Friedrich Gerstäcker
Unter dem Äquator
Friedrich Gerstäcker

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20. Wagners Besuch bei Hedwig

Während Nitschke mit einem Schatz von guten Vorsätzen im Herzen und außerdem gereinigt, gekleidet und genährt daheim saß und sich dem behaglichen Gefühl hingab, wieder einen Platz zu haben, den er daheim nennen konnte, befand sich Wagner auf dem Weg, einen der unangenehmsten Aufträge zu erfüllen, den er je hatte. Sollte er doch Hedwig Bernold auf das vorbereiten, was sie hier erwartete. Unter keinen Umständen würde er das allerdings übernommen haben, wäre es ihm nicht um das arme Mädchen selber gegangen, das ihm sein Freund, der alte Scharner, so warm empfohlen hatte. So schonend wie möglich mußte sie es erfahren, und was er selber dann für sie tun konnte, sollte selbstverständlich geschehen. Bitterböse war er aber auf den Freund, der mit so unerhörtem Leichtsinn Glück und Ruhe eines bedauernswerten Wesens seiner Laune preisgab und jetzt glaubte, mit einer Handvoll Geld das alles wieder ausgleichen zu können. Van Roeken war überhaupt der Meinung, daß mit Geld in der Welt alles zu regeln wäre, und durch was auch immer belastet die menschliche Lebenswaage sinke, Geld das vortreffliche Mittel sei, sie wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Dabei war er aber nicht verschwenderisch, und daß er in diesem Fall freiwillig anbot, eine weit größere Summe zu zahlen, als eigentlich vereinbart war, zeigte deutlich, wie sehr er selber daran zweifelte, richtig und ehrlich gehandelt zu haben. Und das alles sollte Wagner jetzt ausgleichen – ja, das nicht allein, sondern später auch noch die Verantwortung seinem alten Freund gegenüber übernehmen. Und war der nicht eigentlich selber schuld daran? Hätte Scharner, ehe er einen so entscheidenden Schritt tat, nicht wenigstens erst an ihn schreiben können? Aber natürlich mußte Scharner ja glauben, daß er von allem unterrichtet, mit allem einverstanden sei, und wie er es auch drehte und wendete, die Verantwortung blieb immer allein bei van Roeken, der, selber herzlos, mit dem Herzen und Lebensglück der armen Fremden auf das leichtsinnigste und unverantwortlichste gespielt hatte.

Mißmutig und auf die ganze Welt ärgerlich, auf den alten Scharner in Deutschland, auf das Mädchen sogar, das einen solchen Schritt getan hatte, auf den Freund, der ihn in ein so mißliches Geschäft verwickelte, auf sich selber, daß er es übernahm, fuhr er, in den leichten Wagen zurückgelehnt, die Straße entlang und kam eigentlich erst wieder zu sich, als das Fuhrwerk in den Vorgarten einbog und vor dem hohen, von Säulen getragenen Portico des Hauses hielt. Er befahl dem Kutscher zu warten, stieg aus und in den mit Marmorplatten ausgelegten Saal hinauf, wo er die malaiischen Diener eben beschäftigt fand, den Frühstückstisch abzuräumen und wieder zum späteren Diner zu ordnen. Gäste waren nicht dort, ein paar eben angekommene Schiffskapitäne ausgenommen, denen auf einem kleinen Seitentisch serviert wurde.

Da die Gästezimmer in den Hintergebäuden lagen, schritt er rasch durch den Saal hindurch und im wahren Sinne des Wortes über eine kleine Gruppe von malaiischen Jungen hinweg, die dort mit ihren ewig brennenden Kokosbastlunten kauerten und auf der Welt weiter keine Beschäftigung hatten, als auf das befehlende »Api!« irgendeines Europäers zu warten. Ertönte das, woher auch immer, so schnellten sie von dem Marmorboden empor und boten den Gebrauch ihrer Lunten an, um nachher wieder an ihren alten Warteplatz geduldig zurückzukehren. Wagner wollte rasch über den hinteren Porticus in den Hof hinabgehen, da sich dort um diese Tageszeit und noch dazu an einem Sonntag viele Gäste sammelten, als er seinen Namen rufen hörte. Sich umdrehend, erkannte er den alten Herrn van Romelaer im Gespräch mit einigen holländischen Offizieren.

