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LXXII. Wenn ich nun eine Rechtssache übernommen und Alles so viel als möglich durchdacht und die Beweisgründe der Sache und die Mittel, durch welche die Gemüther der Richter gewonnen, sowie diejenigen, durch welche sie erschüttert werden, überschaut und erkannt habe: dann setze ich fest, was für gute und was für schlimme Seiten die Sache habe. Denn fast keine Sache kann Gegenstand der Erörterung oder des Streites werden, die nicht Beides in sich schlösse; es kommt nur darauf an, wie viel sie davon in sich schließe. 292. Mein Verfahren aber beim Reden pflegt darin zu bestehen, daß ich die guten Seiten, welche die Sache hat, umfasse, ausschmücke und erhebe, hier verweile, hier wohne, hier mich festsetze, von den schlimmen und fehlerhaften Seiten der Sache hingegen mich zurückziehe, nicht jedoch so, daß meine Flucht in die Augen fällt, sondern daß dadurch, daß ich das Gute verschönere und vergrößere, das Schlimmere gänzlich verdeckt und in Schatten gestellt wird. Und wenn die Rechtssache auf Beweisgründen beruht, so fasse ich immer die festesten am Meisten in's Auge, mögen es mehrere oder auch nur ein einziger sein; beruht sie aber auf Gewinnung oder Erschütterung der Gemüther, so wende ich mich nach der Seite vorzüglich, welche am Meisten geeignet ist die Gemüther der Menschen in Bewegung zu setzen. 293. Kurz, mein ganzes Verfahren hierin läuft darauf hinaus, daß ich, wenn meine Rede in der Widerlegung des Gegners festeren Fuß fassen kann als in der Erhärtung unserer Beweise, alle Geschosse gegen ihn richte; lassen sich aber meine Ansichten leichter erweisen als die des Gegners widerlegen, so versuche ich die Gemüther von der Vertheidigung des Gegners abzuleiten und auf meine eigene hinüberzuleiten. 294. Zwei Maßregeln endlich, die sehr leicht sind, halte ich mich berechtigt, weil ich Schwierigeren nicht gewachsen bin, für mich in Anspruch zu nehmen. Die eine von ihnen besteht darin, daß ich auf einen lästigen und schwierigen Beweisgrund oder Beweisstelle zuweilen gar nicht antworte. Dies mag vielleicht Mancher verlachen; denn wer sollte das nicht thun können? Doch ich rede jetzt von meiner und nicht von Anderer Fähigkeit, und ich gestehe, daß, wenn ein Umstand mich hart bedrängt, ich zwar zu weichen pflege, aber so, daß es den Schein hat, als ob ich, ohne den Schild wegzuwerfen, ja ohne ihn auf den Rücken zu werfen, die Flucht ergriffe; vielmehr nehme ich im Reden ein gewisses Ansehen und Gepränge an und mache meinen Rückzug einem Kampfe gleich und setze mich hinter meiner Verschanzung so fest, daß ich nicht um den Feind zu fliehen, sondern um eine bessere Stellung einzunehmen zurückgewichen zu sein scheine. 295. Die andere Maßregel, bei der jedoch nach meiner Ansicht der Redner die größte Behutsamkeit und Vorsicht anwenden muß, und die mich mit der höchsten Besorgniß zu erfüllen pflegt, ist folgende: Mein Bestreben ist gewöhnlich nicht sowol darauf gerichtet, daß ich meinen Rechtsklagen nütze, als vielmehr darauf, daß ich ihnen keinen Nachtheil zufüge. Dieß ist jedoch nicht so gemeint, als ob der Redner nicht auf beide Zwecke hinarbeiten müsse; aber es ist doch für den Redner weit schimpflicher, wenn er seiner Sache geschadet, als wenn er ihr nicht genützt zu haben scheint.