Friedrich Gerstäcker
Unter dem Äquator
Friedrich Gerstäcker

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38. Unverhoffte Begegnung

Der alte Herr war so in seine Gedanken vertieft, daß er den gegebenen Auftrag ganz vergaß. Er schritt wenigstens in dem kleinen Raum auf und wieder ab, und die Zeit verstrich dabei, ohne daß der Wirt – zugleich auch Posthalter in dem Ort – der bestellten Weisung gefolgt oder vermißt worden wäre. Schon ergrauten die letzten Sonnenstrahlen auf den nur noch matt beleuchteten Gipfeln der fernen Berge; es wurde Nacht, und Lockhaart merkte das erst, als er sich in der Dunkelheit an einer Tischecke stieß.

»Zum Henker auch!« rief er aus und blieb stehen. »Hab ich denn hier nicht die ganze Zeit auf jemand gewartet? – Jawohl – auf den Postmeister, und stockfinster ist es inzwischen geworden. He! Sapáda! Sapáda!« Niemand hörte – sein eigener Diener war ebenfalls fortgegangen, und das ganze Haus schien wie ausgestorben.

»Schöne Wirtschaft das, in diesem verwünschten Hotel Bellevue – belle vue, ja – nicht einmal eine Hand vor den Augen kann man sehen, und die ganze Dienerschaft dabei zum Teufel!«

Er verließ sein Zimmer, und die Tür ärgerlich hinter sich ins Schloß werfend, schritt er dem äußeren Portico zu, wo er weit drüben in den Bäumen einen lichten Schein erkennen und Jubeln und Lachen unterscheiden konnte. Wahrscheinlich wurde dort, wie das so oft der Fall ist, bei irgendeiner chinesischen Hochzeit ein Feuerwerk abgebrannt, und die malaiischen Diener waren hinübergesprungen, um das mit anzusehen. Herr Lockhaart wußte, daß er entweder selber hingehen mußte, um sie zu holen, oder abwarten konnte, bis das Feuerwerk vorüber war, was allerdings nie lange dauert. Er zog das letztere vor und blieb im Schatten der Veranda stehen, um den seltsam flammenden und wechselnden Lichtschein zu beobachten, der sich in den Ästen und Zweigen der dichtbelaubten Bäume brach und zu einem zitternden Farbenspiel wurde. Manchmal stieg auch eine einzelne Rakete mit zischendem Ton durch die Nacht auf, um oben in einem bunten Feuerregen auszustrahlen.

Lockhaart stand eine ganze Weile und schaute diesem Spiel zu, als seine Aufmerksamkeit von dem Feuerwerk entschieden ab- und einer Gestalt zugewandt wurde, die sich im Hof bewegte und ängstlich bemüht schien, in einige der erleuchteten Fenster hineinzusehen. Eine von drüben herüberkommende, schräg geworfene Rakete schüttete ihre Leuchtkugeln fast über den Hof aus. Unwillkürlich drehte die Gestalt den Kopf dort hinauf, zog sich aber gleich wieder scheu zurück, als sie der helle Schein daran erinnerte, daß sie sich hier einer Entdeckung aussetzte. Draußen auf der Straße wurden jetzt wieder lachende Stimmen laut. Es waren die von dem Feuerwerk zurückkehrenden Malaien. Der Fremde wandte sich dicht an der Veranda entlang dem Torweg zu, wahrscheinlich um den Platz zu verlassen, ehe die Leute kamen, als die Stimme Lockhaarts ihn wie gebannt auf der Stelle festhielt.