»Heda, Wagner, wohin so eilig!« rief ihn der alte Herr freundlich an. »Wie wär's mit einem Gläschen echten Schiedam? Hoogesand hat einen famosen Stoff mit der Rebecca bekommen und ein Probefäßchen erst heute morgen an Land geschafft.«

»Ich trinke morgens nicht gern Spirituosen«, sagte Wagner, die Herren grüßend. »Der Gesellschaft wegen kann man aber wohl schon einmal eine Ausnahme machen.«

»Das ist recht«, lachte Romelaer gutmütig. »Wagner ist ein famoser Vent, verdirbt nie einen Spaß und macht alles mit – na, was führt Ihr hier heute morgen im Schilde?«

»Nichts, Mynheer«, sagte Wagner etwas verlegen, indem er das zu ihm hingeschobene Glas nahm und leerte, »nur einen Besuch wollte ich machen.«

»Die Herren kennen sich wohl? Herr Wagner, Firma Wagner und van Roeken, und Leutnant van Hoevelen und Hauptmann Bernstoff – kommen gerade von Bali und haben eine schmähliche Zeit dort mit durchgemacht. Apropos, Wagner, kommen Sie heut abend ein bißchen hinüber? Meine Marie will gern einmal wieder tanzen, und wir sind eine ganz nette Gesellschaft.«

»Ich bedauere sehr«, erwiderte Wagner, »aber für heute abend hin ich leider schon versprochen.«

»Aha, wahrscheinlich Ihr Besuch! Aber um Gottes willen keine Umstände; Sie wissen, daß Sie bei mir nicht im geringsten geniert sind. Vielleicht können Sie sich noch später losmachen, vor ein oder zwei Uhr gehen wir doch nicht auseinander. Die Herren hier haben seit acht Monaten keinen Ball mitgemacht und wollen sich einmal tüchtig austanzen. Hatten auch Gelegenheit, sich in Bali ordentlich auszuruhen. Hauptmann Bernstoff hat einmal da drüben vierundzwanzig Stunden in einem Strich bis an die Schultern im Schlamm gesteckt und eine Bande der rothäutigen Schufte mit ihren Blasrohren und vergifteten Pfeilen um sich her gehabt – das soll die Glieder außerordentlich geschmeidig machen – hahahaha!«

»Sie würden wahrhaftig nicht lachen, wenn Sie an seiner Stelle gewesen wären«, meinte der andere Offizier.

»Allen Respekt davor!« rief Romelaer rasch. »Apropos, Wagner, haben Sie lange nichts von Heffken gesehen?«

»Seit einiger Zeit nicht. Er soll wieder vollkommen genesen sein.«

»Gesund wie ein Fisch, ist auch schon seit acht Tagen wieder im Geschäft, hält sich aber merkwürdig zurück und kommt zu keinem Menschen. Ein wunderlicher Kauz; ich muß heute einmal zu ihm hinausschicken, denn wenn alles tanzt, bleiben uns sonst die Spieltische leer stehen, und das wäre für uns ›altes Volk‹ ein Unglück. Aber Sie wollen fort – keine Umstände, Freundchen – nicht erst noch ein Glas?«

»Ich danke bestens – ein andermal, wenn ich bei Ihnen vorbeikomme«, und die Gesellschaft freundlich grüßend, schritt Wagner in die rechts vom Hof gelegene Galerie hinein, um dort in der Wirtswohnung die Zimmernummer seiner Schutzbefohlenen zu erfragen. Es war ihm nicht recht, gerade Romelaer hier getroffen zu haben, denn wenn der alte Herr erfuhr, daß er hier eine junge Dame aufgesucht habe, konnte er sich auch fest darauf verlassen, einen vollen Monat damit geneckt zu werden. Es ließ sich aber jetzt nicht mehr ändern, und vielleicht konnte er es auch eben noch so einrichten, daß Romelaer gerade nicht bemerkte, wem der Besuch in diesem Hause galt. In der Wohnung des Wirts erfuhr er augenblicklich die Nummer des Zimmers, das die beiden fremden Damen bewohnten, zugleich aber auch, daß die Ältere von ihnen vor kaum einer Viertelstunde mit einem Bendi aus dem Hotel zu seiner eigenen Wohnung gefahren sei, um ihn aufzusuchen und einen Brief an ihn abzugeben. Die jüngere Dame hatte diesen nicht durch einen Malaien schicken wollen.

Wagner war unschlüssig, was er tun solle: die Dame trotzdem aufsuchen oder augenblicklich zurückfahren, um zuerst den an ihn gerichteten Brief in Empfang zu nehmen. Die Wirtin aber bewegte ihn bald, den ersteren Weg einzuschlagen, da sie ihm sagte, sie hätte von der Frau, die nur eine Dienerin der jungen, sehr hübschen Dame sei, schon gestern erfahren, daß sie einen Besuch erwarteten, und erst nachdem dieser bis heute morgen spät nicht gekommen sei, habe sie sich entschlossen, den Brief abzuschicken. Wagner hat deshalb, ihn in diesem Fall zu melden, und die Tochter des Hauses ging selber hinüber, um die Botschaft auszurichten.

