrifft nicht das Geschäft«, sagte Wagner, die dargebotene Hand herzlich schüttelnd, »es sind Familien- – und nicht einmal Familien-Angelegenheiten, fremde Menschen, die mich eigentlich gar nichts angehen und doch...«

»Ihnen das Leben verbittern wollen?« lachte der alte Herr Romelaer, indem er seinen Arm in den des jungen Mannes legte und ihn in den Saal hineinführte. »Lassen Sie die zum Henker gehen, Freund, und schlagen Sie sich das alles aus dem Kopf. Wenn Sie erst einmal älter werden, setzen Sie sich überhaupt über solche Dinge hinweg. Apropos, spielen Sie nachher ein Lombertje oder ein Whist mit?«

»Nein, Papa, waarachtig niet!« rief aber Marie, die ihnen gefolgt war. »Herr Wagner ist fest für unser Quartett engagiert und kann sich da nicht für euer Lombertje losmachen. Den Platz füllt auch ein anderer aus, aber am Piano können wir nicht jeden brauchen.«

»Nun, nun, ich habe nicht gewußt, daß die Sache so wichtig ist«, lachte der alte Herr gutmütig, »schlepp ihn mir aber nur nicht fort, ehe du ihm wenigstens eine Tasse Tee oder was Kräftigeres zur Stärkung gegeben hast, sonst fällt er dir am Ende noch mitten im Quartett um und in irgendeine schwierige Passage hinein. Hehehehe, Heffken, was meinen Sie, wenn wir beide einmal die erste Violine spielen müßten?«

»Hm, Herr van Romelaer«, meinte der kleine Mann, »die spielen Sie hier in Batavia schon eine geraume Weile – sehr zum Ärger vielleicht des Hauptorchesters, aber zur großen Befriedigung des Publikums, während ich selber höchstens einen Platz an der großen Trommel beanspruche, um dann und wann einmal einen Hieb hinein zu tun.«

»Und das tun Sie auch, Heffken, das tun Sie wahrhaftig«, lachte van Romelaer, »und tüchtige Hiebe dazu, nach Herzenslust –«

»Aber immer doch nur im Takt – wie sie vorgeschrieben sind«, sagte achselzuckend der Verwachsene, indem er einen raschen und eben nicht freundlichen Blick zu Wagner hinüberschickte. Der sah das aber gar nicht; er sprach mit Marie und hatte dabei Herrn Heffkens Gegenwart, wenn überhaupt bemerkt, schon lange wieder vergessen. Marie nämlich, ohne sich weiter um die anderen Herren zu kümmern, hing sich an seinen Arm, daß er sie zum Pianoforte führe, und während dort ein kleiner musikalischer Zirkel Platz nahm, um dem versprochenen Quartett zu lauschen, arrangierten sich an der anderen Seite des Saales in einem kleinen, besonders dazu bestimmten Raum die Spieltische, Zigarren wurden angeboten, und die Karten nahmen bald die Aufmerksamkeit der Spieler vollständig und allein in Anspruch. Während die malaiischen Diener Erfrischungen herumreichten, begann das Quartett eine Komposition von Mozart für Piano, Violoncello und zwei Violinen. Die Herren und Damen aber, die kaum den ersten Takten aufmerksam gelauscht hatten, begannen bald eine sehr lebhaft geführte und interessante Konversation, die dann und wann auch noch durch das laute Lachen aus dem Spielsalon übertönt wurde. Auf die Musik achtete fast niemand mehr, und nur die Malaien kauerten andächtig an der Tür und lauschten regungslos den wunderbaren Tönen.

Es war ein eigentümlich lebendiges Bild, diese Soiree in den Tropen, und das südliche Kreuz funkelte hell und klar vom Himmel nieder durch die Federkronen der Kokospalmen wie durch die duftigen Blüten der Gewürzbäume. Da plötzlich, mit einem Schlag, schwieg die Musik – mitten im Takt hörten die Spieler auf, mitten in der interessantesten Anekdote schwiegen die Erzählenden, mitten im entscheidenden Spiel hielten die Männer am L'Hombretisch inne, und der schon gehobene Trumpf schlug nicht nieder, den letzten Stich zu nehmen –, aber ein merkwürdig unheimliches Leben kam in die sonst leblosen Gegenstände: die Lichter flackerten, die von der Decke niederhängenden Astrallampen schwangen langsam hin und her, und die Verbindungsbalken des Hauses krachten und ächzten.