»Herr von Dorsek«, sagte dieser ruhig, »dürfte ich Sie bitten, einen Augenblick näher zu treten?«

Dorsek erschrak, so plötzlich in der Dunkelheit seinen Namen zu hören, denn wer konnte ihn hier kennen? – Aber er mußte auch erfahren, wem sein Geheimnis, doch nur durch die alte Magd, verraten worden war. Jedenfalls war es der Begleiter Hedwigs, und sich deshalb trotzig der Stimme zuwendend, sagte er finster: »Und wer ist es, der mich hier anruft und kennt?«

Aber er bekam keine Antwort. Lockhaart schritt langsam auf der Veranda zu seinem eigenen Zimmer zurück und überließ es dem Soldaten vollständig, ob er ihm folgen wolle oder nicht. Dorsek jedoch, die Brauen trotzig zusammengezogen, murmelte vor sich hin: »Zum Teufel auch, wer du bist, muß und will ich wissen, mein feiner Bursche, der im Dunkeln in den Verandas auf der Lauer liegt; du wärst sonst zu sehr im Vorteil gegen mich!« Und an der kleinen Mauer hinaufspringend, während er die hölzerne Einfassung überkletterte, folgte er dem Fremden in dieselbe Tür, in der er ihn hatte verschwinden sehen.

Die Stuben des Hotels gingen großenteils auf den Hof oder die der Front gegenüberliegenden Baumgruppen hinaus. Die Bezeichnung Bellevue bezog sich auch keineswegs auf die Aussicht von den Fenstern des Hotels, sondern von jenem kleinen Tempel im Garten aus, die wirklich zauberhaft schön war und die Fremden von nah und fern hierher lockte. Auch Herrn Lockhaarts Fenster ging auf den Hof hinaus, um so auf dieser Seite am Tag den Sonnenstrahlen viel weniger ausgesetzt zu sein, und die Veranda verband im inneren Hofraum ringsherum die verschiedenen Appartements miteinander. Gerade als Dorsek die Zimmertür erreichte, sah er, daß drinnen Licht angezündet wurde. Ein Herr stand, den Rücken ihm zugewandt, am Tisch. Eine Lampe brannte schon, und er war nur eben noch beschäftigt, die zweite anzuzünden.

Dorsek blieb an der offenen Tür stehen und schaute, die Mütze in der Hand, mit verschränkten Armen auf den dunklen Schatten der Gestalt. Jetzt drehte sich diese langsam zu ihm um, und während die hellen Strahlen der Lampen auf ihre nur noch in härtere Falten gelegten Züge fielen, sagte sie mit leiser, kalter Stimme: »Also in der Kleidung sollte ich den Sohn meiner armen Schwester zuerst in Indien wiedersehen? – Dahin hat es Baron von Dorsek mit all seinen hochfliegenden, kühnen Plänen, mit all seinem Trotz und Leichtsinn doch endlich gebracht, daß er Gemeiner in einem javanischen Regiment geworden ist; daß er, der sich bis jetzt nur in der Gesellschaft seiner adligen Faulenzer wohl fühlte, jetzt mit Negern und Malaien Brüderschaft schließen und dem Kalbfell mit der Muskete auf der Schulter folgen muß? Ein schönes Ende, und ich danke Gott, daß es meine arme Marianne nicht mehr erlebt hat, es hätte ihr das Herz noch ärger gebrochen als – die Nichtswürdigkeit ihres Gatten.«

»Onkel!« hauchte Dorsek und stand im ersten Augenblick überrascht, ja fast gelähmt auf der Schwelle. »Onkel Lockhaart, ich – vermutete nicht, Sie hier in diesem Haus zu treffen!«

»Und wen sonst, wenn man fragen darf?« sagte der alte Herr kalt. »Du scheinst plötzlich die Sprache verloren zu haben!«

»Nein, Onkel, das nicht«, erwiderte Dorsek mit finster zusammengezogenen Brauen, »aber ich weiß nicht, ob ich dem Mann, der sich überhaupt von mir losgesagt, der den Sohn seiner Schwester verstoßen und verlassen hat, noch Rechenschaft über meine Handlung schuldig bin. Sie haben mich einmal meinem bösen Geschick übergeben, und es hat damit begonnen, mich zum javanischen Soldaten zu machen. – Sie nehmen doch an dem weiteren Verlauf kein Interesse.«