Hedwig war allein in ihrem Zimmer. Sie hatte einen trüben und peinlichen Morgen verbracht und lange mit sich gekämpft, welchen Schritt sie tun solle: geduldig warten, bis sie aufgesucht würde, oder wenigstens den Freund ihres alten Scharner wissen zu lassen, daß sie da sei, und ihm den Brief zu senden, den ihr dieser noch für ihn mitgegeben hatte. Allerdings war ihr mitgeteilt worden, daß schon gestern jemand nach ihr gefragt hatte – war das van Roeken selbst gewesen? Aber warum kam er dann nicht heute morgen wieder? Sie erhoffte seinen Besuch und fürchtete doch auch wieder, ihm zu begegnen; und keinen, keinen einzigen Freund hatte sie hier, an den sie sich wenden konnte, kein Herz, das Anteil an ihrem Schicksal nahm. Nur von Wagner, van Roekens Freund, hatte ihr Scharner viel und gern erzählt und ihn stets als einen Ehrenmann geschildert – es war ihr fast, als ob dieser ihr nicht so ganz fremd wäre wie alles andere, und sie beschloß endlich, den Brief an ihn abzuschicken, um ihn vorher zu sprechen, ehe sie mit ihrem künftigen Gatten zusammentraf. Mit diesem Entschluß war es ihr fast, als ob sie die erste gefürchtete Begegnung mit van Roeken noch hinausschieben könne, und sie fühlte sich kräftig genug, später dem nun doch einmal Unvermeidlichen voller Fassung entgegenzutreten. Als sie den Rat des alten Scharner befolgte, hatte sie ja ihr eigenes Geschick aus der Hand gegeben – ob sie recht daran getan hatte, ob nicht – es war zu spät, das jetzt zu überdenken, und was nun auch kommen mochte, sie mußte es geduldig hinnehmen und ertragen.

Nur zurück durfte sie nicht denken. Es war ein so schöner Traum gewesen, den sie geträumt hatte, so zauberhaft schön und glücklich, und das Herz hätte ihr zerspringen mögen, wenn sie daran dachte, daß gerade die Hand, der sie vertraut hatte, so rauh, so herzlos ihren Traum zerschlug.

»Er hat dich nie geliebt!« Das war das einzige Trostwort, das sie sich wieder und wieder zurief, und doch, welch ein bitterer Trost in solchen Qualen! »Er hat dich nie geliebt!« Und wenn das so wäre, was blieb dann selbst von jenen seligen Stunden, in denen er sein Herz ihr ausgeschüttet und anvertraut hatte? War das alles Lüge, alles nur Betrug und Verstellung gewesen? O großer Gott, welchem Menschen auf der weiten Welt hätte sie dann noch trauen können; welches Herz konnte dann treu und ehrlich sein, wo Treue und Ehrlichkeit so klar und unverkennbar auf den Zügen des Geliebten eingegraben standen?

»Fort mit den Gedanken!« rief sie sich dann selber gewaltsam zu; »die Zeit liegt hinter mir – mit allem Leid und Jammer, mit allem, was mir die alte Heimat im letzten Jahr an Qualen gebracht hat; ich muß und will es vergessen! Bin ich doch jetzt in einem andern Land, in einer andern Welt, und mein alter Freund daheim hat mir versichert, daß hier ein rechtschaffenes Herz auf mich wartet. Mit Gott will ich ihm entgegengehen, und er wird mich hier die Ruhe, den Frieden finden lassen, den ich so sehr – so lebensnotwendig brauche!«

»Liebes Fräulein«, sagte in dem Augenblick die Wirtstochter, die den schwarzen Lockenkopf in das kleine Zimmer steckte, »ein Herr ist draußen, der Sie zu sprechen wünscht – darf er hereinkommen?«

»Ein Herr?« rief Hedwig rasch emporfahrend, und sie fühlte dabei, daß sie glühend rot wurde. Wer war das? Herr Wagner? Kathrine konnte kaum den halben Weg zu ihm zurückgelegt haben, denn man hatte ihr gesagt, daß es wenigstens eine Stunde dauern würde, bis ein Bote von dort zurückkommen könne. Also van Roeken selber? Das Herz klopfte ihr fast hörbar in der Brust, und sie hätte jetzt alles darum gegeben, wenn wenigstens Kathrine dagewesen wäre.

»Darf er kommen?« drängte das junge Mädchen, die lächelnd die Verwirrung in den Zügen der schönen Fremden bemerkte.

»Es wird mir sehr angenehm sein«, sagte Hedwig, die in diesem Augenblick kaum wußte, was sie sprach, und im Nu war die junge, fröhliche Wirtstochter wieder von der Tür verschwunden. Hedwig stand in der Mitte des Zimmers, wie sie das Mädchen verlassen hatte; eine eigene Angst überkam sie, ihre Glieder versagten ihr fast den Dienst, aber das dauerte nur einen Moment. Im nächsten Augenblick schon fühlte sie ihre Kraft zurückkehren, und wenn auch alles Blut ihre Wangen verlassen hatte, schaute sie doch dem jetzt Eintretenden fest und ruhig entgegen.


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