Cicero
Vom Redner
Cicero

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XV. 62. Doch ich kehre zur Sache zurück. Seht ihr nicht, wie schwierig die Aufgabe für den Redner ist Geschichte zu schreiben? Vielleicht in Betreff des Flusses der Rede und der Mannigfaltigkeit des Vortrages die schwierigste. Und dennoch finde ich nirgends die Geschichtsschreibung mit besonderen Vorschriften von den Lehrern der Beredsamkeit versehen; sie liegen ja vor Augen. Denn wer weiß nicht, daß es das erste Gesetz der Geschichte ist, sich zu scheuen etwas Unwahres zu sagen; das zweite, sich nicht zu scheuen etwas Wahres zu sagen, damit jeder Verdacht der Gunst oder Feindschaft vermieden werde? 63. Diese Grundlagen sind natürlich Allen bekannt. Die Aufführung des Gebäudes selbst aber beruht auf Sachen und Worten. Das Verhältnis der Sachen verlangt Anordnung der Zeiten und Beschreibung der Gegenden, und weil bei wichtigen und denkwürdigen Ereignissen die Erwartung zuerst auf die Absichten, dann auf die Thaten, endlich auf die Folgen gerichtet ist, so ist es auch erforderlich, daß einerseits in Betreff der Absichten angedeutet werde, was der Schriftsteller billige, andererseits in Betreff der Handlungen nicht bloß erklärt werde, was geschehen oder gesagt sei, sondern auch wie; endlich, wenn von den Folgen die Rede ist, müssen alle Ursachen entwickelt werden, mögen sie nun in Zufälligkeiten oder in Klugheit oder in Unbesonnenheit bestehen, und in Beziehung auf die Menschen genügt es nicht ihre Thaten zu erzählen, sondern wenn sie hervorragende Persönlichkeiten sind, so muß man auch ihr Leben und ihren Charakter schildern. 64. Was aber den Ausdruck und die Art des Vortrages betrifft, so muß man sich eine Schreibart anzueignen suchen, welche in ungezwungener Haltung und gemächlicher Breite sich bewegtgenus orationis fusum atque tractum. und in einem sanften und gleichmäßigen Flusse dahingleitet, ohne die Rauheit gerichtlicher Verhandlungen und ohne die Stacheln richterlicher Urtheile. Für diese so vielen und wichtigen Gegenstände, seht ihr, lassen sich in den Lehrbüchern der Redekünstler keine Vorschriften finden. Ein gleiches Stillschweigen herrscht über viele andere Obliegenheiten der Redner, die Ermahnungen, Tröstungen. Belehrungen, Warnungen: lauter Gegenstände, welche sehr beredt vorgetragen sein wollen, aber in unseren Lehrbüchern keine besondere Stelle finden. 65. Und zu dieser Gattung gehört auch der unendlich reiche Stoff der unbestimmten Fragen. Denn die Meisten haben dem Redner, wie auch Crassus gezeigt hatI, Kap. 31. II. Kap. 10., zwei Gattungen für den rednerischen Vortrag angewiesen, die eine über gewisse unbestimmte Sachen, wie diejenigen sind, welche bei Rechtshändeln und bei Beratungen vorkommen; wozu man auch, wenn man will, die Lobreden hinzufügen mag; die andere, welche fast alle Lehrer der Beredsamkeit anführen, aber keiner erklärt, nämlich die über die allgemeinen und unbestimmten Fragen ohne Beziehung auf gewisse Zeiten und Personen. Was das Wesen und der Umfang dieser Gattung sei, scheinen sie mir, wenn sie davon reden, nicht einzusehen. 66. Denn soll es zur Pflicht des Redners gehören über jede ihm vorgelegte unbestimmte Frage reden zu können, so wird er auch über die Größe der Sonne, über die Gestalt der Erde reden müssen; über Gegenstände der Mathematik und Musik zu reden wird er sich nicht weigern können, sobald er diese Bürde auf sich genommen hat. Kurz, wer es für seine Aufgabe erklärt nicht allein über solche streitige Gegenstände, die nach Zeiten und Personen bezeichnet sind, d. h. über alle gerichtlichen Verhandlungen, sondern auch über die allgemeinen und unbestimmten Fragen zu reden, für den kann keine Art des Vortragt eine Ausnahme machen.


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