»Es hat damit begonnen, dich zum javanischen Soldaten zu machen?« wiederholte der alte Herr, indem er hinter Dorsek die Tür ins Schloß drückte und die dunklen Gardinen über die Fenster fallen ließ. »Schöner Beginn das. Sag: es hat damit aufgehört, denn etwas Schlimmeres kann dir jetzt nicht mehr geschehen, die Galeere vielleicht ausgenommen. Aber einen schlimmen Vorwurf hast du mir in den wenigen Worten gemacht, eine Anklage, die mich dereinst vor Gottes Richterstuhl verurteilen und verdammen müßte – wenn sie wahr wäre. Nein, nicht verlassen und verstoßen hab' ich dich, Oswald, wenigstens nicht, solange du dich nicht selber aufgabst. Da aber, als ich sah, daß dir nicht mehr zu helfen sei, daß du von Stufe zu Stufe herunter-, immer weiter, immer unrettbarer dem Verderben entgegensankst, da erst, als alle Ermahnungen, alle Bitten nichts mehr fruchteten, als du alle deine Schwüre und Versprechen mißachtetest, als du selbst meineidig wurdest, an dir und einem anderen Wesen, und in feiger Furcht vor der Arbeit sogar ein Verbrechen nicht scheutest – da, Oswald, stieß ich dich von mir, und beim ewigen Gott, du brauchtest nicht noch die Uniform eines javanischen Soldaten anzuziehen, daß ich dich recht aus tiefster Seele verachten müßte!«

»Sie vertrauen zu sehr auf die Sicherheit, die Ihnen die Verwandtschaft gibt!« rief Dorsek mit kaum verbissener Wut. »Aber ich wußte es wohl, daß Ohrenbläser meinen guten Namen bei Ihnen vergiftet, daß...«

»Halt, Herr von Dorsek«, unterbrach ihn kalt der alte Mann, »ich behaupte nichts, was ich nicht beweisen kann – nichts, wofür ich nicht die Belege in Händen hielte. Aber glaubst du etwa, daß ich über deine Handlungsweise Erkundigungen eingezogen hätte, wenn ich mich nicht für dich interessierte, wenn ich nicht wissen wollte, wie der Mann sich betrug, der später einmal – mein Erbe sein sollte?«

»Ihr Erbe?« sagte Dorsek höhnisch. »Sie hätten mich dann nicht vorher im Elend verkümmern lassen.«

Lockhaart sah den jungen Mann eine Weile fest und fast zornig an, aber alte Bilder aus früherer Zeit stiegen vor ihm auf: das Bild seiner armen, verlorenen Schwester, die sich trotz der Vorhaltungen ihrer Familie in die Arme jenes liederlichen adligen Verschwenders geworfen hatte und endlich vor Kummer und Herzeleid starb, als sie alles über sich hereinbrechen sah, was ihr die Ihren mahnend prophezeiten. Der Zorn schmolz vor dem Bild und er sagte ruhig: »Du sollst wenigstens nicht behaupten können, daß ich ungerecht, daß ich hart gegen dich gehandelt habe; ich bin mir das selber, ich bin es dem Andenken deiner Mutter schuldig. Setz dich – es ist niemand hier, der uns sieht, denn ich darf da draußen selbst dann nicht mit einem javanischen Soldaten an einem Tisch sitzen – wenn es der Sohn meiner Schwester ist. Du sollst wissen, du Unglücklicher, daß nichts versäumt worden ist, was in meinen Kräften stand, um dich einer vernünftigen, geregelten Laufbahn zuzuwenden. Du warst verloren von dem Augenblick an, wo du zu spielen anfingst. Ich weiß, was dir in Ems begegnete – der Bankier, der dir darauf seine Hilfe anbot, handelte in meinem Auftrag; ich wollte dich nicht verzweifeln lassen. Du schwurst damals einen heiligen Eid, nie wieder zu spielen – ich brauche dir nicht zu sagen, wie du ihn gehalten hast. Ein glücklicher Zufall ließ dich später jenes junge Mädchen kennenlernen, das vielleicht allein imstande gewesen wäre, dich in eine ehrliche, sichere Bahn zu ziehen; du hattest eine Zeitlang gute Vorsätze – wo es heimlich geschehen konnte, half ich dir, und alle Anleihen, die du gemacht hast, waren vorher durch mich gedeckt – es hätte dir niemand weiter einen Groschen mehr auf deinen Namen geborgt. Ich selber hatte dir damals eine gute, ehrenvolle Stellung ausgewählt und gesichert, nur die Probe mußtest du vorher noch bestehen, ob du wenigstens den Willen hättest, dir selbst zu helfen, ob du nur den Versuch machen wolltest, durch eigene Arbeit und Tätigkeit dir dein bis jetzt vollkommen nutzloses Leben zu fristen. Da lerntest du die Gräfin Orlaska kennen, und – ich will dir die Erzählung deiner Schmach erlassen. Da, Oswald, da erst zog ich meine Hand von dir – da erst, als ich sah, daß du keine Hilfe mehr verdientest, als ich einsah, daß du nicht allein leichtsinnig, nein, daß du überlegt schlecht an einem schuldlosen, braven Wesen handeltest – da beschloß ich, dich deinen Weg von jetzt an allein gehen zu lassen. War es möglich, so weckte dich vielleicht die Not noch einmal zu einem Grad von Energie, der dich aus deinem wüsten Träumen aufrütteln sollte – ich glaubte nicht, daß dir die Strafe so bald auf dem Fuß folgen würde. Von jetzt an hatte ich aber keine Hand mehr in deinem Schicksal; die Gräfin Orlaska erfuhr durch fremde Zunge deine Untreue an einem braven Mädchen, deine Absichten mehr auf ihr Geld als ihre Reize – und verbot dir von dem Augenblick an ihr Haus. Die Bankiers, bei denen ich meinen Kredit zurückzog, streckten dir keinen Gulden mehr vor, und selbst jetzt hoffte ich, daß du das verzweifelte Mittel des ehrlichen Mannes wählen würdest, um deine Ehre zu retten und dich selber zu erhalten sowie deine frühere Schuld wiedergutzumachen. Aus diesem Grund verweigerte ich dir jede Hilfe – umsonst! Um ganz verloren zu sein, ließest du dich nach Indien anwerben und magst jetzt ernten, was du ausgesät hast.

