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LXXVII. 310. Und obwol wir, wie ich schon oft bemerkte, drei Mittel besitzen, durch welche wir unsere jedesmaligen Zuhörer für unsere Ansicht gewinnen, indem wir sie belehren oder uns geneigt machen oder rühren; so dürfen wir doch von diesen drei Mitteln nur eines durchblicken lassen. Es muß nämlich den Anschein haben, als ob es uns lediglich um die Belehrung zu thun sei; die beiden anderen müssen, wie das Blut im Körper, über den ganzen Vortrag vertheilt sein. Denn der Eingang und die übrigen Theile der Rede, von denen ich bald darauf Einiges sagen werde, müssen in hohem Grade von solcher Wirkung sein, daß sie in die Gemüther der Zuhörer eindringen und sie in Rührung versetzen. 311. Aber obschon diejenigen Theile der Rede, welche zwar Nichts durch Beweisführung lehren, aber doch durch Ueberredung und Rührung sehr Viel ausrichten, ihre geeigneteste Stelle am Eingange und am Schlusse der Rede einnehmen; so ist es doch oft nützlich von dem Vorwurfe und dem eigentlichen Gegenstande der Rede abzuschweifen, um die Gemüther aufzuregen. 312. Zu solchen Abschweifungen und zu Erregung der Leidenschaften bietet sich oft Gelegenheit dar, sei es nach der Erzählung und Auseinandersetzung der Sache oder nach der Bekräftigung unserer Beweisgründe oder nach der Widerlegung der Gegengründe oder auch an beiden Stellen; ja überall kann dieß auf vortheilhafte Weise geschehen, wenn die Sache die gehörige Wichtigkeit und die gehörige Fülle des Stoffes hat; und diejenigen Rechtssachen sind für die Behandlung des Gegenstandes und die Ausschmückung der Rede die gewichtigsten und reichhaltigsten, welche die meisten Wege zu solchen Abschweifungen eröffnen, so daß man sich der Mittel bedienen kann, durch die man in den Gemüthern der Zuhörer heftige Belegungen entweder erregt oder beschwichtigt. 313. Und in dieser Beziehung muß ich diejenigen tadeln, welche die schwächsten Beweisgründe gerade an die Spitze stellen, sowie auch meines Trachtens die irren, welche, wenn sie bisweilen, was ich nie gebilligt habe, mehrere Sachwalter zu Hülfe nehmen, immer denjenigen zuerst reden lassen, welchen sie für den schwächsten halten. Die Sache erheischt es nämlich, daß man der Erwartung der Zuhörer möglichst schnell entgegen komme; denn hat man diese nicht gleich Anfangs befriedigt, so hat man im Fortgange der Sache mit um so größeren Schwierigkeiten zu kämpfen. Schlecht steht es um die Sache, wenn sie nicht gleich nach dem Anfange der Rede einen besseren Anschein gewinnt. 314. Sowie nun unter den RednernIn den Handschriften steht ut in oratore, was schwerlich vertheidigt werden kann. Ich habe nach der Muthmaßung von Schütz ut in oratoribus übersetzt. immer der beste, so muß in der Rede immer der stärkste Beweis die erste Stelle einnehmen, nur muß man jedoch in beiderlei Rücksicht die Regel beobachten, daß man Hervorragendes auch für den Schluß aufspare, das Mittelmäßige aber (denn Fehlerhaftes soll nirgends eine Stelle finden) in das Gewühl und die Menge der Mitte werfe. 315. Wenn ich nun dieses Alles erwogen habe, so pflege ich ganz zuletzt an das zu denken, was zuerst gesagt werden muß, an den Eingang der Rede, den ich anwenden will. Denn wenn ich einmal diesen zuerst aussinnen wollte, so fiel mir nur Dürftiges, Werthloses, Gewöhnliches und Alltägliches ein.