Aber dieses Schwingen dauerte nicht lange, und mit einem einzigen gellenden Schrei fuhren plötzlich die Damen von ihren Sitzen empor – eine unterirdische furchtbare Macht erschütterte den Boden, und der zweite Stoß brachte den jetzt entsetzt Emporfahrenden die Gewißheit eines Erdbebens. Alle Regeln der Ordnung und Etikette waren in dem Augenblick gelöst, Tassen wurden um- und zu Boden geworfen, Teller klirrten auf die Marmorplatten nieder und spritzten ihre Scherben umher, und Herren und Damen, jede Frage um einen gerechtfertigten Vortritt vergessend, stürzten dem Ausgang zu, die Stufen hinab und in den Garten hinaus, um dort wenigstens in Sicherheit das Zusammenbrechen des Hauses zu erwarten. Die Malaien indessen, deren Familien ebenfalls die niedrigen Bambushütten verlassen hatten, begannen ein furchtbares Geheul und Geschrei, in dem das Wort »Lenu«In meinen »Reisen« habe ich die Sage erwähnt, die sich an dieses Lenu knüpft, und für alle Leser, denen sie noch fremd sein sollte, will ich sie hier wiederholen:

»Im Innern der Erde (Javas) wohnt ein ungeheures Tier, das sie Lenu oder Leni nennen und der Gestalt nach für einen gewaltigen Büffel halten. Die Welt wird einmal zerstört werden, aber nicht an einem Jüngsten Tag, wie die Christen glauben, der dann Gerechte und Ungerechte zusammen trifft, sondern erst, wenn alle den Erdboden bewohnenden Menschen gestorben sind, die Welt also vollkommen menschenleer ist. Dann schüttelt sich das Ungeheuer und reckt sich in seiner Höhle da unten, und die Erde muß bersten und stürzt donnernd ineinander.

Auch die geringeren Erschütterungen oder Erdbeben stehen mit diesem Tier in Verbindung, und zwar auf folgende Weise: Es gibt vor allem zweierlei Ameisen auf der Insel, die weißen, die allem verderblich sind, was sie nur erreichen können, und die schwarzen. Die letzteren erweisen sich aber nicht allein als vollkommen harmlos, sondern scheinen auch noch grimmige Feinde der weißen zu sein, die sie vertreiben, wo sie sich nur immer zeigen mögen – vorausgesetzt, daß sie in gehöriger Stärke versammelt sind. Die Eingeborenen hüten sich auch, diese schwarzen Ameisen zu töten, und sie gelten ihnen gewissermaßen als Schutz gegen die verderblichen Wirkungen der weißen.

Das wissen aber auch die schwarzen Ameisen recht gut, und wird einmal eine von ihnen durch einen schlechten Menschen getötet, der sich nichts daraus macht, ein unschuldiges Leben zu zerstören, dann sucht sie sich zu rächen. So war sie auch hier gleich zum Lenu hinabgelaufen und hatte ihm gesagt, er könne jetzt nur immer anfangen, die Welt über den Haufen zu werfen, denn die Menschen da oben seien alle gestorben. Hätte Lenu ihr das nun gleich aufs Wort geglaubt, so wäre wahrscheinlich ein großes Unglück geschehen. Aber das Untier ist schon zu oft von solchen rachsüchtigen Ameisen angeführt worden, und um sich von der Wahrheit zu überzeugen, hob es nur erst einmal ein Haar empor, was schon diese Erschütterung hervorbrachte. Sobald die Javanen das aber oben fühlen, wissen sie gleich, was es bedeutet. Sie werfen sich dann rasch auf die Erde nieder und schreien ›Lenu! Lenu!‹ hinunter, so laut sie können. Das Tier soll nämlich ihr Rufen hören, und dann weiß es, daß sie nicht alle gestorben sind, sondern noch leben. Sobald der Lenu das aber gemerkt hat, schläft er ruhig weiter und wartet geduldig noch ein paar hundert Jahre – oder auch so lange, bis die nächste schwarze Ameise zu ihm hinunterkommt.«

häufig vorkam; sie warfen sich auf die Erde, schrien und jammerten mit allen Kräften und vermehrten dadurch nur das Unheimliche der ganzen Szene.


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