Rechne hier nicht auf mich – du weißt es vielleicht noch nicht, aber du wirst es erfahren, daß ein gemeiner Soldat von jedem Umgang mit den gesitteten Europäern streng und unerbittlich ausgeschlossen ist; du mußt deshalb in der Sphäre bleiben, die du dir selbst gewählt hast. Suche uns nicht wieder auf, du bist uns fremd geworden wie jeder andere, der in der blauen Jacke steckt und nichts Besseres mehr hatte als sein wertloses Leben, um es gegen den Sold einzusetzen. Nicht alle Hoffnung will ich dir aber abschneiden; vielleicht kannst du dich selbst jetzt noch bessern – gebe es Gott, und wie ich die Hand einem Ertrinkenden reichen würde, täte ich es auch noch einmal dem Sohn meiner Marianne – aber nicht in dem Rock, in dem du jetzt steckst. Deine Strafe für Begangenes mußt du erst erleiden.«

»Ich habe Ihre Hilfe hier noch nicht verlangt, Herr Lockhaart«, sagte Dorsek, von seinem Stuhl aufstehend – der alte Herr wußte alles über ihn, und Verstellung war deshalb unnötig. »Die Möglichkeit wird doch wenigstens auch dem javanischen Soldaten gegeben sein, sich auszuzeichnen, und die Zeit mag vielleicht kommen, wo Sie sich nicht mehr schämen werden, dem Sohn Ihrer Schwester die Hand zu reichen.«

»Gott gebe es, Junge! Gott gebe es!« rief der alte Mann, und trotz der Mühe, die er sich gab, es zu verbergen, zitterte seine Stimme vor innerer Bewegung. Still und ernst vor sich hinstarrend, seine Hand auf den Tisch gestützt, stand der alte Mann und atmete tief und schwer. Ihm gegenüber, halb zum Gehen gewandt und doch auch noch mit einer Frage und mit dem Wunsch auf dem Herzen, nicht so von dem Mann zu scheiden, dem er schon so viel verdankte, stand Dorsek da.

