Cicero
Vom Redner
Cicero

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Einleitung zu Cicero's drei Büchern vom Redner.

I. Von der Beredsamkeit bei den Römern.

1. Die Beredsamkeit ist diejenige Wissenschaft, welche in Rom frühzeitig mit großem Eifer betrieben wurde, in kurzer Zeit einen hohen Grad der Ausbildung erreichte und zuletzt in Cicero ihre Vollendung fand. Die Verfassung des Römischen Staates war von ihrem ersten Beginne an von der Art, daß sie dem Geiste der Römer nothwendig eine praktische Richtung geben mußte. Schon unter den Königen war das ganze Streben des Staates lediglich darauf gerichtet, die Gränzen des Reiches durch Kriege mit den Italischen Völkern zu erweitern und die Verfassung im Inneren durch gute Gesetze und Einrichtungen zu befestigen. Auch nach Gründung der republikanischen Verfassung verfolgte der Staat das nämliche Ziel; aber auch durch die freie Verfassung wurde den Römern eine neue glänzende Laufbahn eröffnet. Während sie sich unter den Königen durch kriegerische Tapferkeit und Feldherrnkunde, durch Gesetzgebung und Staatsweisheit auszeichnen konnten, so war es ihnen jetzt gestattet sich auch durch Beredsamkeit hervorzuthun und sich um die Wohlfahrt des Staates sowol als der einzelnen Bürger verdient zu machen, und das war gerade der Weg, auf dem man am Schnellsten zu glänzenden Staatsämtern emporsteigen und hohes Ansehen, Achtung und Einfluß bei seinen Mitbürgern gewinnen konnte. Das Römische Forum und die Curie bildeten gleichsam den Mittelpunkt des Römischen Staatslebens und den eigentlichen Sitz der Römischen Weltherrschaft. Hier wurden die Gesetze, Einrichtungen und alle wichtigen Angelegenheiten des Staates und der Bürger berathen und besprochen, hier die Schicksale ganzer Völker entschieden; hier war der Kampf und Tummelplatz, wo die Geisteskraft sich in ihrem vollen Glanze zeigen, wo der Ehrgeiz reichliche Befriedigung finden konnte, wo alle Fähigkeiten des Verstandes und Gemüthes angeregt, genährt und ausgebildet wurden.

2. So waren es also drei Wissenschaften, die aus dem Wesen der Römischen Staatsverfassung gleichsam hervorwuchsen: die Staatskunst, die Rechtskunde und die Beredsamkeit. Die Beredsamkeit kann nur in einer freien Staatsverfassung emporblühen und gedeihen, in welcher alle Staatsangelegenheiten, alle Gesetze und Beschlüsse, die Rechte und alle wichtigeren Interessen der Bürger öffentlich berathen und verhandelt werden, und dem Redner erlaubt ist in freier und unumwundener Rede sowol seine eigenen Ansichten auszusprechen als die Anderer zu widerlegen; in welcher vor Gericht Anklagen sowol als Vertheidigungen öffentlich geführt werden; in welcher endlich dem Rednertalente der Weg zu Ruhm, Ehre, Macht und Ansehen im Staate eröffnet ist. Dieß sehen wir deutlich in dem Römischen Staate. Denn so lange in ihm eine freie Verfassung herrschte, so lange blühte in ihm die Beredsamkeit; sobald aber der Freistaat aufhörte, verschwand auch die wahre Beredsamkeit, indem sie in leeres und gehaltloses Wortgepränge ausartete.

3. Ueber die Anfänge der Beredsamkeit bei den Römern läßt sich nicht urtheilen, da uns von den Rednern der älteren Zeiten durchaus keine schriftlichen Denkmäler hinterlassen sindEine Geschichte der Beredsamkeit bei den Römern findet sich in Cicero's Brutus oder de claris oratoribus vom XIV. Kapitel an. Von den Neueren vergl. Anton Westermann Geschichte der Beredsamkeit in Griechenland und Rom, zweiter Theil, der von der Beredsamkeit in Rom handelt, und Fr. Ellendt's Prolegomena historiam eloquentiae Romanae usque ad Caesares primis lineis adumbrantia in seiner Ausgabe des Brutus von Cicero.. Als der älteste Redner, von dem Reden hinterlassen waren, wird uns Appius Claudius Cäcus genannt, der im Jahre 308 v. Chr. (446 nach Erb. Roms) Consul war. Von Marcus Porcius Cato Censorius (196 v. Chr. Consul, 186 Censor) erwähnt Cicero im Brutus Kap. 17, daß er hundert und fünfzig Reden hinterlassen habe. Er rühmt sie als ausgezeichnet in Worten und Gedanken und bedauert, daß sie zu seiner Zeit nicht mehr gelesen würden. Nach diesem führt Cicero an der angeführten Stelle eine lange Reihe von hervorragenden Rednern an, Publius Cornelius Scipio Africanus, Gajus Lälius, Servius Sulpicius Galba, Marcus Aemilius Lepidus, Gajus Papirius Carbo, die beiden Gracchen und viele andere, von deren Reden jedoch theils gar Nichts, theils nur wenige Bruchstücke aufbewahrt sind. Die größten Redner in dem Zeitalter vor Cicero waren Marcus Antonius und Lucius Licinius Crassus, die Cicero in unseren Büchern vom Redner ihre Ansichten über die Beredsamkeit vortragen läßt, und von denen wir weiter unten ausführlicher sprechen werden.

4. Aber die höchste Vollendung erreichte die Beredsamkeit bei den Römern in dem folgenden Zeitalter, das man von dem größten Redner, der in demselben auftrat, mit Recht das Ciceronianische genannt hat. Die berühmtesten Redner dieser Zeit waren Gajus Cäsar, Marcus Cato, Servius Sulpicius Rufus, Marcus Calidius, Marcus Cälius Rufus, Gajus Licinius Calvus, Marcus Marcellus, Gajus Curio der Jüngere, Lucius Munatius Plancus, Marcus Junius Brutus, Marcus Valerius Messala und vor Allen Quintus Hortensius und Marcus Tullius Cicero, der die Römische Beredsamkeit bis zur höchsten Vollendung ausbildete, und von dem uns eine große Anzahl ausgezeichneter Reden, sowie vortreffliche Werke über die Redekunst erhalten worden sind, während wir die übrigen angeführten Redner theils nur aus wenigen aufbewahrten Bruchstücken ihrer Reden, theils aus den Nachrichten kennen, die uns über dieselben andere Schriftsteller, namentlich Cicero und Quintilianus, geben.


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