Ein leichter Finger hatte schon zweimal angeklopft aber niemand hörte es trotz der Totenstille im Zimmer. Jetzt öffnete sich plötzlich die Tür und Hedwig, die den Kopf hereinsteckte und den alten Herrn allein und anscheinend in tiefem Nachdenken sah, trat auf ihn zu und sagte freundlich: »Mynheer Lockhaart, der Tee ist serviert, und ich bin abgesandt worden, um Sie zu rufen.«

»Ja!« rief der alte Herr, erschrocken auffahrend, »der Tee – Hedwig – und...«

»Herr Lockhaart?« sagte das junge Mädchen erstaunt, fast erschreckt einen Schritt von ihm zurücktretend. So erregt hatte sie den sonst so festen, eisernen Mann noch gar nicht gesehen, als eine Bewegung ihr zur Seite ihr Auge rasch dorthin lenkte. Im Nu wandte sie den Kopf, und ihr Blick haftete an der Gestalt, die, scharf von den beiden Astrallampen beleuchtet, wie aus dem Boden gewachsen in geisterhafter Wirklichkeit vor ihr stand. Langsam hob sich ihr Arm empor gegen das, was sie im ersten Moment fast für eine Erscheinung hielt, und mit leiser, zitternder Stimme flüsterte sie: »Oswald!«

Dorsek, selber keiner Bewegung mächtig, wußte im ersten Augenblick nicht, ob er fliehen oder sich ihr zu Füßen werfen solle. Ihm war es fast, als ob die Zeit, die zwischen jetzt und seiner Liebe lag, nur ein wilder Traum seiner Phantasie gewesen sei, der jetzt bei seinem Erwachen schwinden und zerfließen müsse. Selbst Hedwig hatte in dem ersten Erscheinen des früher so geliebten Mannes alles vergessen, was in der Zeit geschehen war. So plötzlich tauchte er vor ihr auf, so wie mit einem Schlag trieb sein Bild alles andere in den Schatten zurück, was es doch sonst schon lange, ewig lange aus ihrer Seele verdrängt hatte. Wie eine »fremde Sonne«, der Widerschein des letzten Abendrots, sich durch die Wolken Bahn bricht und in dem Moment den Schauenden vergessen macht, wie lange schon das Taggestirn versunken ist, so log das Bild ihr in dem einen Augenblick das Glück, den Jubel, das helle Sonnenlicht der seligsten Gefühle, die sie je empfunden hatte, zurück. Aber wehe! Nur der Widerschein der gesunkenen Sonne war es, der einen Moment noch den Himmel ihres Lebens erhellte. Das Bewußtsein schloß im nächsten Augenblick die Wolken wieder, und alles war Nacht wie je.

Ehe aber noch einer der jungen Leute ein Wort sprechen, ein Zeichen des Erkennens geben konnte, hatte Lockhaart seine ganze frühere Fassung wiedergewonnen. Er trat auf Hedwig zu, und die Hand gegen den Neffen ausstreckend, sagte er mit den kältesten, schneidendsten Tönen seiner Stimme: »Herr Oswald von Dorsek – gemeiner Soldat in den Diensten der Maatchappey oder Hollands – es bleibt sich gleich.«

»Hedwig!« flüsterte Dorsek – er wußte kaum, was er tat. Aber Hedwig hatte ihre Fassung wiedergewonnen.

»Herr von Dorsek«, sagte sie ernst und kalt, »ich will hoffen, daß nur ein blinder Zufall diese Begegnung herbeigeführt hat.«

Dorsek biß seine Zähne aufeinander. »Sie haben recht, mein Fräulein«, erwiderte er mit einer halben Verbeugung, »es war der seltsamste Zufall von der Welt – entschuldigen Sie ihn. Adieu, Onkel – ich darf wohl kaum sagen: auf Wiedersehen!« Und sich noch einmal gegen beide verneigend, war er im nächsten Augenblick auf der Veranda und in der Dunkelheit verschwunden.

»Onkel?« hauchte Hedwig und sah erschrocken, bestürzt in das Antlitz des alten Herrn, aus dem in diesem Augenblick jeder Blutstropfen gewichen war; aber leise nur nickte er mit dem Kopf, und ernst und wehmütig vor sich niederschauend, sagte er: »Er hat nicht gelogen, mein Kind – darin wenigstens nicht, wenn auch manches, manches andere Mal. Er ist wirklich der Sohn meiner armen Schwester Marianne, die lange schon in der Erde schlummert, und Gott weiß es, ich habe getan, was in meinen Kräften stand, um den leichtsinnigen Menschen auf den rechten Weg zurückzuführen. Aber zwingen kann man niemanden, weder zum Guten noch zum Bösen – er hat es nicht anders haben wollen und mag jetzt auch büßen, was er an sich – was er an Ihnen verbrochen hat.«

»Mein lieber – werter Herr Lockhaart«, flüsterte Hedwig, und ein eigenartig wehes, schmerzliches Gefühl erfüllte ihre Brust; aber Lockhaart hatte auch schon die Schwäche, die ihn für einen Moment erfassen wollte, überwunden.

»Fort – fort mit den Gedanken!« rief er, sich mit der Hand fest und entschlossen über die Stirn streichend. »Jener Mann ist für uns alle tot, und nur die Erinnerung an ihn konnte uns für einen Augenblick betrüben. Nicht wahr, der Tee ist serviert, Fräulein Bernold? – Da dürfen wir die Herrschaften nicht warten lassen. Meine Schwester könnte auch sonst etwas merken«, setzte er mit einem bedeutsamen Blick hinzu, »und es würde mir recht von Herzen leid tun – also Ihren Arm, mein Fräulein!« Und ehe sich Hedwig nur selber halbsoviel gesammelt hatte, diesen raschen Wechsel zu fassen und mit auszuführen, zog er ihren Arm in den seinen und schritt mit ihr die Veranda entlang, dem Gesellschaftszimmer zu.

Wagner hatte indessen auf Herrn Lockhaarts Veranlassung die Pferde schon auf den nächsten Morgen mit Tagesdämmerung bestellt, und wenn auch van Straatens am Anfang darüber erstaunt waren, machten sie doch keine Einwendungen. Buitenzorg lief ihnen ohnehin nicht fort, und sie konnten es auf dem Rückweg ebensogut betrachten wie jetzt, wo sie sich überhaupt alle in die Berge sehnten. Hedwig fühlte sich an diesem Abend so beengt; sie hätte irgend etwas darum gegeben, wenn es schon Schlafenszeit gewesen wäre, denn sie wußte nicht, wie sie sich verstellen sollte. Lockhaart dagegen, der jedes drückende Gefühl mit seiner festen Willenskraft abgeschüttelt hatte, war nie gesprächiger und unbefangener gewesen. Er erzählte Geschichten und Anekdoten, beschrieb den Weg, den sie morgen zu machen hätten, und ließ zuletzt keine Ruhe, bis sich Wagner und van Straaten noch mit ihm zu einer Partie Whist en trois niedersetzten.

Die Zeit benutzte aber Hedwig, sich mit Kopfschmerzen zu entschuldigen – der lange Aufenthalt heute in der heißen Luft rechtfertigte das auch vollkommen, und sie zog sich früher zurück, um die Erlebnisse des heutigen Tages ungestört mit ihrer Kathrine zu besprechen – und wie hatte sich erst die Kathrine danach gesehnt.

Als auch die Whistspieler endlich ihre letzte Partie gespielt hatten und zu Bett gingen, begleitete Wagner den alten Lockhaart an seiner Tür vorbei, um in sein eigenes Zimmer zu gelangen. Als sie zusammen auf der Veranda entlanggingen, sagte Lockhaart: »Er war heute bei mir.«

»Ich weiß es«, lautete die leise Antwort.

»Wissen Sie auch, daß er mit Hedwig zusammengetroffen ist?«

»Ja.«

Schweigend schritten die Männer bis zu Lockhaarts Tür.

»Es ist nötig, daß wir morgen recht früh von hier aufbrechen«, sagte der alte Herr mit einem Händedruck zu seinem jüngeren Begleiter. »Gute Nacht, Wagenaar. Übrigens wüßte ich auch einen passenderen Namen für den Ort hier als Buitenzorg.«


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